
Einige Gedanken zum aktuellen Weltempfänger von Jury-Mitglied Sonja Hartl
Manchmal schlägt man ein schmales Buch auf und wird schlicht hinweggefegt. So erging es mir mit Aurora Venturinis „Die Cousinen“: eine gänzlich origineller Erzählstimme mit eigener Syntax und anfangs nur wenigen Satzzeichen, eine konsequente Umsetzung einer Idee, ein Buch, das sich nicht um Lesekonventionen oder Publikumsgeschmack schert, abgerundet von einem Nachwort von Mariana Enriquez, das mir dann erklärt, dass eine 85-jährige Autorin ist, die mit diesem Buch über die 17-jährige Yuna einen Preis gewonnen hat und bekannt geworden ist.

Yuna kann ihre Gefühle und Gedanken nicht immer verstehen und ordnen – und genau so erzählt sie auch von ihrem Leben in La Plata in den 1940er Jahren mit einer verhärmten Mutter und einer pflegebedürftigen Schwester. Mit ihr lernt man die Nachbar*innen und den Rest der Familie kennen, verfolgt ihren Weg zur gefeierten Künstlerin und vor allem in ein unabhängiges Leben. „Die Cousinen“ ist ein großartiges, schräges, durch und durch originelles Buch, toll übersetzt aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwerig.
Manchmal schlägt man hingegen ein Buch auf, an das man bereits gewisse Erwartungen hat, weil es zum Bespiel mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und vielfach positiv besprochen wird. Tatsächlich kann ich mich den Lobeshymnen anschließen, ja, Mohamed Mbougar Sarrs „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist ein ungemein scharfsinniger Roman, in der ein junger Schriftsteller nach einem legendären Roman und seinem Verfasser sucht – und immer stärker in den Bann dieses Werks gerät. Daraus entwickelt Sarr ein ungemein vielschichtiges Nachdenken über die (frankophone) Literaturszene.
Und manchmal entdeckt man in einem Erzählungsband einige der schönsten Liebesgeschichten der vergangenen Jahre. „Anderswo, daheim“ ist das erste Buch von Leila Aboulela, das ich gelesen habe – aber es wird sicherlich nicht das letzte Buch gewesen sein. Aboulela wurde in Kairo geboren, ist in Karthum im Sudan aufgewachsen und als Mitte 20-Jährige nach Schottland gezogen. Zwischen diesen geographischen Punkten spielen ihre Kurzgeschichten, sie sind durchzogen von Migrationsbewegungen, vom Wandeln zwischen Ländern und Kulturen. Dabei erzählt sie von schwierigen Romanzen zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen und einem besonderen Gefühl der Fremdheit gegenüber der Heimat, die man verlassen hat, und dem Ort, an dem man sich ein neues Leben aufgebaut hat. Und alle Geschichten sind durchzogen von einer Sehnsucht nach einer Heimat, die es nicht mehr gibt. Ein nuancierter, vielschichtiger und bisweilen betörender Erzählungsband.
Das sind nur drei der sieben Bücher, die in diesem Frühjahr auf der Weltempfänger-Bestenliste stehen – und es gibt dort noch allerhand mehr aus Korea, Japan, Singapur und Venezuela zu entdecken.
