Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023, News

Ulrich Noller über „Zeit der Schuld“

Deepti Kapoor: Zeit der Schuld

In den USA wurde “Zeit der Schuld“ nach Erscheinen mit Mario Puzos Mafia-Klassiker “Der Pate“ vergleichen. Damit hängt die Latte ziemlich hoch. Deepti Kapoor nimmt sie – elegant und dynamisch. Der Vergleich mit dem Paten hinkt und trifft trotzdem in Schwarze.

Fünf Menschen sterben, alle obdachlos, eine schwangere Frau dabei, als der Fahrer eines dicken Mercedes nachts in Delhi die Kontrolle über seinen Wagen verliert. Interessiert eigentlich niemand weiter, denn es gibt so viele Arme auf den Straßen der Metropole. Aber der Schein muss natürlich gewahrt bleiben. Ein Mann wird verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Die Frage ist: War er tatsächlich derjenige, der den Crash verursacht hat? Und wenn nein: Warum ist ausgerechnet er derjenige, der ins Gefängnis geht?

Das ist der Anfang von Deepti Kapoors Roman “Zeit der Schuld“ – und eine Schlüsselszene gleich zu Beginn, die sich sehr viel später als einer der Dreh- und Angelpunkte des ganzen großen Konstrukts entpuppen wird. Eine Szene zugleich, die im Prinzip die kompletten 700 Seiten dieser Geschichte schon verdichtet und spiegelt: Es geht um Arm und Reich, um Recht und Unrecht, um Tradition und Modernisierung, um eine Metropole und um ein ganzes Land, um eine Sekunde und ein Zeitalter gleichermaßen. Es geht auch um den Rausch eine unfaßbaren Rich Kids-Partylebens – und um den üblen Kater danach.

“Zeit der Schuld“ ist der erste Teil einer Trilogie. Ein Roman, der eine kommende Weltmacht in ihrer gesellschaftlichen Zerrissenheit ausleuchtet, und der dabei Weiten und Tiefen gleichermaßen faszinierend spiegelt. Deepti Kapoor erzählt all das, indem sie die Lebenswege von drei Menschen um die Dreißig in den 90er und Nuller Jahren verfolgt: Neda, eine Journalistin aus der liberalen Mittelschicht. Sammy, Sproß einer Familie, die “Geschäfte“ macht. Und Ajay, sein Fahrer und Leibwächter, der als Kind in die Sklaverei verkauft wurde.

Ein herausragendes Buch, exzellent konstruiert und stilistisch beeindruckend. Ein Schmöker, das auch. Aber ist „Zeit der Schuld“ ein Mafiaroman in der Tradition des Paten? Deepti Kapoor verzichtet sehr lange sehr weitgehend auf typische Genre-Muster, sie erzählt da im Prinzip gar keine Verbrechensgeschichte – und doch sind die Strukturen des Verbrechens, wie sich weisen wird, omnipräsent, was sich in der Struktur des Romans zunehmend deutlich spiegelt, bis er zum Mafia-Roman wird. Werden muss, denn anders lässt sich diese neoliberal geprägte Realität gar nicht wirklichkeitsgetreu erfassen.

So oder so: Dieser Roman ist so gut gearbeitet, dass er selbst Maßstäbe setzt für die Zukunft. 

Deepti Kapoor: Zeit der Unschuld (Age of Vice, 2023). Aus dem Englischen von Astrid Finke. Blessing Verlag, München 2023. 686 Seiten, 28 Euro.

  • Anm. der Redaktion: Siehe in dieser Ausgabe auch Alf Mayer über das indische Gangster-Epos „Gangs of Wasseypur I & II“.

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