Geschrieben am 20. Oktober 2012 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Thierry Cazon & Julien Dupré: Der seltsame Fall des Dr. Greene und Mister Chase – Teil 1

James Hadley Chase

James Hadley Chase

– Wer steckt hinter James Hadley Chase? Kein Geringerer als Graham Greene. Das sagen zumindest Les Polarophiles Tranquilles, ein französischer Verein, der sich seit zehn Jahren ambitioniert des Kriminalromans annimmt. Des klassischen Kriminalromans wohlgemerkt, der als Schmuddelgenre früher von der Literaturkritik mit spitzen Fingern angefasst oder gleich hochnäsig übersehen wurde und der heute trotz der Krimi-Woge, die uns überschwemmt, im aufgeregten Geplapper der Krimi-Neuerscheinungen erneut vergessen wird.

Zu Unrecht, wie die Polarophiles Tranquilles meinen, und die daher Werke fast vergessener Autoren aus dem Bücherregal ziehen, abstauben und sie für einen Moment ins Scheinwerferlicht halten: Zweimal im Jahr erscheint ein kostenloses Bulletin, unabhängig und ohne kommerzielle Interessen, nur gewidmet den geliebten Klassikern wie etwa James Hadley Chase, Frédéric Dard, Georges Simenon, Stanislas-André Steeman oder Dolores Hitchens.

Manchmal stoßen Sie bei ihrer gründlichen Beschäftigung mit der Kriminalliteratur auf Überraschungen:

Decken Sie hier den größten literarischen Schwindel des 20. Jahrhunderts auf, der ungeachtet der Tatsachen, bislang von der literarischen Kritik negiert wird. Der stets Nobelpreisverdächtige Graham Greene soll die grausam-schmuddeligen Chases geschrieben haben? Das, was die friedlichen Polarophilen im Laufe der Jahre ausgegraben haben, stört langsam ganz gewaltig den Frieden der etablierten Literaturwelt.

Der seltsame Fall des Dr. Greene und Mister Chase

Von Thierry Cazon und Julien Dupré
Übersetzung: Christiane Dreher

[Ort der Szene ist Vevey in der Schweiz an einem kleinen Tisch auf der Terrasse eines Cafés.]

Graham Greene, Autor von „Der dritte Mann“, „Die Kraft und die Herrlichkeit“, „Das Attentat“ und anderer Schätze des modernen englischen Romans, nippt an seinem Brandy, während er friedlich seine blauen Augen über den Genfer See schweifen lässt. So könnte das Paradies auf Erden aussehen, aber Greene ist leicht irritiert, denn der Brandy hat nicht den gleichen Geschmack wie der, den er in seiner Jugend in Berkhamstad trank. Diese Schweiz nimmt eindeutig allem die Kraft: dem Alkohol, dem Essen, selbst dem Talent junger Schriftsteller, die sich hierher geflüchtet haben. Seine Gedanken werden unterbrochen durch die Ankunft eines anderen Schriftstellers, James Hadley Chase, hinlänglich bekannter Autor außerordentlich beliebter und ebenso viel verkaufter Kriminalromane, die hier nicht mehr vorgestellt werden müssen. Chase setzt sich seinem Schriftstellerkollegen gegenüber und kaut nervös an seinem Schnurrbart.

 

Greene: Mein lieber James, Sie wollten mich so schnell wie möglich treffen, ich vermute, Sie haben mir etwas Wichtiges zu sagen, also lassen Sie uns nicht lange drum herumreden, schießen Sie los!

Chase: Graham, ich glaube, man hat uns entdeckt.

Greene: Wie das? Das müssen Sie mir erklären.

Chase: Verschiedene Veröffentlichungen, die ich kürzlich las, lassen mich stark vermuten, dass unser Geheimnis nicht mehr lange unentdeckt bleiben wird. Robert Deleuse zweifelt in seinem Essay mit dem expliziten Titel A la recherche de James Hadley Chase an, dass ich alle meine Bücher alleine verfasst haben könnte. Und das mit exakten Beispielen. Er stellt selbst die Hypothese auf, dass ich letztlich nur ein Strohmann für einen viel „berühmteren“ Schriftsteller sei.[1] In privaten Kreisen lässt Deleuse verlauten, dass Sie alle Romane von Chase geschrieben haben könnten. Alle – die 89 Romane und die Anthologie der Novellen Le fin mot de l’histoire.[2]

Greene: Gott sei Dank nur in privaten Kreisen.

Chase: Ja, ein bisschen „ freundschaftlicher“ Druck hat verhindert, dass er seine Entdeckungen auf, sagen wir mal, für uns gefährlichem Gebiet verbreitet hat.

Greene: Na, wenn dieser Deleuse sich zurückgezogen hat, dann gibt es doch keinen Grund zur Panik, oder?

Chase: Das ist ja nicht alles. Das zweite Bulletin der Polarophiles Tranquilles kommt auch zu dieser Hypothese: Es stützt sich vor allem auf einen Text von Thierry Maulnier, in dem dieser, viel hellsichtiger als der Durchschnitt seiner Kollegen der Academie Francaise, mich mit ihnen vergleicht.

Greene: In Bezug auf welches Buch?

Chase: Chambre noire / Cade. [3] Wörtlich sagt er: „Man könnte von einer Nähe zu Graham Greene sprechen.“

Greene: Er schmeichelt ihnen. Mit seiner unbeständigen Konstruktion und der ständig wechselnden Handlung, ist Chambre noire/Cade bei Weitem kein Erfolg. Aber soweit ich weiß, berührt diese „Nähe“ nicht unsere kleine Organisation, denn Maulnier begründet sie nur mit einem vagen literarischen Vergleich.

Chase: Wenn es nur das wäre …

Greene: Sie machen mich nun doch ganz nervös.

Chase: In einem kürzlich erschienenen Figaro nimmt Francois Rivière Sie als Thema in den berühmten Chroniques d’ Olivier Alban.[4] Er lässt sie am Ende eines fiktiven Interviews in Paris zugeben, dass sie Elles attigent/Satan in Satin verfasst haben. Sie werden mir sagen, dass die lange romanhafte Handlung dieses Textes die Wirkung einer solchen Entdeckung schmälert. Es hatte im Übrigen keine wie vom Autor erhofften Reaktionen zur Folge, aber es könnte die Aufmerksamkeit bei den Personen erwecken, die zwischen den Zeilen zu lesen verstehen. Obwohl ich bei der Veröffentlichung von Elles attigent/Satan in Satin acht gab und sie 1945 unter dem Pseudonym Ambrose Grant veröffentlichte, schon damit meine Leser nicht vom veränderten Ton überrascht waren.

Greene: Na, die Veränderung war vor allem geographisch, da es der erste Krimi ist, den Sie in England spielen ließen. Viele sagen, dass er einer ihrer besten ist. Ich schließe mich ihnen gerne an, denn bescheiden wie ich bin, widerstrebt es mir, mir selbst zu applaudieren.

Chase: Ich beneide Sie, dass Sie so darüber scherzen können. Denn aufgrund dieser drei Texte ist es möglich einen guten Teil der Bücher, die von Chase stammen, als ihre zu identifizieren, was meine Rolle auf einen schlichten Namensgeber reduziert. Es erstaunt mich, dass die Krimispezialisten, vor allem in Frankreich noch nicht die Ohren gespitzt haben. Denn schließlich sind wir nicht in einer kleinen Krimireihe eines zweifelhaften Verlages erschienen, sondern in der Serie Noire!

Greene: Ich würde sogar sagen, wir waren die treibende Kraft der Serie Noire! Glauben Sie, der gute alte Marcel Duhamel hätte, als er die Reihe 1945 gründete, sie mit den Klassikern des Kriminalromans, mit Dashiel Hammet, Raymond Chandler, James Mallahan Cain begonnen? Keinesfalls! Das waren Peter Cheney und Pas d’orchidées pour Miss Blandish/Keine Orchideen für Miss Blandish, die die Serie Noire begründeten. Die „English-Connection“ hat die amerikanischen “Hard-boiled”-Meister überholt. Die eher seltsame Persönlichkeit von James Hadley Chase hätte die französischen Krimispezialisten aufmerksam lassen werden können. Ein enormer Erfolg in Frankreich (so sehr, dass die französischen Ausgaben einiger Romane von Chase noch vor den englischen und amerikanischen erschienen sind[5]), und der Autor bleibt hartnäckig im Dunkeln: jeden Kritiker hätte das hellhörig machen können. Aber ich hatte dieses Schweigen beabsichtigt.

Chase: Sie sind ja sehr selbstsicher.

Greene: Vergessen Sie nicht, dass ich der Gründer unser kleinen Organisation bin. Ich habe alles genau berechnet und vorausgesehen, ich war nicht umsonst Geheimagent. Wissen Sie, die Spezialisten sind typisch französisch, sie bleiben ihrem kleinen Kreis unter sich, überzeugt davon, dass es wahre Krimi-Kenner und -Liebhaber nur innerhalb des Kreises geben kann. Die Texte, die sie mir weiter oben genannt haben, stammen aber nicht von dort. Die Personen, die diese Texte verfasst haben, befinden sich außerhalb des Kreises. Die Idee, dass es ein Chase-Greene-Zusammenarbeit geben könnte, kam ihnen nicht in den Sinn, und lieber leugnen sie deren Existenz, als zuzugeben, dass sie nicht die einzigen sind, die sich damit beschäftigen.

Fast könnte man sagen, dass sie die Autoren dieser Texte herabsetzen in dem sie ihnen verworrene Absichten unterstellen; sie werden sagen, dass die Beweise fehlen, dass sie Geheimnisse sehen, wo keine sind und dass ihr einzige Motivation sei, James Hadley Chase auffliegen zu lassen. Aber sehen Sie, wie das Schweigen uns nützt. Solange die Kritik sich nicht rührt, bleibt die Hypothese vertraulich; und die Leser werden niemals wissen, dass sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, am faszinierendsten „maskierten“ Autor des zwanzigsten Jahrhunderts noch vor Romain Gary und seinem Double Emile Ajar, vorbeigegangen sind.

Chase: Wenn man daran denkt, scheint diese Blindheit widersinnig. Denn nachdem ich endlich Erfolg mit meinen Büchern in Frankreich hatte, quoll Paris über vor Autoren, die unter verrückten amerikanischen Pseudonymen Krimis schrieben, um über die Runden zu kommen!

Greene: Alles Anfänger. Ich hatte schon lange vor ihnen begonnen, 1939. Und ich habe mich viel geschickter dabei angestellt, denn ich habe mir nicht nur ein Pseudonym sondern einen Strohmann genommen: Sie nämlich. Das haben alle die unbedeutenden Franzosen vernachlässigt, so dass es ein Kinderspiel war, die meisten von ihnen aufzudecken.

Chase: Das ganze Übel verdanken wir Boris Vian. Er war der erste, der zeigte, dass es möglich ist, Namen und Stil zu ändern, ohne dass die Kritik auch nur das Geringste merkt. Wenn dieser Dummkopf nur nicht so leichtsinnig das Geheimnis seines Pseudonyms Vernon Sulliver verraten hätte.[6] Und Et on tuera tous les affreux/Wir werden alle Fiesen killen und J’irai cracher sur vos tombes/Ich werde auf eure Gräber spucken würden heute von allen gelesen werden, ohne sie in irgendeiner Weise an Ecume des jours/Schaum der Tage anzunähern. Aber nein! Es musste diese Androhung eines Prozesses gegen den Verstoß gegen die öffentliche Moral geben; und Monsieur Vian, unfähig seinen Bluff durchzuhalten, ließ alle Masken fallen und hat damit, ohne es zu wissen, unsere eigenen Praktiken aufgedeckt. Wenn ich daran denke, dass er es in seinem Vorwort von J’irai cracher sur vos tombes (denn zu dem Zeitpunkt galt er nur als der Übersetzer und als Schreiber des Vorworts für Vernon Sulliver) gewagt hat, sich auf unsere Kosten zu profilieren, indem er Sullivan mit Henry Miller, James Mallahan Cain und James Hadley Chase verglich!

Greene: Sie sind zu hart. Monsier Vian hatte nur vergessen, dass es in so einem Fall zur Sicherheit Masken hinter den Masken geben muss. Erinnern Sie sich, als ich Sie als Raymond Marshall schreiben ließ. Diese Vorsichtsmaßnahme war uns von gutem Nutzen, als Le requiem des blondes als Plagiat angegriffen wurde. Aber genug davon. Ich glaube, das Beste was wir tun können, um auf solche Angriffe zu antworten, ist alle Elemente noch mal anzusehen, die unsere geheime Zusammenarbeit aufzeigen könnten: Wir werden bei der Prüfung sehen, ob sie widerstehen oder nicht.

Chase: Ich bin ganz Ohr.

Lesen Sie hier weiter und lernen Sie im 2.Teil das Universum von Chase und Greene kennen!

Thierry Cazon, beheimatet in Cannes an der Côte d’Azur, ist nicht nur leidenschaftlicher Krimi-Leser und -Sammler, sondern auch der Vorsitzende des Vereins Les Polarophiles Tranquilles. Auf der Homepage finden Sie sämtliche Veröffentlichungen des Vereins inklusive mancher Übersetzung (englisch, deutsch, italienisch … )


[1] Deleuse, Robert: A la poursuite de James Hadley Chase. Presse de la Renaissance, «Les Essais» 1992. Zu lesen etwa die Seiten 60 ff, wo Deleuse ein Phantombild des Mannes zeichnet, der sich hinter dem Namen Chase verbirgt, und … der Graham Greene zu 100 Prozent gleicht. [Dieser Essay existiert nicht in deutscher Sprache. Titel in etwa: Auf der Jagd nach James Hadley Chase; Anm. der Übersetzerin.]

[2] keine deutsche Übersetzung ermittelt, Anm. der Übersetzerin.

[3] Gibt es deutsche Ausgaben der in diesem Artikel erwähnten Literatur, so werden die Titel auf deutsch zusätzlich angegeben. Dort, wo nur der französische Titel steht, kann davon ausgegangen werden, dass es keine deutsche Ausgabe gibt. Anm. der Übersetzerin.

[4] Vgl. Le Figaro littéraire, 05.10.2006

[5] Dieses Prinzip wurde erstmals bei Pochette surprise 1957 begonnen. Es folgten beispielsweise Au son des fifrelins/Was ist besser als Geld (1959), Tirez la cheville /Rasthaus des Teufels (1961), Pas de vie sans fric (1972), En galère/Der Tod klopft an die Tür (1973), Ca ira mieux demain / [kein deutscher Titel ermittelt] (1983) … Die Liste ist nicht vollständig.

[6] Man kann hier ebenso den Fall Serge Arcouët/Terry Stewart erwähnen, oder Léo Malet/Frank Harding, André Héléna/Kathy Woodfield und Frédéric Dard/James Carter/Frédéric Valmain.

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