Geschrieben am 1. September 2022 von für Crimemag, CrimeMag September 2022

Zu Fritz W. Kramers „Unter Künstlern“

Die Art, sich zu geben

Fritz W. Kramers klammheimliche Erkundung von Kunsthochschüler:innen verzichtet am Ende auf Feldforschung und Hochschullaborstudien. Der Wechsel in andere Textgenres als das ethnografische ist auffällig, unumgänglich – und eine Kunst für sich. – Von Bruno Arich-Gerz.

Ort: Die Hochschule für bildende Künste (HfbK) in Hamburg, das ‚Lerchenfeld‘. Zeit: 1989 bis 2007. Handlung: Fritz W. Kramer, ein akademisches Allroundtalent, wechselt seine Wissenschaftsdisziplin und den Wirkungskreis. Er kehrt von ethnologischen Studien bei den Nuba im Sudan heim in die Metropole, wird Professor und unterrichtet Kunsthochschüler:innen. Er begreift, die meisten von ihnen sind ohne Aussicht, „je von ihrem Metier leben zu können“.

Kramer wird zum teilnehmenden Beobachter. „In der Tarnung ‚Theorieprofessor‘“, wie es eine seiner Studierenden, Nora Sdun, im Nachwort der vom Textem Verlag herausgegebenen Schrift mit dem Titel Unter Künstlern nennt, erkundet er ein Soziotop, das produktiv fremdelt mit den symbolkapitalistischen Werten und verwertungssystemischen Schablonen der europäischen Gegenwart. Die Studierenden sind an der Hochschule das, was er selbst im sudanesischen Feld war:

„Ihre Arbeit gleicht der des klassischen Ethnografen, insofern sie mit unbekannten Sinngebungen konfrontiert sind, ihr Blick sich enthierarchisiert und das ihnen Vertraute in das Unvertraute hineinspielt, es überlagert und verfremdet. Und sie unterscheidet sich von jeder wissenschaftlichen Forschung durch die künstlerischen Mittel und Ziele, die dem genuinen Wahrheitsbegriff der Kunst verpflichtet sind“.

Da keine:r von ihnen weiß, dass und wie sie beobachtet werden, praktiziert Kramer die Kunst des Sich-Gebens als Einfach-nur-Dozent. Unter dieser Tarnkappe spürt er einer Isomorphie nach: der Fremderfahrung seiner selbst mit den Nuba, und den zu Bildkunst gerinnenden Hamburg-Eindrücken seiner deutschlandfremden oder -fremdgewordenen Studierenden.

Gleichzeitig kommt Kramer an auf der Professur für Ästhetik, Bildtheorie und visuelle Anthropologie. Den Lesenden schiebt er (s)ein eigenes Rätsel unter, analog zum Enigma of Arrival, das V.S. Naipaul 1993 beschrieben hatte. Er findet sich als in die Welt hinaus und von dort zurückgekehrter Ethnographierender wieder und grübelt über Eindrücke, die anderen durchgehen würden. Vor allem die allerersten, die im Augenblick des tatsächlichen Ankommens geschehenen, die antrainierten Bilder im Kopf und Voreingenommenheiten erschüttern ihn. Sie sind wesensverwandt mit denen seiner Studierenden im Moment des immatrikulierten Ankommens – und ‚Arrivierens‘ – in Mitteleuropa.

Seinen Eindrücken als irgendwann in den später 1980er Jahren an die HfbK Gelangter kommt man – anders als denen der heimlich im Lerchenfeld Beobachteten – nicht einfach auf die Schliche. Sie sind gut versteckt unter der Oberfläche eines professoralen Gebarens, das kapriziös Begriffsstutzigkeit vorschützt und sich mit Autorität über die Outputs seiner Schüler:innen hermacht. Diese Eindrücke sind gut verdaut und reflektiert, und keine frischen Einträge im Rückkehrer-Feldtagebuch mehr. Unter Künstlern wechselt im Moment des von Kramer selbst beschriebenen Ankommens aus dem Sudan heimlich die Textsorte. Aus der dichten Beschreibung wird eine Auslegungssache. Der Professor klettert von beobachterblindfleckiger Hochschulfeldstudie weiter zur Hermeneutik und damit eigenen Auslegung, was nahe- und was fernliegt. Er bewertet.

Bestechend, weil begründet fallen Kramers Urteile aus. Auf einmal merkt man und kann nachvollziehen, wie sich die Künstler:innen ausdrücken und dabei verwehren: ausdrücken mit dem aus Korea, Japan, China, Sachsen-Anhalt mitgebrachten Gepäck im Soziotop Lerchenfeld. Und verwehren gegen die Strömung des in der europäischen Schule Angesagten. Gegenständliches war im Erhebungszeitraum 1987ff ein großes Minus. Spurensicherung und individuelle Mythologie(n) der Schaffenden – finden wir das hier?

‚Hier‘, das sind natürlich Namen und, dahinterstehend, Tiefen der Auseinandersetzung mit dem, was vielleicht zu „96%“ unlukrative, trotzdem beachtliche Bildkunst wurde.

Noch einmal wechselt Kramer die Gattung, hält nun Laudationes. Seine Belobigungen von Kailiang Yang, Kyung-hwa Choi-ahoi (‚ahoi‘ als appropriation des küstennahen Hamburg), Miwa Ogasawara, Klaus Hartmann oder Goffredo Winkler sind auch eine Geste unter Künstler:innen, Professor oder drunter. Sie sind in Unter Künstlern eine Verneigung.

Das Laudatieren und Applaudieren am Ende einer eigentlich anders angelegten, nämlich als Ethnographie an einer Kunsthochschule ausgeflaggten Schrift bringt Fritz W. Kramer zurück (oder hin) zu sich. Es ist Kunst – auch eine Kunst –,  wie er es verfasst als einer, der sich nicht mehr geben muss als jemand, der aus dem Anderen kommt.

Bruno Arich-Gerz

Fritz W. Kramer: Unter Künstlern. Erkundungen im Lerchenfeld. Textem Verlag, Hamburg 2020. 

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