
Mehr als „Kleine Stadt, große Geheimnisse“
Gunthrum, Nebraska, ist eine langweilige Kleinstadt, erst recht im Jahr 1985. Dort spielt Erin Flanagans Roman „Dunkelzeit“, passenderweise auch noch im Spätherbst und Winter, also in der Jagdsaison. Da verschwindet die Jugendliche Peggy spurlos. Die Kleinstadt steht Kopf. Der geistig etwas beeinträchtige Hal, ein Farmhilfsarbeiter, gerät unter Verdacht, mit Peggys Verschwinden zu tun zu haben. Nur seine quasi-Adoptivmutter Alma hält noch zu ihm, während alle anderen ihn schon vorverurteilt haben. Alma ist die Ehefrau von Clyle, einem Schweinezüchter, der nach dem Tod seiner Eltern deren Farm übernommen hat, und deswegen mit Alma aus Chicago zurück nach Gunthrum gezogen ist. Alma ist auch nach vierzehn Jahre immer noch die Fremde – und sie fremdelt auch immer noch mit den kleinstädtischen Strukturen. Denn die zeichnen sich durch eine hohe soziale Kontrolle aus – jeder weiß alles, von jedem, auch wenn vieles unausgesprochen bleibt. Und aus dieser Kommunikationslosigkeit entstehen Misstrauen, Missverständnisse, selbst unter Eheleuten.
Insofern ist „Dunkelzeit“ durchaus ein Roman aus der Produktionslinie „small town – big secrets“. Nur dass hier die Geheimnisse nicht unerhört und sensationell sind, sondern banal. Ehebruch, Sauforgien, hin und wieder eine Schlägerei, wenn die Langeweile allzu drückend wird. Die Geschlechterrollen sind klar verteilt – kein Wunder, dass die großstädtische Alma mit ihren zart emanzipatorischen Ideen aneckt, genauso wie Milo, Peggys kleiner Bruder, der am liebsten Bücher liest und alle Anlagen zum Intellektuellen aufweist.

Das Grundmuster von „Dunkelzeit“ – Mädchen verschwindet, Sündenbock wird gefunden, am Ende ist möglicherweise alles ganz anders – sollte allerdings nicht dazu verführen, den Roman als „Krimi“ zu lesen. Die Frage, was man dem beeinträchtigten Hal zutraut und was nicht, stellt sich nicht auf einer detektivischen Ebene, sondern fügt sich in die sozio-psychologische Analyse ein, die Flanagan hier unternimmt. Penibel erkundet sie die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Kleinstadt, bis in die feinsten Verästelungen. Es gibt jede Menge unsympathische Menschen, indolent und egoistisch, kleingeistig und dumpf, heuchlerisch und verlogen, manchmal auch brutal, aber es gibt keine Schurken und Unholde. Und es gibt keine strahlend positiven Figuren – Almas aggressive Sturheit, ihren abgöttische geliebten Hal zu verteidigen, selbst wenn er ein Mörder sein sollte, hat etwas unangenehm Vereinnahmendes, und auch Milo ist an manchen Stellen ein ziemlicher Feigling. Will sagen: Die Grautöne dominieren. Die wiederum aber resultieren nicht aus charakterlichen Defiziten, sondern sind Reaktionen auf Strukturen: Auf die zementierten Geschlechterrollen und überhaupt auf traditionelle „Werte“, deren wirtschaftliche Grundlagen allmählich zerbröseln. Die Landwirtschaft rentiert sich allmählich immer weniger, wer wirklich zu Geld kommen will, dealt heimlich mit Drogen, aller biedermännischen Oberflächen zum Trotz.
Die Geschichte vom verschwundenen Mädchen rückt angesichts dieser glänzend geschriebenen Sozialstudie plus Psychogramm in den Hintergrund. Insofern folgt „Dunkelzeit“ dem Trend, eine Kriminalgeschichte nur noch als Motivation für das Erzählen ganz anderer, möglicherweise spannenderer Geschichten zu funktionalisieren. Damit rückt „Genre“ immer mehr in den „Mainstream“, der sich dadurch natürlich auch verändert. „Dunkelzeit“ ist ein guter Kriminalroman, weil er ein guter Roman ist. Oder umgekehrt.
© 07/2023 Thomas Wörtche
Erin Flanagan: Dunkelzeit (Deer Season, 2021). Deutsch von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer. Atrium Verlag, . Zürich 2023. 362 Seiten, 25 Euro.