Geschrieben am 1. Juli 2019 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2019

Thomas Wörtche: Porträt J.W. Rider

Realitätsfiktion und Fiktionsrealität, genial vexiert

Heute wissen wir es längst: J. W. Rider war ein Pseudonym von Shane Stevens (1941 – 2007), dessen Alltime-Klassiker „By Reason of Insanity“ (dt: „Kill“) wir in der letzten CrimeMag-Ausgabe gewürdigt haben. Nicht minder originell,  innovativ und auch verstörend waren seine beiden Privatdetektiv-Romane „Jersey Tomatoes“ („Der Teufel hat viele Masken“) und „Hot Tickets“ (Der Teufel kennt kein Gesetz“) aus den Jahren 1986 resp. 1987. Damals war das Pseudonym noch geschlossen und bot Anlass zu schönsten Spekulationen. Thomas Wörtche hatte sich 1988 in zwei Essays mit J. W. Rider befasst, die wir Ihnen in der Originalfassung präsentieren. Deshalb sind auch die Überlegungen, wer sich denn hinter dem aka versteckt, nicht getilgt.

Zu JERSEY TOMATOES

Mit Malone, Vorname unbekannt, betritt ein neuer Privatdetektiv die Szene. Neue Privatdetektive gab es in den letzten Jahren zuhauf, aber bestimmt keinen wie Malone. Estlemans Amos Walker und Parkers Spenser gingen vielleicht als harte Brocken durch, und L.A. Morses Hunter bemüht sich verzweifelt, uns einen wirklich ausgekochten Burschen vorzumachen. Malone hingegen ist knallhart. Tückisch und gemein. Ich wollte mit ihm nichts zu tun haben. Spenser könnte ich ins Vier-Sterne-Restaurant einladen, Amos Walker die Adresse eines exquisiten Herrenausstatters geben, und Hunter, nun ja, für dessen Bedürfnisse wäre am leichtesten zu sorgen. Aber was sollte ich mit Malone machen?

Ihn interessiert nur Mord. Fälle, die keine Tötungsdelikte sind, übernimmt er schon gar nicht. Sein Privatleben beschränkt sich auf gelegentliche Treffen mit pensionierten Lehrern und abgefallenen Priestern und auf eine sporadische Beziehung zu einer Malerin, die ausschließlich (seriell) Werwölfe auf die Leinwand bringt. Am liebsten jedoch plaudert Malone mit seinem eigenen Doppelgänger. Der ist aus Gummi und sitzt auf Malones Schreibtischstuhl, die Jalousien sind geöffnet, das Licht ist an: eine makabre Einladung an Malones Feinde. Kulinarisch gesehen wirkt Malone eher befremdlich. Marmelade rührt er in seinen Kaffee, ansonsten scheint er Vegetarier zu sein, was allerdings kein überzeugender Grund ist, zum Frühstück grünlich vergammelten Käse zu essen. Kleider sind irgendwelche Sachen, die man gerade anhat, und als Auto tut’s das Modell von vor drei Jahren auch.

Malone, literarischer Jahrgang 1986, ist ein Schlag in die konsumgeile Yuppie-Kultur der frühen 80er. Und schon gar nicht ist er der gute, alte Schnüffler der 30er und 40er Jahre, der irgendwie bis heute überlebt hätte. Die Hammett- und Chandler-Nachfolger sind für Malone, was sie sind: populäre Mythen aus Literatur und Film mit Verhaltensweisen, die, ahmte man sie nach, einen schnurstracks unter die Erde bringen würden. Mit ihnen und den schicken Jungs aus Boston und Detroit mit ihren emanzipierten Freundinnen und ihren affengeilen Mäntelchen hat Malone überhaupt nichts zu schaffen. Schließlich hat er fettige Haut, zu große Füße und ungeschlachte Hände. Was wissen wir sonst noch über ihn? Deutsch-irischer Herkunft, ausgebildet an einem Jesuitenkolleg, rausgeflogen; Arbeit für das FBI, rausgeflogen; Zwischenspiel in Florida. Dort wird seine schwangere Frau auf offener Straße eher zufällig abgeschlachtet, die Täter sind entkommen. Eine Biographie in wenigen Zeilen also. Seitdem ist Malone Spezialist für Mord in New Jersey.

New Jersey

New Jersey ist wahrlich kein attraktiver Schauplatz. Kein bonbonbuntes Miami und kein Neon-Dschungel Manhattan, keine gespenstisch leere Bronx und nicht von abstrakter Kargheit. Über J.W. Riders New Jersey liegt ein fahles und ödes Licht, das ästhetisch nichts hergibt. Eine Filmkulisse höchsten für einen Industriereport: verrostende Hafenanlagen, Brachland und vor sich hin rottende Ölbohrtürme. Eine Müllhalde für Unrat und Menschen. Riders New Jersey fehlt jedes Styling, es ist eine Zivilisationslandschaft pur. Drüben über dem Fluss glitzert und leuchtet der Big Apple, vor dessen gigantischer Silhouette sich die Figuren in Riders Drama winzig ausnehmen, wenn sie am Ufer auf und ab irren. New York ist aus dieser Perspektive Dekor, New Jersey ist ein wichtiger Teil der Handlung. Denn die Landschaft, so heruntergekommen und abgewirtschaftet sie sein mag, hat einen wichtigen Vorzug. An  und mit ihr lässt sich nämlich Geld, viel Geld verdienen. Die Möglichkeiten der Grundstücksspekulation werden uns von Rider mit klarem, analytischen  Blick vorgeführt. Ganz nebenbei liefert er ein kleines Vademecum für Leute, die hinter die Spielregeln der Kommunalpolitik schauen wollen. Der Mob, die Stadtverwaltung, die großen Immobilienhändler und die Industrie balgen sich mit Zähnen und Klauen um jeden Quadratmeter Land. Dass die Mittel dabei nicht die feinsten sind, wissen wir alle. Wie die Details aussehen können, das exerziert uns Rider vor. »Das ist Politik, klar wie Salzsäure«, stellt Malone fest, als er von der Stadtverwaltung mehr oder weniger deutlich den Auftrag bekommt, den Immobilienhändler Jarrett zu beseitigen, wobei ein solcher Wunsch freilich nicht ausgesprochen wird.

»Jersey Tomatoes« ist einer der wenigen Romane, bei denen Handlung und Schauplatz wirklich voneinander abhängen. Der Plot funktioniert nur unter den gegebenen geopolitischen Umständen. Denn es ist das Gefälle zwischen dem aus allen Nähten platzenden New York mit seinen wahnsinnigen Grund- und Mietpreisen und dem lange vor sich hinschlummernden New Jersey, das so plötzlich interessant und brisant wird. »Jersey Tomatoes«, daran kann es keinen Zweifel geben, ist auch ein politischer Roman. Er ist eine hellsichtige und illusionslose Beschreibung der Gründe, die das Leben in den großen Städten so unerquicklich macht, und er benennt auch klar die Verursacher der Malaise.

Standard und Variation

Gegen diese Zustände nun zieht Malone aus. Nicht weil er besonders scharf drauf wäre oder ein sozialkritisches Anliegen hätte, sondern weil ihn Cooper Jarrett engagiert hat. Cooper Jarrett ist Immobilienhai und hat trübe Geschäftsinteressen, genauso wie seine Ex-Frau Laura, die womöglich noch fiesere Vorstellungen von Big Business hat. Sie macht nur den großen und für sie bedauerlichen Fehler, Malone als Flankenschutz für Aktivitäten zu missbrauchen. Und erst recht hätte sie darauf verzichten sollen, ihm zu diesem Zwecke deutliche Avancen zu machen. Denn Malone ist wirklich bösartig. Da nützt es ihr auch nichts, dass sie ihn stark an seine ermordete Frau erinnert. Weil Cooper Jarrett in seiner Gier nicht den Hals vollkriegen kann, lässt er die Mutter von Charisma Kelly, einer anderen Klientin von Malone, liquidieren (für Jarrett eine normale Geschäftspraktik). Schon allein das allerdings hätte ausgereicht, um auf Malones Abschussliste ganz oben zu landen. Was am Anfang zwei verschiedene Fälle zu sein scheint, ist letztlich nur einer.

Dieser Plot, obwohl äußerst geschickt konstruiert und jederzeit plausibel, ist für einen guten Privatdetektivroman nichts Besonderes, schon hundertmal dagewesen. Aber das Faszinierende an Kriminalromanen ist ja, was man aus einer Standardsituation alles machen kann. J.W. Rider macht daraus eine ganze Menge.

Religion

»Jersey Tomatoes« ist ein Roman, der die Verhältnisse und die Atmosphäre der ausgehenden 80er Jahre präzise einfängt. Abseits ideologischer Schönfärberei müssen Prognose und Befund düster sein. Die amerikanische Gesellschaft hat am Ende der Reagan-Ära abgewirtschaftet: finanziell (Milliardendefizite im 

Haushalt, der Dollar tief im Keller), sozial (sehr Reiche und sehr Arme) und moralisch. In Riders Buch ist viel von Religion die Rede, vom Bösen, von Teufeln und Engeln, von Sünde und Gewissen. Fast scheint es, als ob Rider Malone zum Gralsritter stilisierte, zu einem, der es mit dem Bösen aufzunehmen in der Lage ist; der auszieht, den Mühseligen und Beladenen beizustehen in ihrem Kampf gegen die Schlechtigkeit der Welt. Renegaten sind die Schlimmsten, und ein oberflächlicher Leser könnte in dem verkrachten Jesuiten Malone vielleicht wirklich den alttestamentarischen Rächer erblicken, der – Auge um Auge, Zahn und Zahn – es den Teufeln heimzahlt. Der Katholizismus gäbe in dieser Lesart die moralische und ethische Rechtfertigung dafür, dass Malone seine Widersacher seelenruhig abknallen darf. Nicht mit heißem Herzen, wie noch Mike Hammer, sondern kalkuliert, bewusst und eiskalt. Die Religion als »licence to kill«, das wäre blasphemisch und monströs; aber es wäre, so wie die Dinge liegen, durchaus denkbar.

Was aber hieße das? Eine moralische Orientierung, die sich auf religiöse Werte gründet (alttestamentarisch hin oder her), hätte in einem christlichen Amerika eine viel größere Verbindlichkeit als die individuelle Moral der diversen Privatdetektive, die mit Recht und Gesetz seit Spade und Marlowe nicht mehr übereinzustimmen braucht. Malone wäre der auserwählte Richter, der in höherem Auftrag vernichten darf, was er als das »Böse« betrachten darf, was er als das »Böse« betrachtet. Gegen diese abwegige Moral wäre von manchem etwas einzuwenden, der sich nicht seinerseits dem Verdacht der Gottlosigkeit aussetzen wollte. »Jersey Tomatoes« wäre, könnte das bisher Gesagte so stehen bleiben, ein schlimmes, ein reaktionäres Buch. Aber es wäre nicht nur gefährlich und dumm, sondern auch falsch, denn der Erlösungsgedanke, ohne den das bornierteste Christentum nun mal nicht funktioniert, taucht an keiner Stelle auf. Man müsste den Text schon partout missverstehen wollen, legte man Rider in diesem Sinne aus.

Man müsste die vielfältigen Brechungen und Ambivalenzen böswillig überlesen, um das Buch nicht als literarischen Entwurf zu verstehen, sondern als juristisch-ethische Handlungsanweisung. Behauptet denn irgendjemand, Malone sei ein sympathischer Zeitgenosse? Er ist nun einmal kein Mike Hammer für Intellektuelle, mit dem man sich irgendwie identifizieren könnte. Darin liegt die wirklich bittere und grandiose Ironie des Buches. Dass die Religion, die Malone immer so flugs im Munde führt, schon längst auf das Niveau einer Speisekarte gesunken ist, weiß auch er. Malone kann sein Rächeramt genauso heilig nehmen, wie er darüber redet: als Captain America, als Lone Ranger fühlt er sich, als Held der billigsten und trivialsten Sorte, Friedhöfe sind nicht, nähme Malone seine Maskerade ernst, transzendente Stätten geweihter Erde, sondern Entsorgungsstationen für Menschenmüll. Wenn er seine Mitmenschen nur in »abgestuften Schwarztönen« sieht, dann heißt das auch, dass es »Gut« und »Böse« nicht gibt. Genauso wenig akzeptiert Malone Kernsätze, Weisheiten oder feststehende Tatsachen. Als Orientierungspunkte, wie man es drehen und wenden mag, taugen diese Klassifikationen gar nicht: »Ich habe immer schon Frauen gemocht, die mit beiden Beinen auf dem Boden standen. Manchmal.«

Polyvalenz

Malone, und mit ihm Rider, ist nicht festzulegen. Alles ist aus den Fugen geraten. Deswegen ist »Jersey Tomatoes« eine düstere Anatomie der Jetztzeit. Zum Doomsday-Roman braucht es keinen Nuklearschlag. Längst sind alle menschlichen Verbindungen atomisiert. Und das ist auch der Grund, warum die Religion ins Spiel kommt. Buchstäblich ins Spiel. Recht und Gesetz sind erbaulich für Sonntagsreden, soziologische Erklärungsraster greifen nicht mehr. Cooper Jarrett und seine Mordbuben sind keine Opfer der Verhältnisse, sondern Exekutoren wildgewordener Reaganomics. Die Religion als letzter, bisher unangetasteter Sinnstifter wird bei Rider genauso erbarmungs- und alternativlos demontiert, wie es andere sinnstiftende Systeme schon lange sind. Nicht umsonst betreibt Charisma Kelly ein Institut, das Religionssüchtige zu therapieren versucht wie jeden x-beliebigen Junkie. In Malones Augen nicht unbedingt ein frevelhaftes Unterfangen.

Innovativ freilich ist, dass dieses Thema im Zuge eines Detektivromans abgehandelt wird, ohne störend oder aufgesetzt zu wirken. Zwar spielt auch bei Joseph Wambaugh der Katholizismus eine große Rolle (etwa in »The Black Marble« oder in »The Secrets of Harry Bright«), aber bei ihm geht es um private Rettungsversuche von aus dem Gleis geratenen Polizisten. Bei Rider hingegen wird die Untauglichkeit der Religion als Gesellschaftstheorie demonstriert. Bei den vielfältigen religiösen Erneuerungsbewegungen in den USA nicht gerade eine Belanglosigkeit.

Die bösartigste Volte von Rider steht indes noch aus. So wie die Kirche sich zu kommerziellen Zwecken nicht entblödet, blutiges Roastbeef »Leib und Blut« und ein dickes Filet »Bibel« zu nennen und damit ihre Inhalte gnadenlos funktionalisiert, so wird auch der knorrige und ach so unabhängige Privatdetektiv Malone funktionalisiert. Denn bei seinen Hinrichtungen und Strafaktionen führt ihm die offizielle Staatsgewalt die Kanone. Ein Kommunalpolitiker macht ihm klipp und klar, dass viel Ärger vermieden werden könnte, wenn Jarrett und Henry Stiles still weggeschafft würden. Gegen Laura Jarrett können keine Beweise erbracht werden, dass sie ihre Eltern ermorden ließ – Malone wird’s schon richten. Und ein schwules Killerpärchen hat er erlegt. Die Cops sind tief erschüttert. Malone handelt mit Billigung und im Sinne faktischer Mächte, wobei man kaum sagen könnte, dass deren Motive ehrenhaft wären. Selten war ein Privatdetektiv so wenig privat wie Malone, und selten machte sich einer so viel vor. »Ich liebe Amerika«, lautet die hämische Pointe von Riders in der Tat ausweglosem Buch.

Literatur

Dies alles wäre von pathetischer Schwarzmalerei und existentialistischem Gram ungenießbar versetzt, wenn Rider nicht weitere Brechungen eingebaut hätte. Denn wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass »Jersey Tomatoes« kein Traktat ist, sondern ein Roman, ein Stück Literatur von beachtlicher künstlerischer Qualität. Denn zwischen einem Roman und der Realität, die er abzuschildern vorgibt, liegt ein Vermittlungsprinzip. J.W. Rider ist alles andere als ein naiver Autor. Andauernd macht er im Roman deutlich, dass es sich um Literatur handelt, die nicht nur auf die Wirklichkeit zielt, sondern auch auf Literatur bezogen ist. Zu der Galerie der Bezüge gehören Henry Fielding, Henry James, Oscar Wilde und Shakespeare. Auf Brueghel wird ebenso beiläufig angespielt wie auf Balthus. Das alles dient natürlich nicht dazu, nachzuweisen, was für ein belesenes Kerlchen unser Autor (schlimmer wäre noch: Malone) doch ist, und es dient erst recht nicht dazu, den gewalttätigen Stoff für den Leser mit solider Halbbildung aufzumotzen. Literatur, so macht Rider immer wieder klar, ist kein schlichtes Duplikat »der Wirklichkeit«, sondern stellt sich ihre eigene Lesart von Wirklichkeit immer erst her. Sie tut das freilich nicht voraussetzungslos, sondern weiß um ihre eigene Tradition. Und wer gäbe einen besseren Bezugspunkt zu den Themen Verbrechen, Sexualität und Macht ab, als Fielding, Wilde oder Shakespeare? Literatur, die sich auf die realen Verhältnisse ihrer Zeit einlässt, darf nicht zimperlich verfahren. Das 18. Jahrhundert Fieldings ist genauso wenig idyllisch, wie die Renaissance Shakespeares sich in seinen Königsdramen abspiegelt. Literatur war schon immer ein probates Mittel, sich den jeweiligen Realitäten anzunähern und über sie zu reflektieren. Genau das tut J.W. Rider. Seine Reflexionen über seine Zeit fallen nicht sonderlich heiter aus. Das jedoch braucht nun wirklich nicht an Riders Naturell zu liegen.

Wer aber ist dieser J.W. Rider? Der amerikanische Verlag behauptet, es handle sich um einen bekannten Schriftsteller, der Agent schweigt sich aus. Man kennt das Spiel, einem Newcomer mit eifersüchtig verborgener Identität einen verkaufsträchtigen Anstrich des Geheimnisvollen zu verpassen. In diesem Fall allerdings bin ich geneigt, dem Verlag zu glauben. Wenn ich denn spekulieren sollte, würde ich sagen: der Mann lebt in New Jersey oder Umgebung, und er arbeitet viel für Film und Fernsehen. Denn ein großer Vorzug des Buches sind seine Dialoge. Sie sind über weite Strecken zum Brüllen komisch, auf eine ganz und gar unterkühlte Weise. Dieser staubtrockene Witz ist das Ergebnis einer großen technischen Könnerschaft. Die Kunstgriffe sind trefflich eingesetzt und sparsam dosiert: Vor- und Rückblenden, Double Talking, synchrone Dialoge, ein Minimum an Erklärungen für den Leser, der zum Mitdenken angehalten ist. Die Exposition steht mit wenigen Strichen, die Handlung ist klar entwickelt, mögliche Reste bleiben nicht stehen, und Spannung ist jederzeit vorhanden. Die Arbeit eines Profis also. Ich muss gestehen, dass ich kurz an John Barth denken musste, was ich aber wieder verworfen habe, denn dazu geht Rider zu ökonomisch mit seinem Stoff um. Eines aber ist gewiss: Gore Vidal ist es nicht schon wieder (oder, wer weiß?). Belassen wir also dem Autor seine Anonymität und freuen uns auf sein nächstes Buch.

Übrigens: Jersey Tomatoes sind nicht nur Gemüse, wie es Malone zu »lutschen« pflegt, sondern allerliebste sensible Dynamitladungen.

Zu: HOT TICKETS

Was über Malone als neuen Private Eye auf der Szene zu sagen wäre, ist im Nachwort zu »Jersey Tomatoes« schon hinlänglich gesagt, es gilt weitgehend auch für »Hot Tickets«. Mit kleineren Verschärfungen. In »Jersey Tomatoes« erledigte Malone Ganoven ganz im Sinne einer eher pragmatischen Rechtsauffassung der Polizei und gemäß der Interessenlage der städtischen Behörden; in »Hot Tickets« lässt sogar der Mob gratulieren, weil Malone ihm einen unbequem und ineffizient gewordenen freien Mitarbeiter vom Hals geschafft hat. Malone propagiert zwar immer noch eifrig sein Credo von der Gerechtigkeit, die sich über die Legalität hinwegsetzten müsse, und sein Polizisten-Freund Bernie erkennt richtig, dass es Malone letztendlich nur um abstrakte Rache für seine, von unbekannt gebliebenen Tätern ermordete Frau geht. Das ist aber Zuckerguss und Ornament.

Genauso wie die Vorstellung Zuckerguss und Ornament ist, dass Malone den armen und verwirrten Tanzlehrer Tito, der sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Privatdetektiv zu werden und dadurch am amerikanischen Traum teil zu haben, nicht manipuliert und dass besagter Tito den Mob-Anwalt Miles Hardy aus eigenem Antrieb mit dem Eispickel ins Jenseits befördert habe. Aber was liegt dann unter dem Zuckerguss? Death Wish – ein Mann sieht Rot? Berufsmäßig?

Klischees?

Sehen wir uns also »Hot Tickets« mal als Stück Literatur an, als Kriminalroman zum Beispiel, als hard-boiled-private-eye-novel.

Wenn wir nicht zu den schlichtesten Gemütern der Lesewelt gehören, wird uns dieser Aspekt zunächst aufjaulen lassen. In »Hot Tickets« sind die Klischees an die Schmerzgrenze getrieben. Der einsame PI und seine Sekretärin, die guten, bösen, harten Bullen, die Ränke der Federales, die verlogene, reizende, süße Klientin – immer noch Chandlers »Lady Macbeth vom Lande« -, der schmierige Anwalt, der widerliche Killer, die Frau mit den großen Titten und dem großen Herz, der Klient, der den Detektiv zur Absicherung seiner eigenen Schweinereien braucht, die zwei verschiedenen Fälle, die dann doch zusammenhängen. Wie gesagt, es tut schon fast weh.

Tribute an den literarischen Zeitgeist: Brutalität, die Bizarrheiten der Figuren, die Exotik des Dekors, der Zynismus in der Einschätzung des Lebens in der Big City, Scherz und Frohsinn in Pathologie und Labor. Nimmt man all das, innerhalb eng gesteckter Genregrenzen, gibt noch etwas Lokalkolorit und Durchblick durch Machtmechanismen hinzu, plus ein paar kompetent klingende Einsichten in das Catch-Geschäft, so hat man immerhin einen sehr konventionellen, wenn auch hervorragenden Kriminalroman. Was eigentlich schon genügen würde. Aber Bescheidenheit ist nicht überall am Platz.

Betrachten wir also »Hot Tickets« aus einem allgemeineren Blickwinkel, betrachten wir das Buch, ohne wenn und aber, einfach als Literatur.

Da schildert uns einer die frustrierende Mechanik eines Arbeitsalltags: »I put it (die Pistole) on the night table and took off the rig and got to bed and went to sleep for an hour and got up and put on the rig and dropped in the gun and went to work.« Oder, einhundert Seiten später: »I’d gone home and gone to bed and got up and gone to work and sin was all around.«

Man lese das laut und entschuldige, dass ich hier das Original zitiere und nicht die vorzügliche Übersetzung von Jürgen Bürger, der herausgeholt hat, was herauszuholen war. Aber manchmal ist die deutsche Sprache eben hilflos.

Denn in ihrer kompakten Rhythmisierung hat Rider mit solchen Passagen (weiß Gott nicht die einzigen) eine sprachliche Ausdrucksform gefunden, die weit mehr sagt, als das, was sie berichtet. Das, unter anderem, macht die Qualität des Buches aus, und wer hier einen abgehobenen Feingeist am Werk vermutet, der soll bedenken, dass sein geliebtes Genre »Kriminalroman« heißt und nicht »Verbrechensreportage«.

Anyway, wer es fertigbringt, das ach so romantische Leben des PI (ein Bild, an dem Malone ansonsten fleißig bastelt) mit der eben zitierten Wortreihung derart ent-romantisierend auf die Gleichförmigkeit eines beliebigen Jobs zu reduzieren, dem darf man nichts abnehmen, was er auf der Ebene des Plots uns erzählen will. Denn Rider stellt durchgängig das »Was« gegen das »Wie« und das »Wie« gegen das »Was«. Nicht umsonst ist seine stilistische Lieblingsfigur die demontierte Sentenz. Wobei die Sentenz ja das ist, was einem selbst bei Chandler, und erst recht bei seinen vielen schwächeren Adepten, bisweilen auf den Keks gehen kann. Alle Frauen sind so, die meisten, einige, diese. Das bleibt übrig vom Menschenbild des Menschenkenners Malone. Alle diese Sachen laufen so, manche, einige, diese eine jedenfalls. Das ist der Grad der Verbindlichkeit, die die Welt in Malones und in Riders und in unseren Augen zu haben hat. Nichts ist, wie es scheint, und was nur so scheint, ist doch so. Riders Paradoxe scheinen nur die Aufgabe zu haben, Klischees aufzubrechen und zu dementieren; als hämische Pointe bestätigen sie manchmal, nicht immer – schon wieder! – das Klischee in fürchterlicher Weise. Was haben wir nun davon zu halten?

Fiktionen

Ist nun Malone tatsächlich davon überzeugt, dass die Welt eine Arena von Gut und Böse ist, dass die menschlichen Triebfedern Habgier und Hass, Sex und Gewalt Teufelswerk sind, oder sind seine entsprechenden Sprüche nur eine ätzende Kommentierung des religiösen Erneuerungswahns, der die USA seit einiger Zeit heimsucht? Weiß Malone tatsächlich nicht, dass er die Drecksarbeit anderer Leute erledigt, und glaubt er wirklich an den verschrobenen und anachronistischen Ehrenkodex des PI, wobei er doch jederzeit merkt, dass das alles nur schöne Vorstellungen aus Hollywood sind? Weiß Rider – sicher weiß er das und sagt es andauernd -, dass er eine hard-boiled-novel geschrieben hat, nach Gesetzen, die eindeutig – auch das weiß Rider – Gesetze der Literatur sind? So, als riefe uns Malone andauernd zu: he, Leute, ich bin nur Fiction, verwechselt mich nicht mit der Wirklichkeit! Der ausgeflippte Mexicano Tito hat es verwechselt, allerdings im Roman, in der Fiktion. Was soll also das wieder?

Man könnte fast meinen, Riders Bücher hätten das zum Thema, was Kulturkritikern jeder Couleur so sehr am Herzen liegt. Die These nämlich, dass Realität und Fiktion in unserer durch und durch medienbestimmten Gesellschaft gar nicht mehr grundsätzlich unterscheidbar seien. Dann allerdings sollte man schleunigst darüber nachdenken, warum diese, eigentlich kommunikationswissenschaftliche, These plötzlich Thema des gescholtenen Objekts, nämlich der Fiktion werden kann.

Es wird alles immer komplizierter, die logischen Relationen beginnen sich zu verwirren. Aber eines ist klar, »Hot Tickets« kann als einfache, gradlinige Crime-Story nicht durchgehen. Dazu lässt Rider seinen Malone zu viel denken, zu viele Dinge machen, die mit der Geschichte nichts zu tun haben, übrigens auch nicht mit der Charakterisierung des Helden, die ja nur insoweit interessant sein kann, inwieweit sie wiederum mit der Story zusammenhängt. Wieso also, zum Beispiel, Marilyn?

Marilyn ist nicht nur Malones Freundin, eine Malerin, die ausschließlich Wölfe als Sujet hat, Marilyn ist auch seine Dialogpartnerin für völlig abstruse Gespräche: „»Ich habe einen Waschbären gemalt«, sagte sie später. »Du erweiterst Dein Betätigungsfeld«, sagte ich. Sie sagte: »Das erste Mal.« Dafür küsste ich sie. »Und das letzte Mal.« »Meins auch.« »Wir beide.« Jede Minute war ein Tag, und die Tage waren Sommer. »Der Waschbär brachte den Müll raus«, sagte Marilyn in meinen Armen. »Er sieht dir ziemlich ähnlich.«

»Findet wahrscheinlich den Mülleimer nicht.« »Es gibt keinen Mülleimer«, sagte sie. »Es ist im Wald, und alles ist tot.« »Wieso tot?« »Weil er allein ist.« »Er ist allein«, sagte ich, weil er dich nicht hat.«“

Hüten wir uns vor den Höhenflügen der Interpretation. »Hot Tickets« ist durchsetzt mit solchen und ähnlichen Dialogen, die Malone mal mit Marilyn, mal mit sich selbst, mal mit seinem Dummy (dem er inzwischen eine Freundin gekauft hat) und mal mit seinem Spiegelbild führt, das aussieht wie Dorian Gray (wobei unklar bleibt, ob Dorian Gray auf dem Bild oder in natura).

Man kann darin die Spiegelung und symbolische Überhöhung der Handlung im Bewusstsein des PI erblicken und wäre auf dem Holzweg. Man kann auch eine Kommentierung der Ereignisse durch Malone darin sehen, und wenn es so wäre, was sollte es? Man kann sich ebenfalls ernsthaft Gedanken darüber machen, was es wohl bedeutet, dass Malone den Fledermäusen, die er angeblich als Haustiere hält, immer Tüten voll Ungeziefer mitbringt. Man kann schließlich auf alles hereinfallen und grübeln, ob es das »Biblebelt«, jenes abwegige Disneyland mit Szenen aus der Bibel und geschwätzigen Robotern, wirklich so gibt, wie Rider es schildert.

Entscheidend ist aber, dass Rider die pure Kriminalhandlung seines Buches mit solchen surrealen Einschüben unterfüttert und eine Atmosphäre des Unwirklichen, des Polyvalenten, Vieldeutigen schafft. Wozu das andauernde Gerede über Gut und Böse, über Heilige und Sünder und über Riders großes Thema, den Teufel, erheblich beiträgt, denn nichts ist irritierender in einer Welt urbaner Zivilisation als religiöse Spekulation und Spiritualität. In Riders Perspektive jedoch haben die Dinge immer zwei Seiten, aber gerade nicht eine böse und eine gute, sondern eine reale und eine, die sich anscheinend nur Malone erschließt.

Irritationen

»Irgendwie war alles meine Schuld, der Verstoß gegen irgendein universales Gesetz. Aber gegen welches? Es gab so viele! Alle, schrie mein schlechtes Gewissen. Ich griff nach dem Vaterunser, es hatte sechsundfünfzig Worte, und mir fiel kein einziges ein. Sofern es nicht mit einem Namen begann – all das ging mir durch den Kopf.« Ich hoffe, dass niemand auf die Idee kommt, es könnte sich ernsthafterweise um metaphysische Spekulation handeln. Eher um eine Parodie darauf, aber auch das befriedigt nicht.

»Keiner war mehr sicher. In Afrika verkauften sie Zebra-Dung, damit man gestreiftes Gemüse ziehen konnte. Alles verwandelte sich in Scheiße.« Drei hintereinander angeordnete, kurze Sätze. Was haben sie logisch miteinander zu tun? Nichts. Bleiben sie im Bild, sind sie also Metaphern, verkürzte Vergleiche?

Wenn ja, für was? Sie sind nichts als Irritationen, Brechungen. Index dafür, dass die Welt nach normalen Maßstäben clever agieren kann. He always gets his man. Wie man’s auch dreht und wendet, eine glatte Auflösung gibt es dafür nicht.

Noch ein Versuch, Riders irritierende, surreale und ambivalentisierende Passagen sind ironische Attacken auf den bleichen Ernst des Mythos »Private Eye«. Der PE redet knapp und klar, lakonisch und präzise, er bringt die Dinge auf den Punkt und ist unglaublich cool – wodurch er auch leicht erstarrt und lächerlich wird, vor allem, wenn er nur noch mit Worthülsen um sich wirft, knallhart, aber gähnend leer. Das alles tut Malone auch, aber er bringt viele Dinge auf viele Punkte, und davon überzeugen viele nicht. Ganz besonders dann nicht, wenn er mal wieder den Teufel am Werk sieht und nicht einfach Geld, Machtgier oder sonstwas. Malone rastert sich seine Welt, und im Raster wird manches sichtbar, mit dem weggefallenen Rest beschäftigt sich seine Phantasie.

Komik

Natürlich sind die meisten der merkwürdigen Dialoge komisch, aber es ist eine Komik, die einen starken Zug ins Absurde hat. Man brüllt nicht vor Lachen, sondern man wundert sich. Und Staunen und Wundern lässt viele Dinge in einem anderen Licht erscheinen. Akademisch ausgedrückt: es schafft Freiräume für Erkenntnisprozesse, und wer sich in solche hochtrabenden Exegesen verheddert, ist schon wieder reingefallen.

Es ist nämlich noch lange nicht ausgeschlossen, dass Rider seine Leser ungeheuer verarscht. Vielleicht sind seine Exkurse über Himmel und Hölle nichts anderes als ein gigantischer Nebelwerfer, eine selbstverordnete Simplifikation der irdischen Zustände, um überhaupt in und mit ihnen leben zu können, und jede Hoffnung verloren hat, und sich, freilich auf höchstem Niveau, durchs Leben blödelt.

Ich will jetzt nicht über das »Offene Kunstwerk« ins Schwärmen geraten, das es jedem Leser erlaubt, unbegrenzt eigene Interpretationen und Sinn eben darin zu entdecken. Aber so viel ist schon klar: Rider gibt dem Kriminalroman durch seine sehr merkwürdige und eigenwillige Figur Malone eine, d. h. mehrere zusätzliche Dimensionen, die sich nicht in dem üblichen Interpretationsmuster von Kriminalfall und soziologischer Symptomatik bewegen, obwohl natürlich auch das bei »Hot Tickets« mit drin steckt. Rider-Malone-Bücher eröffnen der hard-boiled-novel Möglichkeiten (ohne dass darunter die hard-boiled-novel als solche zu kurz käme oder nur zu ganz anderen Zwecken gebraucht würde), indem sie ihre Struktur komplexer machen. Das Skelett schimmert durch, aber die Erweiterungen werden nicht nur auf dem Gebiet der Personen und Handlungen gemacht, die Erweiterungen spielen sich im sprachlichen Raum ab, wobei die Stilisierungen der klassischen hard-boiled-novel deutlich sichtbar gemacht und bisweilen ins Lächerliche hochgezogen werden. Rider macht die hard-boiled-novel literaturfähig, aber weil er sie als Genre intakt lässt (niemand kann sich beschweren, dass »Hot Tickets« kein hervorragender Kriminalroman ist), liefert er ein subkulturelles Schema nicht einem offiziellen Kulturbegriff aus. Einem Begriff von Literatur, der all das domestizieren will, was Subkultur ausmacht, und die Texte in den Pantheon des Guten, Wahren und Schönen aufsaugen will.

»Hot Tickets« ist ein schmutziger Krimi mit Erweiterungen, aber er bleibt ein schmutziger Krimi. Dieser gelungene Drahtseilakt ist Riders große Leistung. 

Über die Person J.W. Rider wissen wir immer noch nichts, über sein Denken inzwischen eine ganze Menge.

Thomas Wörtche © 1988

Diese beiden Texte, ursprünglich Nachworte zu den deutschen Ausgaben in Bastei-Lübbes „Schwarzer Serie“ aus dem Jahr 1988, sind nur milde redigiert. Vielen herzlichen Dank an Claudia Denker, die sie aufbereitet und transkribiert hat.

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