Geschrieben am 1. März 2023 von für Crimemag, CrimeMag März 2023

TW: Wer ist Antoine des Gommiers?

Stoff für fünf Epen

Lyonel Trouillot gehört zu den wichtigsten Schriftstellern Haitis. Sein neuer Roman „Antoine des Gommiers“ belegt, warum, findet Thomas Wörtche

Der titelgebende Antoine war in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein legendenumwobener „hougan“, ein Voodoo-Priester und Wahrsager.  Sprichwörtlich in ganz Haiti ist seine Sentenz: „Wenn du im Irrtum verharrst, wird dir ein Unglück geschehen, das selbst Antoine des Gommiers nicht voraussehen kann“.  Das behauptet zumindest Franky, angeblich ein Urgroßneffe des Meisters, der eine Biographie von Antoine schreibt. Das wissen wir vom Ich-Erzähler des Roman, Frankys Bruder Ti Tony. Die beiden Brüder leben in einem der schlimmsten Slums von Port-au-Prince, dem „Korridor“.  Dort herrschen bitterste Armut, andauernde Gewalt und erschütternde hygienische Verhältnisse.

Ti Tony ist der Pragmatiker der beiden Brüder, ein Überlebenskünstler; Franky der Intellektuelle Typ mit einem großen Interesse an Geschichte.  Besonders fasziniert ist er von Antoine des Gommiers, dessen Leben er zu rekonstruieren versucht. Aber das ist nicht so einfach, denn der Mythos des Wahrsagers hat längst alle Fakten seiner Existenz überwuchert. Gab es ihn überhaupt? Ihn, zu dem angeblich Staatschefs aus aller Welt gepilgert waren, Hollywood-Stars und die jeweiligen Eliten Haitis, um sich ihrer Zukunft zu versichern? Hat er tatsächlich Dossiers von allen Kunden angelegt? War er steinreich? Oder doch nur ein Bauer namens Antoine Pinto, der ein paar Anhänger um sich geschart hat? Oder ist es egal, was es wirklich mit dem Mann aus Gommiers im Departement Grand´Anse auf sich hatte?

Das ist der Kern des Buches: Ein Roman über die Macht der Fiktionen. Franky schert sich nicht besonders um Realitäten, er erzählt sich seine Geschichte und die seiner Familie, so wie er sie gerne haben würde: Die Mutter war, zum Beispiel, demzufolge eine wunderschöne, kluge, empathische Frau und keine verlebte Elendsprostituierte, das Meer vor Port-au-Prince keine müllverseuchte Kloake und so weiter. Damit trifft Franky das Bedürfnis seiner Mitmenschen, ihrem Elend Sinn und Würde zu geben. 

Lyonel Trouillot © wiki-commons

Ti Tony, unser Erzähler, weiß es besser: Seine Erzählungen von den „kleinen Leuten“ des Korridors sind geerdet und realitätstüchtig. Er verschließt die Augen nicht vor der deprimierenden Situation Haitis. So entstehen tragische und komische, bizarre und erschütternde Vignetten aus dem Alltag, Geschichten von Gewalt, Korruption und moralischem Bankrott, und Geschichten von Kreativität, Stolz, Solidarität und Liebe. Die beste Geschichte aber ist, wie Franky und Ti Tony mit Hilfe zweier brutaler Gangster einen Verlagsvertrag für Frankys Antoine-des-Gommiers-Biographie erzwingen. Fiktion und harsche Realität gehen am Ende Hand in Hand. Die schriftlich fixierte Fiktion wird Bestand haben, die Realität in unzählige, unterschiedliche und flüchtige Narrative sich zerstäuben. 

„Antoine des Gommiers“ ist, wie fast alle Bücher von Trouillot, ein weiterer Baustein in dessen Programm, einer extrem zerrütteten Gesellschaft Stimmen von Hoffnung und Würde zu geben, eine Art realisierbare Utopie, mit den Mitteln der Fiktion. Und zudem ist der Roman höchst vergnüglich und amüsant zu lesen, weil Ti Tony ein gewitzter, scharfsinniger Erzähler mit einem genauen Blick für Komik und einer großen Begabung für schnelles, punktgenauer und lakonisches Erzählen ist.  

173 Seiten mit Stoff für fünf Epen.

Thomas Wörtche

Lyonel Trouillot: Antoine des Gommiers (Antoine des Gommiers, 2021). Deutsch von Peter Trier. Litradukt Verlag, Trier 2023. 173 Seiten, 15 Euro. – Die Audio-Datei der Radio-Fassung dieser Besprechung hier.

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