Geschrieben am 2. Mai 2023 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2023

Thomas Wörtche über Phantombilder

Phantombilder – ein Konzept und seine Folgen

Ein paar Anmerkungen zu Georgiana Banitas Studie über eine nicht unproblematische Praxis – von Thomas Wörtche

Racial Profiling, Polizeigewalt, schlimme Abschiebepraktiken, „predictive policing“ – alles strukturelle Probleme der „Inneren Sicherheit“, die glücklicherweise seit geraumer Zeit zumindest diskutiert werden. Teilweise gegen den erbitterten Widerstand von Polizeigewerkschaften und anderen konservativen Kräften, teilweise auch gegen eine indolente Öffentlichkeit und gegen Forderungen nach noch autoritäreren Strukturen, die nach der „ganzen Härte des Rechtsstaats“ verlangen, verbunden mit dem anscheinend ewigen Ruf nach „Recht und Ordnung“. Auf der anderen Seite wünschen sich viele ernstzunehmende Stimmen eine „demokratischer Polizei“, eine Neudefinition der Institution, die in unserer Gesellschaft (glücklichweise) das Gewaltmonopol hat. An wohl keinem anderen Thema lassen  sich so präzise die „moral-kriminologischen Denkweisen einer Gesellschaft“ verstehen – sagt die Anglistin Georgiana Banita, die an der Universität Bamberg gerade das spannende  Forschungsprojekt „Sicherheit für alle: Polizeikultur in einer Einwanderungsgesellschaft“ leitet.

In ihrer Studie „Phantombilder“ unternimmt sie es, dieser Diskussion eine „historische“ und eine „trans-atlantische“ Dimension zu geben. Letztere, weil die Black-Lives-Matter-Bewegung auch bei uns diskursiven Wirkung hat, auch wenn bei uns keine amerikanischen Verhältnisse herrschen, wie Banita mehrfach betont, aber hin und wieder dennoch diese Unterschiede ignoriert, wenn´s gerade in die Argumentation passt (oder nicht). Aber natürlich besteht ein innerer Zusammenhang. Und der hat mit der historischen Dimension zu tun, denn beide – die amerikanische und die europäische Polizeikulturen – rühren von Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus oder faschistischer Herrschaft her. In diesen Kontext des Definierens, Sortierens, Standardisierens, Aussortierens („Othering“) Typisierens von Delinquenz gehört wesentlich das Phantombild.

Erstmals als Fahndungstechnik angewandt 1881 von Scotland Yard, um den „Eisenbahnmörder“ Percy LeFroy Mapleton zu verhaften, was danebenging (den fing man wegen seiner unfasslichen Dummheit ein, unabhängig vom Fahndungsplakat), machte dieses Polizei-Tool Karriere bis heute. Und schleppt seine grundsätzliche Problematik mit sich – den „schmalen Grat zwischen Einzel- und Generalverdacht, zwischen der Überlegung `Diese Person sieht aus wie der gesuchte Verbrecher´ und ´Diese Person sieht aus wie ein Verbrecher“.  Dieses Denken lehnt sich an Cesare Lombrosos fatal folgenreiche Schrift „L´Uomo Delinquente“ von 1876 an, also an die These von „einem Zusammenhang zwischen Physis und krimineller Disposition“ – ein Denken, das über ein paar Vermittlungsschritte direkt zur nationalsozialistischen Eugenik und der Vorstellung vom „Berufsverbrecher“ resp. dem „Asozialen“ führte. Die Strukturanalogie zur transatlantischen Variante mit den Parametern BIPoC, männlich, gewalttätig liegt auf der Hand. Die Konsequenzen natürlich auch: Racial Profiling geht von Stereotypen aus, grundiert von einem tiefsitzenden strukturellen, gesamtgesellschaftlichen Rassismus, desgleich auch das, was Banita „Krypto“-Policing nennt, ein „prädikativ-präventives Modell“, das aus immer mehr und immer mehr auch aus trüben Quellen gewonnenem Datenmaterial, also Big Data, „Phantombilder“ der digitalen Art bildet, ohne die den Algorithmen zu Grunde liegenden ideologischen Grundannahmen transparent zu machen, die tief „in die Software eingebettet“ sind. Übrigens ein weiteres Argument für eine dringend nötig Verstärkung der Bemühungen um eine „Algorithmen-Ethik“, die sich zunehmend auch um das Social Scoring zu kümmern hat, das mehr und mehr unser Alltagsleben bestimmt, Stichworte Kreditwesen, Bonitätsausweis, Gesundheitsdaten etc. Phantombilder resp. Phantom-Bildlichkeiten haben, so gesehen, außer der polizeilichen noch eine ganz andere zivilgesellschaftliche Dimension, die Banita hier allerdings nicht thematisiert.

Was sie hingegen hinlänglich diskutiert und mit vielen Beispielfällen belegt, sind die „Nekro-„ und die „Xeno-Polizei“, also die polizeilichen Aktivitäten, die mit Folter und Tod einerseits agieren, und im Falle der Xeno-Polizei grenzschützerische Tätigkeiten ausüben resp. für Abschiebungen zuständig ist. Banita rekonstruiert die diesen „Polizeikulturen“ zu Grunde liegende Ideologien, ohne sie allerdings als invariabel zu verstehen. Deswegen ist ihre Polizeikritik eher konstruktiv und wird von fortschrittlicheren Kreisen innerhalb des Apparats auch nicht so hysterisch angegriffen, wie das bei anderen polizeikritischen Ansätzen fast automatisch durch Figuren wie Rainer Wendt (Deutschen Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund) oder Horst Seehofer der Fall war. 

Wer sich in der Materie auskennt, wird bei Banita keine neuen, unbekannt gebliebenen Skandale finden, wer sich dafür erst jetzt zu interessieren beginnt, bekommt ein sehr gute, kompakte Zusammenfassung der Ereignisse der letzten Jahrzehnte, die das Thema so brisant machen – von Rodney King über Amadou Diallo zu George Floyd, von Pascal Marc Laoubi Abd´El Kader über Oury Jalloh bis – ganz aktuell  – Mouhamed Dramé. Die Lektüre sollte selbst den verstocktesten Ignoranten und der hartnäckigsten Ignorantin die Augen öffnen – die Augen, die nicht sehen wollen, was sich tagtäglich und überall auf unseren Straßen, Bahnhöfen, Flugplätzen, „Hot Spots“ besonders im Falle des Racial Profiling abspielt. 

Anyway, Banitas Buch ist weit komplexer, als ich das hier darstellen kann. Es gibt bedenkenswerte und spannende Passagen über die Militarisierung von Polizei, über (auch historische) Psychologie von Todesschützen, über die Rolle von Xenophobie, von Grenz-Politik, über Entwürdigung, über die Rolle von Rechtsprechung … und natürlich auch Vorschläge, wie man den Defiziten eines eigenartigen Apparats entgehen kann, „im Sinne eines empathischen, deeskalierenden Handelns, damit (die Polizei) den ihr anvertrauten Sozialauftrag kompetent ausführen kann.“ 

Auf einen Punkt möchte ich noch eingehen, weil der für eine soziologisch, politologisch orientierte Arbeit eher ungewöhnlich ist. Banita diskutiert die Interdependenzen zwischen fiktionalen Narrativen von Polizei- und Detektionsarbeit (vulgo Crime Fiction) und der Realität. Damit dem alten Luhmann-Kalauer folgend, dass das semantische Material, das eine Gesellschaft benutzt, vermutlich nicht beliebig sein wird.  „Die wohl umfassendste, allseits zugängliche Wissensbasis über die Aufgaben und den Alltag der Polizei stellt nach wie vor – und das schon seit anderthalb Jahrhunderten – die Kriminalgeschichte dar.“  

Das ist eine steile These, ich würde eher sagen: „Unwissensbasis“ – und angesichts der wenigen Autor:innen, die sich tatsächlich ernsthaft und seriös mit „echter“ Polizeiarbeit befassen, angesichts des gewaltigen Anteils von Kriminalromanen, bei denen Polizeiarbeit überhaupt nicht vorkommt, und mehr: angesichts der unzähligen, einschlägigen Texte, die sich nicht um die Aufklärung von Verbrechen scheren, ist so eine These grober Unfug. Ob das nun an der Kenntnis-Lage der Autorin liegt – die wenigen Beispiele, die sie nennt, völlig unter Ausschluss schwarzer oder feministischer Kriminalromane oder den ebenfalls stark rezipierten Kriminalliteratur aus Afrika, Asien, Lateinamerika, Australien etc. und die nicht gerade reichhaltige Forschungsliteratur auf Höhe des Diskurses legt das nahe -, oder ob sie nur das zitiert, was ihr ins Konzept passt, ist schwer zu entscheiden.

Man könnte an der Stelle seitenweise diskutieren, ob Banita den fiktionalen Status von Literatur genügend reflektiert, wenn sie im Anschluss von Dürrenmatts „Das Versprechen“ zu dem Schluss kommt, er deute an, dass „die Fiktionalität des Verbrechens … auf reale Ermittlungen abfärbt“, was dann aber auch eine Fiktion innerhalb fiktionaler Rede wäre. Und Dürrenmatt als „Vorreiter einer neuen Art von Kriminalgeschichte … mit einem antiheroischen Verständnis des Detektivs“ zu verstehen, ist ebenfalls kühn, wenn man z. B. Friedrich Glausers Kriminalromane in eine Reihe mit Dürrenmatt stellt. Und E.A. Poes „Mord in der Rue Morgue“, ein durch und durch artifizieller Text der schwarzen Romantik, hat – auch wenn man Poes „Südstaaten-Rassismus“ erkennt -, nicht zwingend mit dem mörderischen Affen als Symbol für das Wilde und Barbarische des „Fremden“ zu tun, sondern ließe sich gleichsam als Parodie auf die Möglichkeiten spekulativer Detektion verstehen. Und ob der Einfluss von Hobby-Kriminalisten bei ihren modernen Kollegen und Kolleginnen zu spüren sei, ist eher eine Frage der literarischen Reihe, die sowieso pausenlos im expliziten oder impliziten intertextuellen Dialog mit sich selbst ist („Literatur entsteht auch aus und gegen Literatur“) als eine des Realitätsbezugs. 

Dennoch hat Banita hier einen starken Punkt: Gerade wenn sie breitenkompatible Crime Fiction im Blick hat – die aber eben nicht den State of the Art des Genres abbildet, der die Kriminalliteratur nicht als Produkt, sondern als Idee begreift – ist es plausibel, dass das pp Publikum seine gefühlten „moral-kriminologischen Denkweisen“ aus dieser Sparte der Kulturindustrie bezieht. Wer sein kriminalistisches Weltbild aus den meist polizeifrommen, unterkomplexen Narrativen bezieht, muss sich in der Tat von Serienmördern umzingelt fühlen und vor lauter moral panic nach einer starken Polizei rufen. Der neue Trend zum „True Crime“ unterstützt diese Rezeptionshaltung in der Tat, nicht umsonst sind dabei viele Ex-Polizisten (und auch ein paar aktive Polizisten) und „Profiler“ beteiligt, wobei nolens volens die Dramaturgie fiktionalen Mustern folgt.  Natürlich mit allen ideologischen Konzepten, die dann auch in der Kriminalliteratur eines bestimmten Typs zur Verfügung gestellt werden. Auf dieser Ebene sind die neuralgischen Elemente von Kriminalliteratur tatsächlich mit den neuralgischen Momenten der realen Polizeiarbeit verknüpft. Wie aber, wenn das pp. Publikum genau diese Konstellation längst durchschaut hat? Oder zumindest eine Ahnung dafür entwickelt? 

Bleibt auf jeden Fall festzuhalten, dass Banita die „zweite Linie“ des Kriminalromans (analog zu Bachtins „zweiter Linie“ des Romans) ignoriert, nämlich die Linie, die aus unterschiedlichen Gründen und mit literarischen Mitteln dieser Strömung entgegentritt, aus dezidiert schwarzer Position seit Chester Himes bis Percival Everett oder aus dezidiert feministischer Position (Beispiele ohne Zahl) oder aus dezidiert antikapitalistischer Position (Néo Polar) usw. 

Das ist jetzt aber keine Fundamental-Kritik an Georgiana Batinas Buch, au contraire. Mir wäre es nur lieber gewesen, wenn sie ausgerechnet in diesem Abschnitt etwas reflektierter oder zumindest kenntnisreicher argumentiert hätte. In einem Kontext, dessen Argumenten und dessen Faktenreichtum man sich ansonsten nicht verschließen kann.

„Phantombilder“ ist ein extrem wichtiges und kluges Buch. Sollte auf jeder Bestseller-Liste stehen.

Thomas Wörtche

Georgiana Banita: Phantombilder. Die Polizei und der verdächtige Fremde. Nautilus Flugschrift, Hamburg 2023. 479 Seiten, 24 Euro.

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