Geschrieben am 3. Februar 2019 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2019

Thomas Wörtche zu Giorgio Scerbanencos „Der lombardische Kurier“

Scharfkantig

Thomas Wörtches Nachwort zu „Der lombardische Kurier“ von Giorgio Scerbanenco

„Der lombardische Kurier“ ist ein bemerkenswert grausames Buch. Dieser Eindruck ist heute noch so richtig wie zu seiner Veröffentlichungszeit 1968, auch wenn wir inzwischen viel expliziter geschilderte und vor allem viel kumuliertere Scheußlichkeiten gewöhnt sind. Allerdings erweist sich diese Gewöhnung angesichts der konsequenten, impliziten und inhärenten Grausamkeit von Giorgio Scerbanencos drittem Duca-Lamberti-Roman als erstaunlich brüchig.

Im Grunde sind es zwei Grausamkeiten, die in einem merkwürdig eisigen Spiegelverhältnis zueinanderstehen. Da ist einmal, ganz evident, das Massaker, das die elf adoleszenten Abendschüler am Körper ihrer Lehrerin anrichten, die Demütigung, Schändung und Zerstörung eines menschlichen Wesens durch exzessive Gewalt, die auch drastische sexuelle Gewalt ist. Im unmittelbaren zeitlichen Kontext hatten gerade in den 1960er Jahren Hubert Selby mit „Last Exit Brooklyn“ (1964) und Jerzy Kosiński mit „The Painted Bird“ (1965) sexuelle Gewalt aus dem tradierten Diskurs-Zusammenhang (de Sade, Bataille und die Folgen) herausgelöst und in einen „realistischen“ und sozialen Zusammenhang gestellt. Man darf durchaus vermuten, dass dieser Transfer vom literarischen „Mainstream“ ins Genre bei Scerbanenco absichtsvoll ist. Und damit ein Musterbeispiel dafür, wie die Interdependenzen zwischen „seriöser“ Literatur und Genre funktionieren. Das Aufbrechen von Genrekonventionen bedeutet ja immer auch ein allmähliches Verwischen der Trennlinien zwischen E/U. Die zeitgenössische italienische Rezeption von Scerbanencos Duca-Lamberti-Tetralogie hat das genau so verstanden. Allerdings sollte man Scerbanenco nicht nur als Gründungsvater des modernen italienischen Kriminalromans verstehen, sondern ihn als wichtigen Inspirator eines allgemeinen Trends sehen, der das gesamte Genre bis heute bestimmt: Kriminalliteratur ist seriöse Literatur.

Die zweite, eher subkutane Grausamkeit ist Duca Lambertis anscheinend indolentes Verhalten seiner Schwester und ihrem sterbenden Kind gegenüber. In einer sehr intensiv erzählten Parallelaktion verhört Lamberti einen der jugendlichen Mörder nach dem anderen, während er gleichzeitig versucht, seine häusliche Krise per Telefon fernzusteuern.  Seine Prioritäten sind klar: Um „das Böse“ zu bekämpfen, macht er sich selbst der zwischenmenschlichen Grausamkeit schuldig, obwohl er doch, wie in allen vier Romanen schon fast leitmotivisch betont wird, weiß, dass man „das Böse“ nicht final bekämpfen kann.

Diese Doppelung legt das Prinzip des moralischen Changierens im „Lombardischen Kurier“ sehr sinnenfällig frei. Es geht dabei aber nicht nur um die moralischen Grauwerte der Figur Lamberti (sicher seit Dashiell Hammetts Continental Op die bisher radikalsten der Genre-Geschichte, was wieder einmal beweist, dass als einziges Kriterium für hard  boiled mentale Härte – und nicht action oder graphic violence– taugt), sondern umreißt gleichermaßen die Dialektik des „gesellschaftlichen Fortschritts“, oder je nach Standpunkt: der gesellschaftlichen Gärung der 1960er Jahre. Das Thema „Pädagogik“, Re- bzw. Sozialisierbarkeit marginalisierter Menschen und Außenseitern ist ein großes Thema der Zeit – der Hinweis auf Pasolini, A.S. Neill´s „Summerhill“-Experiment und überhaupt die Diskussion um „schwarze“ versus „antiautoritäre“ Pädagogik mag hier genügen. Scerbanenco braucht nur eine kleine Episode, um diesen letztlich doch neuralgischen Punkt deutlich zu markieren. Die für die mörderischen Jungs zuständige Sozialarbeiterin erzählt Lamberti von ihrer Schwester, die in einem West-Berliner Heim für traumatisierte Kinder und Jugendliche als Hospitantin die allerbesten, liberal-freiheitlichen, fachlichen Erfahrungen gemacht hatte, aber dort nicht angestellt wurde, weil sie lesbisch ist. Es ist eine große Qualität von Scerbanencos Texten, direkt auf zeitgeschichtliche Phänomene zu reagieren, dies aber nirgends plakativ und lauthals zu tun. Und gleichzeitig keine Ideologeme zu transportieren, sondern lediglich Optionen.

Das gilt auch für seine Frauenfiguren, die ihrerseits zwischen genretypischer Misogynie (siehe Chandler) und, sagen wir, zart emanzipatorischen Bildern schwanken. Die strenge, Kant zitierende Rationalistin Livia Ussaro stünde, wenn sie denn so modellhaft eindeutig wäre, für letztere Option, auch wenn sie nicht ganz dem state of the art des heutigen Feminismus entspricht; Marisella Domenici (die „Ilse Koch“ des Romans, was eine extreme Qualifikation ist) gehört zu den nicht belles, sondern dames moches sans merci, die Scerbanencos/Lambertis Universum bevölkern. Die Sortierung der Frauen als Opfer funktioniert bei dieser Galerie abscheulicher Täterinnen ebenfalls nicht. Aus solchen Konstellationen ein stimmiges, kohärentes „Frauenbild“ zu destillieren, würde am Text scheitern, bzw. würde dessen Dignität ignorieren.

Und dann ist da noch Duca Lamberti selbst. Dessen Oszillieren zwischen Gesetz und Recht, Vigilantismus, Polizeigewalt, Furor, Pathos, exaltiertem Moralismus, Eiseskälte, schubhafter Empathie und blanker Mordlust ist zwar bemerkenswert und faszinierend virtuos ausgestaltet, aber seine wirkliche Modernität liegt in der sperrigen Abwehr identifikatorischer Lektüre. Lamberti ist nicht sympathisch, Lamberti ist nicht unsympathisch, er reagiert situativ, reaktionär und fortschrittlich, was man auch daran sieht, dass er Cesare Beccaria undCesare Lombroso zitiert. Oder dass er, nachdem er mit Livia Ussaro die damals aktuelle Verfilmung von „In Cold Blood“ (Regie: Richard Brooks) gesehen hat, dezidiert nicht über die Todesstrafe diskutieren will. Aber in welchem Sinn nicht? Der Text gibt keine eindeutige Antwort.

Man kann Lamberti nicht auf „Death Wish“-Fantasien festnageln, obwohl vorhanden. Auch nicht auf striktes, staatstragendes, legalistisches Denken, obwohl vorhanden. Und gleichermaßen nicht auf eine gelassene Benevolenz, obwohl er die hier, im „Kurier“, einigen der Mörder-Kids entgegenbringt. Man könnte schon beinahe die Möglichkeit zur identifikatorischen Lektüre als Trivialitätskriterium für Texte verstehen, die sie anbieten (das Bestseller-Prinzip), als (sozial)psychologische Verschiebung: der Übertrag des Wunsches nach dem „starken Mann“ ins Literarische – mag dieser „starke Mann“ auch eine Frau sein oder als Figur keine starke Persönlichkeit zeigen; auch Loser sind Identifikationsfiguren. Am Mechanismus ändert das nichts. Man kann, wenn man will, darin sogar einen, politisch zudem extrem unbehaglichen, „Abwehrmechanismus“ sehen – zum Beispiel gegen die Zumutungen einer komplexen, kontingenten Welt. Mit seiner Figur Duca Lamberti blockiert Scerbanenco diese Rezeptionshaltung – das Anti-Identifikatorische macht die Modernität dieses „Helden“ aus. Und seine scharfkantige, schartige Unbequemheit.

All diese Polyvalenzen, Brechungen und Irritationen sind das Ergebnis einer eleganten und sehr geschmeidigen literarischen Inszenierung. Scerbanenco verweigert das Dogma monologischen Erzählens und zersplittert das auktoriale Prinzip höchst kreativ und vor allem absolut organisch. Bei der Lektüre merkt man zunächst gar nicht, wie schnell er – auch innerhalb eines Absatzes – die Erzählinstanzen wechselt, Kommentare einschiebt, die keiner Figur, aber auch nicht dem Erzähler zuzuordnen sind. Er variiert, auch auf engstem Raum, den Ton, den Gestus des Erzählens: von grimmiger Lakonie zu Sentimentalität und wieder zurück, in fein nuancierten Dosen. Dazu kommt sein perfektes Timing: keine Durchhänger, keine Redundanzen (denn wenn er Sequenzen wiederholt, hat das rhetorische Gründe), kein unnötiges narratives Fett. Seine Technik feiert sich nirgends, der Autor Scerbanenco fordert keine massive Autorität für sich selbst, seine Tarnung ist der raffinierte flowdes Erzählens. Bis sich irgendwann die Frage aufdrängt „Wie zur Hölle macht er denn das?“.

Aber dann hängt man schon längst an seinem Haken.

© 07/2018 Thomas Wörtche  

Giorgio Scerbanenco: Der lombardische Kurier. Duca Lamberti ermittelt (I ragazzi del massacro, 1968). Aus dem Italienischen von Christiane Rhein. Mit einem Nachwort von Thomas Wörtche. Folio Verlag, Wien/ Bozen 2019. Klappenbroschur, 260 Seiten, 18 Euro.  

Siehe auch bei CrimeMag: Tobias Gohlis entdeckt Scerbanenco.
Sowie: Tobias Gohlis: Mit dem Skalpell.

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