Keinerlei Unschuld mehr
Ava fährt zur Arbeit, nimmt die Metro, redet nicht viel, weil ihr das Sprechen nicht leichtfällt. Ihre Unsicherheit fühlt sich an, als würde sie auf Eiern gehen. Seit dem Massaker im Bataclan quält sie die Angst und trotzdem gefällt ihr die Vorstellung nicht, als mögliches Opfer gegängelt zu werden. Überall begegnen ihr Bewaffnete, die zu ihrem Schutz abkommandiert sind. Dabei glaubt sie, dass sie alle über die Toten hinweggehen müssen, damit die Toten nicht über sie hinweggehen. Statistisch gesehen stirbt sie eher bei einem Verkehrsunfall, als dass sie Opfer eines Massakers wird. Doch sie sieht sie überall: die Durchgeknallten, die meinen, die Welt retten zu müssen, ein Fanal setzen wollen und wahllos um sich schießen.
Frederika Amalia Finkelstein verweigert sich in ihrem Roman „Überleben“ der Political Correctness. Denn: „Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: Es ist das Gute.“
Ava verschreibt sich diesem Satz. Sie ist jung, fühlt sich um ihr Leben betrogen, mit der Angst alleine gelassen. In ihrer selbst auferlegten Abgeschiedenheit erinnert sie die Metro an einen Zug, der zu den Gaskammern führt. Sie hat Gott in einer Ecke ihres Kopfes versteckt, während alles zum medialen Großeinsatz, zum implodierenden Burn Out verkommt. Das Attentat an sich wird zum Entertainment des 21. Jahrhunderts.
„Mein Handy hat nur noch fünf Prozent: Die absolute Einsamkeit naht.“
„Überleben“ ist die Geschichte einer Täuschung, einer manischen Spiegelung.
Ausgerechnet Ava, die nicht Opfer sein will, ist Teil der globalen technischen neuen Welt, arbeitet als Hauptverantwortliche im Lager eines Apple-Stores, in einem hermetisch abgeschlossenen Untergeschoss, zu dem der Code zweimal die Woche geändert wird und scannt Geräteseriennummern ein. Ausgerechnet Ava, die von sich behauptet, wäre sie mit sechzehn auf eine Hassrede gestoßen anstatt auf einen Lyrikband, wäre es möglich gewesen: Sie wäre zur Terroristen geworden.
Sie empfindet sich als Opfer zugleich Schaulustige, als ohnmächtige Begleiterin der Toten. In der Metro schaut sie sich Hinrichtungsvideos auf dem Handy an. Sie ist in zu vielen Nachrichten, in zu vielen Bildern untergegangen. Gibt man der Verzweiflung eine Chance, kann man sich vierundzwanzig Stunden am Tag neuen Schreckensbildern stellen, die Namen von Märtyrer notieren. Ava sammelt Daten, Fotos, recherchiert die Hintergründe. Eine lange Liste von Verwundeten und Tätern begleiten sie durch ihre Tage und Nächte.
Die Provokation der Autorin besteht darin, uns der Scheinheiligkeit anzuklagen. Ihre Ava ist aus der kollektiven Bestürzung ausgestiegen und bekämpft ihre Angst als Sucht, als therapeutisches Fatum. Fünfundzwanzigjährig streift ihre Heldin durch Paris wie über einen Friedhof. Wer ist schuld? Ihr doch egal. Wer sorgt für Gerechtigkeit? Ihr doch egal. Werden wir alle sterben müssen? Na und? Was bleibt ist die Angst.
„Ein Krieg braut sich zusammen, in den Stadtzentren, in den Vororten, in den Dörfern, in den Zügen, in den U-Bahnen, in den Flugzeugen, unter der Erde, auf der Erde, in den Universitäten, in den Bekleidungsläden, in den Restaurants, wann auch immer. Niemand ist mehr sicher. Die Gewalt hat die Welt mit Metastassen durchzogen, wie der Krebs, der heimlich einen Körper verfallen lässt. Wir haben es geschehen lassen. Wir haben es nicht verstanden.“
Gefangen im medialen Overkill musst du nur in die Köpfe der Menschen gelangen, dann besitzt du Macht. Als Entspannung bleibt nur ein Videospiel: GTA. Selbst ballern, was das Zeug hält, sodass das Blut der Opfer, wie vom Programmierer vorgesehen, in alle Richtungen spritzt und sich anschließend im Mondlicht spiegelt. Das Gute daran ist, man stirbt nicht wirklich, es lassen sich immer wieder Credits als Leben hochladen.
Eine alte Schauspielerlehrerin hat einmal zu ihren Schülern gesagt. „Für uns war es nach dem Krieg kein Problem, Emotionen auf der Bühne zu zeigen. Die Tränen schossen uns nur so in die Augen, wenn wir an den Krieg dachten. Ihr müsst das alles künstlich herstellen.“
Schließlich leben wir längst im Krieg, sagt die Autorin uns. Wir wollen ihn nur nicht wahrhaben, solange ein Schnäppchen am Black Friday uns beim Verstummen hilft.
Frederika Amalia Finkelstein erzählt vom Weiterleben in einer Welt, in der die Suche nach Schutz sinnlos erscheint, weil alle Verstecke aufgeben wurden, die einmal so etwas wie Privatsphäre versprachen. Hauptsache der Apple-Store schreibt Rekordzahlen, auch wenn er Ava gehen lässt, weil sie nicht genug Glauben an das Produkt besitzt und Apple annimmt, dass sie keine von ihnen ist.
Ein mutiger Roman, der nicht davor zurückschreckt, angreifbar zu sein. Die Abrechnung einer jungen Generation, der wir leichthin unterstellen, dass für sie das Leben nur mittels eines Displays darstellbar ist.
Wolfgang Franßen
Frederika Amalia Finkelstein: Überleben (Survivre, 2018). Roman. Aus dem Französischen von Sabine Erbrich. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2018. 146 Seiten, 14 Euro. Verlagsinformationen.
Wolfgang Franßen bei CrimeMag.