Geschrieben am 1. April 2022 von für Crimemag, CrimeMag April 2022

Ulrich Noller: Tamar Tandaschwili „Als Medea Rache übte…“

Sexuell „anders“ – in Georgien

Zufall oder Schicksal? Eine junge Frau, Tina Sambadse heißt sie, findet in einem Hotelzimmer Unterlagen, die ihre „Vormieterin“ dort vergessen hat. Es handelt sich um einen Bericht einer Psychologin über einen Gruppenmissbrauch in Georgien. Diesen Bericht gibt es tatsächlich, Tamar Tandaschwili hat ihn geschrieben, in ihrer Funktion als Psychologin und Aktivistin.

Durch die „Übergabe“ an ihre Roman-Protagonistin im Hotelzimmer transportiert die Schriftstellerin Tamar Tandaschwili ihn von der Realität in die Fiktion. Und das schafft Möglichkeiten. Ein genialer Kniff. Zufall – und Schicksal in einem.

„Natia, 38, Diagnose: Depressive Störung. Ein Suizidversuch, mehrere Versuche von Selbstverletzung. Wurde im Alter von 14 Jahren von drei Klassenkameraden im eigenen Haus vergewaltigt, einer davon war ihr Freund. (..) Die Patientin betont, sie wollte unter allen Umständen vermeiden, dass ihre Eltern davon erfahren.“
Ein Problem mit Sexualität

Diese Patientin wurde offensichtlich über Jahre von der Gruppe vergewaltigt und missbraucht. Die Übergriffe sind allerdings längst verjährt. Aber Tina Simbadse ist ja Journalistin. Das Gericht der Öffentlichkeit tagt auch nach dem Ablauf von Verjährungsfristen. Die Recherche beginnt. Und damit der Roman.

So geht es hinein in eine Gesellschaft, die, freundlich formuliert, ein Problem mit ihrer Sexualität hat. Und mit denen, die irgendwie anders sind. Zum Beispiel auch die Sexarbeiterin Monika.

„‚Wie viele Kunden habe ich pro Tag?‘
‚Nur eine. Ein junges Mädchen. Sie heißt Likuna.‘
‚Das Gesamtpaket?‘ (..)
‚Wie soll ich sagen. Meine Tochter ist kein gewöhnliches Mädchen. Sie hat ein Hirntrauma, dass sich auf Sprache, Kognition und Motorik auswirkt.’“
Leben in der konservativ-patriarchalen Gesellschaft

Monika war einmal Lascha. Ein Junge, in dessen Körper ein Mädchen gefangen war. Weshalb seine Familie ihn verstieß. Beziehungsweise: Ihre Familie sie. Und das Erwachsenwerden in der konservativ-patriarchal geprägten Gesellschaft zum Spießrutenlauf wurde. Monika ist heute Sexarbeiterin.

Likuna, ihre neue Kundin, braucht körperliche „Betreuung“, sonst schlagen ihre Medikamente nicht mehr an. Die Lust ist stärker als die herrschende Moral.

‚Monika ist einen Moment verwirrt, fängt sich aber recht bald.
‚Ach so, sie ist geistig zurückgeblieben? Kein Problem, ich habe Erfahrung damit.‘ (..)
‚Wirklich? Wie viel Erfahrung? Erzählen Sie uns ein wenig davon, Monika.’“

Was folgt, ist eine von vielen Geschichten, die Tamar Tandaschwili in „Als Medea Rache übte …“ ineinander verschränkt. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen, Jede mit Jedem, das erschließt sich erst in Schichten beim Lesen – und beim unvermeidlichen Nachsinnieren.

Der raffiniert konstruierte Roman ist allerdings kein Krimi, wie hier und da annonciert wird. Er operiert lediglich mit Krimimustern – im Sinne einer gesellschaftlichen Ermittlung: Die Story durchleuchtet eine bigotte, verlogene Struktur, in der alles, was „sexuell“ anders ist, rigoros tabuisiert wird.

Zugleich befördern aber genau diese Herrschaftsstrukturen Taten wie die anfangs beschriebene Gruppenvergewaltigung – an der wiederum exakt die Typen beteiligt waren, die mit der Konstruktion von sozialen und sexuellen Tabus ihr Geld und ihre Macht sichern. Zum Beispiel in solchen Sonntagsreden.

„Heute hat die georgische orthodoxe Kirche sowie ganz Georgien einen größeren Feind als es die Kizilbasch oder Araber waren. Dieser Feind kämpft als Wolf im Schafspelz gegen unser geistliches Erbe und erstickt in unseren Kindern das Beste, was unsere namhaften Vorfahren seit jeder so sorgsam gehütet haben. Dieser Feind ist die westliche Welt samt der uns allen wohlbekannten sexuellen Unzucht und der Sünden von Sodom und Gomorra. Die wahrhaftigen Anhänger der georgischen Seele brauchen eure Hilfe (..)!“
Analyse und Abrechnung zugleich

„Als Medea Rache übte und die Liebe fand“ ist eine Hommage an die queere Vielfalt, und Tamar Tandaschwili bezieht sehr eindeutig Position: Radikal und konzentriert einseitig; klotzend, nicht kleckernd. Mit brachialer Finesse, wenn man so will.

Ihr Roman ist Analyse und Abrechnung zugleich. Und auch ein literarischer Rachefeldzug, der die Verhältnisse einen Moment lang umkehrt: Hier wenigstens haben die Tabuisierten letztlich die Deutungshoheit – und damit die Macht.

Ulrich Noller

Tamar Tandaschwili: Als Medea Rache übte und die Liebe fand (Materikon, 2018). Aus dem Georgischen von Tamar Mushkhelischwili. Residenz Verlag, 2021. 144 Seiten, 18 Euro.

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