Geschrieben am 1. Juni 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2023

Wiederentdeckung: C.F. Ramuz „Sturz in die Sonne“

Keimzelle dessen, was heute „Climate Fiction“ heißt

Eine Besprechung von Thomas Wörtche

Charles Ferdinand Ramuz (1878 – 1947) gehört zu den ganz großen Autoren der Schweiz, einst gar für den Nobelpreis gehandelt – heute allerdings ein wenig in Vergessenheit geraten. Für den Zürcher Limmat Verlag, der sich seit geraumer Zeit um sein Werk kümmert, ist die Neuausgabe von „Sturz in die Sonne“ aus dem Jahr 1922 (hier in der vom Autor überarbeiten Fassung von 1947) ein Glücksfall, makabrerweise.

Denn „Sturz in die Sonne“ ist ein hochaktuelles Buch. Es erzählt von einer Klimakatastrophe globalen Ausmaßes. Durch einen nicht näher beschriebenen „Unfall im Gravitationssystem“ rast die Erde auf die Sonne zu. Eine wahnwitzige Hitzewelle erfasst den Globus. Inspiriert von dem realen „Hitzesommer“ 1921, als in Genf die Temperaturen auf 38,3 Grad stiegen – inzwischen getoppt von 38,5 Grad im Sommer 2022 – , erzählt Ramuz von den Reaktionen der Menschen, die noch nicht wissen, dass sie dem Tode geweiht sind – und später, wenn sie es wissen, wie sie mit ihrem Schicksal umgehen.

Mit unerbittlicher Konsequenz beschreibt Ramuz die einzelnen Stadien der Katastrophe: Die anfängliche Indolenz und die Ignoranz den Veränderungen gegenüber, das Verschwinden der Wasserreserven, bis hin zum totalen Austrocknen der Seen und Flüsse, Stürme und Erdrutsche, den allmählichen Verfall der gesellschaftlichen Ordnung, Blutdurst, Raub, Plünderungen, Mord und Vergewaltigungen, den hilflosen, aber brutalen Versuch des Staates, mit Hilfe des Militärs irgendetwas zu stabilisieren, bis es keinen Staat mehr gibt. Migrationsbewegungen beginnen, man versucht, auf die kühleren Berge zu flüchten. Manche Menschen drehen durch, werden zu Bestien und lassen ihren niedrigsten Instinkten freie Lauf, andere versuchen vergeblich Solidargemeinschaften zu gründen, die von der brutalen Gewalt der Anderen weggefegt werden. 

Und wenn es ans Sterben geht, wie es der Originaltitel „Présence de la mort“, die Gegenwart des Todes, nahelegt, erzählt Ramuz von den verschiedenen Optionen, mit dem Tod umzugehen – von trotzig bis resigniert fatalistisch, kämpfend und sich ergebend. Es ist ein gewaltiges Panorama der finalen Conditio Humana, die Ramuz da aufzieht, auf schmalen 188 Seiten und hauptsächlich auf seine Heimat, die Westschweiz, fokussiert. Ein nur hin und wieder präsenter Ich-Erzähler scheint den Fortgang der Handlung zu steuern, die aber im Wesentlichen aus einzelnen, filmisch geschnitten Episoden besteht, Figuren tauchen auf und verschwinden wieder, nur die Zeit gibt den Ablauf der Erzählung vor. 

 „Sturz in die Sonne“ ist auch als Stück Literatur interessant und spannend, nicht nur wegen des Themas. Man kann das Buch mit Fug und Recht als Keimzelle dessen bezeichnen, was heute „Climate Fiction“ heißt. Das ist für das Jahr 1922 schon erstaunlich genug und eine grandiose prophetische Leistung, gerade wenn man an den Zukunftsoptimismus anderer futuristischer Romane wie etwa Jewgeni Sanjatins „Wir“ von 1920 denkt. Aber durch die radikale Demontage der Form „Roman“ geht Ramuz einen entscheidenden Schritt weiter: Er kann die Menschheitskatastrophe nicht in den Erzählkonventionen eines herkömmlichen Romans inszenieren.  Es hat lange gedauert, bis zu James Graham Ballards „Klima-Quartett“ (1961 – 1966), bevor dieser Zusammenhang zwischen Thema und Form erneut ähnlich radikal reflektiert wurde. 

Deswegen ist Ramuz´ Roman doppelt bemerkenswert. Ein Stück Literaturgeschichte, das plötzlich quicklebendig wird. Auch weil aus einer Vision beklemmende Realität geworden ist, die man viel eher hätte kommen sehen müssen. 

C.F. Ramuz: Sturz in die Sonne (Présence de la mort, 1922/1947). Deutsch von Steven Wyss. Limmat Verlag, Zürich 2023. 188 Seiten, 26 Euro.

© 05.2023 Thomas Wörtche

Tags : ,