
Aufklärungsarbeit, vielgestaltig
Die ganz in blau gehüllte Paperback-Ausgabe mit den in ein auffälliges Rot-Schwarz eingetauchten schemenhaften Gesichtszügen von Wladimir Putin auf dem Deckblatt bildet die äußeren Konturen einer Publikation, deren Titel unmittelbar in die Augen sticht. Es ist ein Putin-Versteher, ein idealtypisches Konstrukt, ein blauäugiger Zeitgenosse, Metapher für die nicht nur männlich geprägten Zeitgenossen, sondern auch für die LGBT-Individuen der Weltgemeinschaft , die seit Jahrzehnten mit einem Gemisch aus Lügen und Legenden aus den Kreml-Agenturen überhäuft werden.
Mit dem Ergebnis, dass sich in west- und ostmitteleuropäischen Ländern ein diffuses, schwer einzugrenzendes Meinungsspektrum im Hinblick auf die Verursacher des militärischen Überfalls auf die Ukrainische Republik herausgebildet hat. Die vor allen von rechtsradikalen, rechtsextremistischen wie auch von tradierten linksorientierten Zeitgenossen*innen getragene diffuse Einstellung gegenüber dem Phänomen P. bedarf einer sorgfältigen Untersuchung. Sie erweist sich in der Form eines diskursiv gestalteten Lexikons in mehrerer Hinsicht als zweckdienlich. Bereits der einführende Klappentext nennt den Adressaten der Publikation:“… es handelt sich um Personen, die ‚Wladimir Putins Sorgen, Erwartungen oder Handeln‘ nachvollziehen können und verteidigen.“
Nicht nur mit deren Argumenten will sich das Lexikon auseinandersetzen, sondern auch das breite zeitliche Spektrum der Kriege beleuchten, dass das russische Imperium seit Beginn der 1990er Jahre gegen autonome Republiken innerhalb der alten Sowjetgemeinschaft geführt hat. Darüber hinaus will es auch die Verteidigung der staatlichen Autonomie der nach 1991 entstandenen unabhängigen Republiken in ihren widersprüchlichen Abläufen beleuchten. Ein Lexikon also, das sowohl die wesentlichen innerrussischen Entwicklungsstränge als auch das europäische Umfeld mit dem Fokus auf die deutsche Politik und Wirtschaft während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit zwischen 1945 bis 2022 in den Blick nimmt.
Dieses umfassende Stichwort-Repertoire bereitet Thomas Urban nach der Nennung der 55 Items in einem umfangreichen Fragekatalog vor. In ihm beschreibt er den Aufstieg Putins vom KGB-Offizier in der damaligen DDR zum Präsidenten des russischen Imperiums. Er stellt Fragen zur Herkunft seiner imperialen und nationalistischen Ideen, setzt sich mit dessen apodiktischen Behauptungen auseinander und lotet die Ursprünge der „blauäugigen“ Ostpolitik aus, die sowohl von führenden SPD-Politikern als auch von der CDU vor allem in der Person der Kanzlerin Angela Merkel getragen wurde. Es ist ein Fragekatalog, der sich von zwei zwingenden Vermutungen leiten lässt: Stimmt es vielleicht, dass der Kreml nur die Sprache der Stärke „versteht“, und „Ist der Krieg in der Ukraine auch unser Krieg?“
Auf diese Weise in die Thematik eingestimmt, sollte sich der „Putin-Versteher“ an die Lektüre der 55 Lexikon-Einträge machen, nicht alle natürlich, denn da und dort wird er sicherlich ein Stichwort auslassen, um nicht gänzlich „aufgeklärt“ zu werden. Beginnen sollte er, wie vorgegeben mit Abchasien, der ehemaligen autonomen Sowjetrepublik, die nach der kriegerischen Auseinandersetzung mit dem benachbarten Georgien, durch den militärischen Eingriff Russlands wieder in russisches Territorium einverleibt wurde. Die folgenden Items: Alexander III. und Andropow führen in die zaristische und sowjetische Geschichte ein, mit vielen spannenden Details. Auch die Aufklärung über die Auswirkung des Antisemitismus und Antijudaismus in deutschfaschistischer und stalinistischer Provinienz leistet das Lexikon auf doppelt-transparente Weise: als rassistisches Vernichtungsprogramm gegen Bürger*innen jüdischer Abstammung im Deutschen Reich wie auch auf den im II. Weltkrieg eroberten osteuropäischen Territorien; der zweite in der stalinistischen Sowjetunion nach 1945.
Nach einer kurzen Phase des per Proklamation verkündeten Schutzes jüdischer Menschen setzte in den späten 1940er Jahren die Unterdrückung und Liquidierung jüdischer Intellektueller einsetzte. Auch unter dem Stichwort Auschwitz finden wir eine differenzierte Bewertung der millionenhaften Ermordung jüdischer Menschen. In diesem Kontext verweist Urban auf Putins Rede auf dem World Holocaust Forum zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Januar 2020, wo er Ukrainer, Litauer, Letten und Polen pauschal als Mittäter an dem Holocaust verurteilte, ohne das Leid zehntausender Angehöriger dieser Nationen, verursacht durch die Kriegsfolgen, zu benennen. Schlimmer noch: er bezeichnete alle Ukrainer generell als Faschisten, eine demagogische Behauptung, die sich somit auch auf die von den deutschen Faschisten liquidierten jüdischen Angehörigen der Familie von Präsident Selenski bezieht.
„Putin-Versteher“ können in diesem Kontext auch weitere Einsichten gewinnen, wie zum Beispiel die Begründung des russischen Präsidenten, warum seine Armee seit 2014 vier ostukrainische Provinzen und die Krim völkerrechtswidrig besetzt hält. Sie ist Bestandteil der Behauptung, dass die in der Ostukraine lebenden russischsprachigen Bürger*innen im Ergebnis von gefälschten Wahlen ihre Zugehörigkeit zur Russischen Föderation erklärten.
Historische Aufklärung leisten auch andere Stichworte, wie zum Beispiel Holodomor, jene vom stalinistischen Regime vorbereitete und durchgeführte Kampagne zwischen 1932 bis 1934 zum Zweck der Enteignung der bäuerlichen Wirtschaften im ukrainischen Kernland. Die daraus folgende Hungersnot führte zum Tod von Millionen Kulaken wie auch zur Deportation zehntausender Einzelbauern nach Sibirien. Andere Stichworte setzen sich mit der ukrainischen Gegenwartsgeschichte auseinander: Krim, Maidan, Mariupol – sie alle sind Inbegriffe für Orte, an denen der Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine einen hohen Blutzoll gekostet hat. Auch die ukrainischen Präsidenten Janukowitsch und Juschtschenko und deren zwiespältige Rollen im Vorfeld und während der Orangen Revolution sind Gegenstand weiterer Items, in denen die turbulente Geschichte um die Herstellung legitimer demokratischer Verhältnisse in der Hauptstadt Kiew beschrieben wird.
Ebenso wichtig sind die Stichworte Imperium und Eurasische Union. Sie geben einen historischen Überblick über die politische und militärische Funktion, die das zaristische Russland, die kommunistische Sowjetunion und das imperiale nationalistische Regime unter Putin gegenüber ethnischen Minderheiten bis in die jüngste Gegenwart ausgeübt haben. Von besonderem Interesse sind dabei die imperialen Konzeptionen des seit 2000 publizierenden Philosophen Alexander Dugin wie auch die Veröffentlichungen von Wladimir Putin zur Rolle Russlands im Verhältnis zur EU und der NATO.
Besonderes Augenmerk verdient auch der fünfseitige Lexikon-Beitrag zum Stichwort Gorbatschow. Er setzt sich mit der Rolle des gescheiterten Reformers des Vielvölkerstaats Sowjetunion wie auch mit dem vor allem in der westlichen Welt gelobten Staatsmann auseinander, dem wir die Vereinigung Deutschlands verdanken. Von diesem reformerischen Geist ließen sich führende deutsche Politiker leiten, als es darum ging, wie die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Russland nach dem Amtsantritt des Präsident Putin zu regeln sind. Die Stichworte dazu lesen sich wie ein good-will staatsmännischer Verblendung, die nicht nur an den Personen von Schmidt, Schröder, Steinmeier, sondern auch an der Schaukelpolitik der Kanzlerin Angela Merkel gegenüber dem Kreml festzumachen war. In diese Politik der Gutgläubigkeit waren auch, so Urban, zahlreiche führende SPD-Funktionsträger eingebunden.
Es gehört zu den aufklärerischen Verdiensten dieses Lexikons, dass es auch die Ursprünge des imperialen Denken und Handelns des zaristischen Russlands, der kommunistischen Diktatur unter Stalin wie auch der gegenwärtigen nationalistisch-autokratischen Diktatur gegenüber der ukrainischen Republik aufzeichnet. In diesem Argumentationsspektrum wird sowohl die Abspaltungspolitik der russischen orthodoxen Kirche gegenüber der unierten ukrainischen Kirche ebenso ausführlich behandelt wie auch bestimmte Aussagen berühmter russischer Dichter und Schriftsteller (Puschkin, Dostojewski, Gogol), in denen sie ihre hegemoniale Einstellung gegenüber der ukrainischen Kultur zum Ausdruck bringen.
Solche Aussagen wären sicherlich noch aussagekräftiger, wenn sie entsprechende Verweise aufweisen würden. Das „Lexikon für Putin-Versteher“ würde auf diese Weise noch mehr an Überzeugungskraft gewinnen, weil es eine authentische Grundlage für eine eingehende Diskussion mit jene Putin-Verstehern liefern könnte, die zum Beispiel die Hintergründe der sogenannten „militärischen Sonderoperation“ des russischen Präsidenten gegen das ukrainische Volk überprüfen wollen und sich auch für einen Friedensvertrag zwischen beiden Staaten engagieren.
Ungeachtet solcher Hinweise auf mögliche Leerstellen in diesem Lexikon ist auch dessen spezielle Aufgabe hervorzuheben. In der Nachbemerkung des Autors ist diese Intention an drei Fakten belegt: dem jähen Wandel der vornehmlich von der SPD betriebenen Ost-Politik des nahezu blinden Vertrauens gegenüber Russland argumentativ beleuchten; der Kehrtwende der grünen Fraktion innerhalb der derzeitigen Ampel-Koalition von einer Protestpartei gegenüber den eklatanten Menschenrechtsverletzungen des Putin-Regimes hin zu einer Politik der vorbehaltlosen militärischen Unterstützung der Ukraine wie auch die Abkehr von einer Kompromiss-Politik hin zum ernüchternden Prinzip Si vis pacem, para bellum.
Aufgrund dieser realpolitischen Bedingungen erweist sich das Lexikon als prägnant formulierter Zwischenbericht über einen Krieg, der in Europa bereits mehr als neun Jahre dauert und, falls keine diplomatische Lösung des mörderischen Konflikts in Sicht kommt, bis zur gegenseitigen totalen Erschöpfung führen wird. Ob die „Putin-Versteher“ dann eine Einsicht in das raffinierte Lügennetz gewinnen werden, an dem der Kremlberg-Diktator seit mehr als zwanzig Jahren strickt?
Wolfgang Schlott
Thomas Urban: Lexikon für Putin-Versteher. Lügen Legenden LGBT. edition.fotoTAPETA, Berlin 2023. Klappenbroschur, 224 Seiten, 15 Euro.