
Unheimlich präzise und die richtigen Fragen gestellt
Thomas Wörtche über das neue Buch von Gianrico Carofolgio
Ein vor Spannung und Action bebender Krimi ist „Groll“, das neue Buch des Juristen und Politikers Gianrico Carofiglio aus Bari, nicht gerade. Aber ein bemerkenswerter Roman. Wie geht das?
Die Ausgangslage scheint klassisch: Die Ex-Staatsanwältin Penelope Spada schlägt sich in Mailand als Privatdetektivin ohne Lizenz, einsam und nur in Gesellschaft ihres Hundes Olivia, durchs Leben. Eine Klientin möchte den Tod ihres Vaters nach zwei Jahren noch einmal neu betrachtet wissen. War es tatsächlich ein Herzinfarkt oder hatte die zweite Gattin des arroganten, gefühllosen und egomanen Chirurgen die Hand im Spiel? Diese zweite Gattin ist nämlich 30 Jahre jünger, auf den ersten Blick die typische Trophy-Woman. Zudem spielt der angebliche Wille des Verblichenen zu einer Testamentsänderung eine Rolle, die er in die Wege leiten wollte, aber wegen Ablebens nicht mehr dazu gekommen war. Eine Änderung zu Ungunsten der jungen, so gar nicht trauernden Witwe. Auch Notar und Hausarzt des Toten stellen ihr kein gutes Zeugnis aus – aus eigenen Gründen? Was Penelope aber wirklich aufwühlt: Der verstorbene Dottore Leonardi hatte mit dem Fall zu tun, wegen dem Penelope aus dem Amt gejagt worden war. Ihr war ein Zeuge unter den Fingern weggestorben, den sie eigentlich gar nicht hätte vernehmen dürfen, als sie hinter einer illegalen, mafia-mäßig aufgestellten Loge her war, deren einer Obermacker eben Leonardi war. Wie gesagt, ein klassisches Setting in einem grauen, düsteren und regnerischen Mailand, das auch von Giorgio Scerbanenco hätte stammen können.
Aber Carofiglio macht jetzt etwas anderes – er verschiebt die Akzente, die Dominanten der Handlung. Penelope Spada leidet unter Selbstzweifel, bis zum Selbsthass, den sie – hoch bewusst ihrer eigenen, unschönen Befindlichkeiten – mit Alkohol und One-Night-Stands zu bekämpfen trachtet, und sich schließlich auf ein fast schon asketisches Leben mit Gemüse und Hund kapriziert. Der „Fall“ löst ein Umdenken aus bei ihr. Raster und Wahrnehmungsschemata beginnen fraglich zu werden. Im Park trifft sie einen Mann, einen schlecht bezahlten Schullehrer aus eigenem Beschluss, der ihr Bild von Männern relativiert. Kann sie, obwohl von leicht paranoiden Schüben geplagt, akzeptieren, dass er vielleicht tatsächlich nur ein netter, gar guter Mensch ist? Und ist das Bild, das man ihr von Lisa, der Trophy-Frau, zeichnet, wirklich zutreffend? Obwohl es ihr doch zunächst so überaus plausibel erschienen war? Und prompt tut sich ein neues Dilemma auf: Ist es moralisch vertretbar, dass sie sich mit Lisa anfreundet, obwohl sie doch nachweisen soll, dass diese beim Tod des alten Tyrannen die Hände im Spiel gehabt habe und nichts als eine Erbschleicherin sei.
Damit switcht Carofiglio geschickt auf die moralische Dimension des Romans. Es geht, letzten Ende, auch um die Ethik von Aufklärung. Als Staatsanwältin hat Spada Vorschriften und Gesetze eigenmächtig übertreten (ein kleines Problem des Romans für deutschsprachige Leser: Das italienische Rechtssystem ist an manchen Punkten vom österreichischen, deutschen und schweizerischen weit entfernt – das wirkt ein wenig verwirrend), sie hatte sich moralisch dazu erhöht gefühlt, auf der Suche nach der Wahrheit und nichts als der Wahrheit, Grenzen zu überschreiten, was schließlich ein Menschenleben gekostet hatte. Ist das damit gerechtfertigt, dass man eine möglicherweise kriminelle Organisation aushebeln kann? Und was macht man mit einem geständigen Täter, der ein Ekel umgebracht hat? Ein Täter, der selbst auf den Tod krank, der jahrzehntelang angehäuften und völlig berechtigten Groll auf sein Opfer bei einer spontanen Chance eskalieren lässt? Und wie geht man mit dieser Wahrheit im Verhältnis zu den Angehörigen des Mordopfers um, die auch nicht alle moralisch reinlich sind?
So gesehen besteht „Groll“ aus einer ganzen Reihe impliziter Essays (auch u.a. zu den Themen Einsamkeit, Isolation, Misanthropie, Utopie), die sich in der Handlung entfalten und die Handlung dominieren. Essay heißt aber auch, dass die richtigen Fragen gestellt werden, die Antworten aber verhandelt werden müssen. Die sprachliche Inszenierung, von Verena von Koskull großartig übersetzt, hat genau die verdichtete Sprödigkeit, die das Buch braucht: Anti-sensationalistisch, anti-reißerisch, aber unheimlich präzise.
So entspricht „Groll“ der aktuellen und erfreulichen Tendenz, Genre-Konventionen so klug und gekonnt aufzuladen, dass sie fast verschwinden, ohne ihre narrative Aufgabe, ein Buch am Laufen zu halten, zu suspendieren.
Thomas Wörtche
Gianrico Carofolgio: Groll (Rancore, 2022). Aus dem Italienischen Verena von Koskull. Folio Verlag, Bozen/ Wien 2023. 220 Seiten, 25 Euro.