Statt den CulturMag-Acker zu bestellen, könnte ich Hoferbe im Allgäu sein. Mein Taufpate war ein Jugendfreund meines Vaters: Ignaz Kiechle, später Landwirtschaftsminister, und dabei trotz bäuerlicher Herkunft selbst Teil einer längst nicht mehr aufzuhaltenden globalen Maschine, die unsern Planeten mitzerstört – und viele, viele Existenzen verbogen, verändert, in andere Bahnen gelenkt und in nicht wenigen Fällen einfach vernichtet hat. Allmählich rückt das ins allgemeine Bewußtsein. Sachbuch des Jahres 2023 ist „Ein Hof und elf Geschister“ von Ewald Frie, der darin den Niedergang der Landwirtschaft im Münsterland beschreibt.
Bartholomäus Grill, ebenfalls agrarischer Herkunft, lange Jahre Afrika-Korrespondent und immer schon ein Meister klarer, anschaulicher Sprache, legt mit „Bauernsterben“ das bisher mit Abstand beste Buch zu diesem uns alle betreffenden Thema vor. Auch Stadt- oder Beamtenkindern hiermit ausdrücklich empfohlen. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages präsentieren wir Ihnen den Prolog des Buches.
Bartholomäus Grill: Bauernsterben. Wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört. Siedler Verlag, München 2023. 240 Seiten, 20 s/w Abbildungen, 24 Euro.

Prolog: Die Agrarkrieger
Ein unheimliches Geräusch durchdringt die frühherbstliche Stille, es hört sich an, als würde sich ein Schwertransporter nähern. Das Dröhnen wird lauter und lauter. Plötzlich taucht das Ungetüm hinter einer Bodenwelle auf: Ein Feldhäcksler, Marke John Deere 9900i, V12-Motor, 970 PS. Die Erntemaschine donnert an den Rand des Ackers, um Treibstoff nachzufüllen. Drei junge Männer bedienen mit flinken Handgriffen die Apparaturen am Tanklaster, sie tragen grün-gelbe Arbeitsanzüge, die Farben von John Deere. 1500 Liter Diesel rauschen durch den Schlauch. Die Szene wirkt wie ein Gefechtseinsatz, erinnert an amerikanische B-52-Langstreckenbomber, die in der Luft mit Treibstoff befüllt werden. Der Tank ist voll, der tonnenschwere Koloss walzt wieder hinaus auf den Acker. Attacke! Die Schneidwerke fressen sich hinein in das Heer der Maisstauden, der Körnerprozessor rauscht. Vom Ausleger, der aussieht wie ein Geschützrohr, wird der geschredderte Mais auf einen dreiachsigen Seitenkipper namens »Gigant« geschossen.
Die Männer in den grün-gelben Uniformen verfolgen das Geschehen vom Feldrain aus, sie fachsimpeln über ihren »Johnny«, diese Wundermaschine, die weit über eine halbe Million Euro kostet. Wie ich sie in ihren klobigen Sicherheitsschuhen so auf dem plattgewalzten Acker stehen sehe, kommt mir eine Erzählung von Vladimir Nabokov in den Sinn: »Sie dachte … an schöne wilde Pflanzen, die sich vor dem Bauern nicht verstecken können und hilflos zusehen müssen, wie sein Schatten, affenartig vornübergebeugt, verstümmelte Pflanzen in den Fußstapfen zurücklässt, da die ungeheuerliche Dunkelheit naht.«
Präziser kann man die Fühllosigkeit, ja Grobheit eines der Natur entfremdeten Primaten nicht beschreiben. Genau so kommen mir die Männer am Rande des Maisfelds vor: nicht wie Bauern, sondern wie Agrarsoldaten, Teilnehmer eines Krieges, der zu dieser Jahreszeit in ganz Deutschland tobt. Das Schlachtfeld ist 2,65 Millionen Hektar groß – die bundesweite Gesamtfläche, auf der Mais angebaut wird. Wir befinden uns im Frontabschnitt Oberpfalz, genauer: auf den Winzerer Höhen, hoch über dem Donautal vis-à-vis von Regensburg.
Keine zweihundert Meter entfernt stoße ich auf einen kleinen Flecken, der mit hohen Gräsern und Blumen in den herrlichsten Farben übersät ist. Hier sind sie, die schönen wilden Pflanzen. Grillen zirpen, Bienen und Hummeln fliegen emsig von Blüte zu Blüte, dazwischen flattern Kohlweißlinge herum. Eine von Naturschützern angelegte Blühwiese, deren Schönheit und Vielfalt die martialischen Ernteszenen gleich nebenan noch befremdlicher macht. Die eingehegte Biodiversität auf diesem Flurstück mutet wie ein lächerlicher Ausgleich für das Vernichtungswerk an, wie eine Art Beruhigungsbotanik.
An diesem Oktobertag auf den Winzerer Höhen wurde die Idee zu diesem Buch geboren. Es handelt von einer der destruktivsten Kräfte, die die Menschheit je entfesselt hat: von der modernen Landwirtschaft und den ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Schäden, die sie anrichtet. Im Zentrum stehen die Plünderung unserer begrenzten biologischen Ressourcen und die flächendeckende Zerstörung der Umwelt durch den weltumspannenden agro-industriellen Komplex, der so mächtig geworden ist wie der militärisch-industrielle Komplex. Es geht um den Krieg gegen die Natur – und gegen uns selbst.
Der Krieg wird gelenkt durch die Feldherren des Agrar- und Nahrungsmittelsektors; die Rüstungsgüter liefern Chemie-, Pharma- und Saatgutkonzerne; für die Propaganda sind Landwirtschaftspolitiker, Funktionäre der Bauernverbände und Lobbyisten zuständig. In der Etappe marschieren die Finanzbataillone. Die konventionellen Landwirte bilden das Heer der Fußsoldaten. Ihre Waffen: fossile Energie, tonnenschweres Gerät, Kunstdünger, Pestizide, Kraftfutter, Antibiotika, Wachstumshormone. Ihre Schlachtfelder: bereinigte Fluren, Monokulturen, Agrarsteppen, Mastfabriken. Sie belasten das Klima, beschleunigen den Artenschwund, laugen die Böden aus, vergiften das Wasser, quälen die Tiere – angeblich zum Wohl der Allgemeinheit. Die Folgen ihres Handelns kümmern sie in der Regel nicht, im besten Falle sind sie sich ihrer nicht bewusst. Der moderne Landwirt agiert gleichgültig, rabiat und gierig, »ruachad«, wie man auf Bairisch sagt. Er ist der Prototyp unserer räuberischen Spezies, des Homo sapiens.
Der Mensch belaste die Biosphäre der Erde so schwer wie kein anderes Lebewesen, warnt das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI, das alljährlich die Weltlage einschätzt. In 4,5 Milliarden Jahren formten natürliche Prozesse die Erde, erst in den vergangenen sieben Jahrzehnten sei der menschliche Einfluss so prägend geworden, dass wir von einem neuen Erdzeitalter sprechen, vom Anthropozän. Wir erleben gerade die fatalen Folgen dieses Einflusses, die Zerstörung natürlicher Lebensräume und den rapiden Artenschwund. Wissenschaftler sprechen vom sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte, das letzte ereignete sich vor 66 Millionen Jahren, als ein gewaltiger Asteroid auf unserem Planeten einschlug und 75 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten ausgerottet wurden. Eigentlich begann das Anthropozän schon in der Jungsteinzeit vor ungefähr 10.000 bis 12.000 Jahren, als der nomadisierende Mensch sesshaft wurde und anfing, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Im Laufe der Jahrtausende entstanden zwischen Euphrat und Tigris, am Nil oder am Indus Hochkulturen, die auf landwirtschaftlichen Überschüssen beruhten. Der israelische Globalhistoriker Yuval Noah Harari zählt die Entwicklung seit der neolithischen Revolution zu den größten Irrwegen der Geschichte. Im Alten Testament wird sie zum ewigen Fluch: Kain, der Ackerbauer, erschlägt seinen Bruder Abel, den Hirten.
Heute sind wir jenseits der biblischen Verdammungslehre mit den Auswüchsen der industriellen Landwirtschaft konfrontiert, und man kann Harari nur zustimmen, wenn er die Massentierhaltung als Verbrechen bezeichnet.
In dieses Verbrechen sind wir, die Konsumenten, jeden Tag verstrickt. Denn wir wollen gute und preisgünstige Nahrungsmittel – und verdrängen, wie sie hergestellt werden. Die Milch kommt aus dem Kühlschrank, der Schweinebraten von der Fleischtheke. Doch allmählich rücken die Lieferketten vom Acker zum Teller und die Kollateralschäden der agroindustriellen Produktionsweise ins öffentliche Bewusstsein. Es hat sich herumgesprochen, dass jedes Steak, das wir essen, den Kahlschlag der Regenwälder befördert. Dass unsere Nahrungsmittel Agrargifte enthalten. Dass durch die Erschließung neuer Wirtschaftsflächen und die Massenviehhaltung Viren, Bakterien, Prionen, Pilze und Parasiten von Tieren auf Menschen überspringen und Zoonosen wie Rinderwahnsinn, Vogelgrippe, Kuhpocken oder Covid-19 auslösen.
Je mehr aufgeklärte Verbraucher über diese Zusammenhänge wissen, desto öfter stempeln sie Landwirte als Sündenböcke ab. Aber so einfach ist es nicht, denn unsere Nahrungsmittelproduzenten sind Täter und Opfer zugleich: Sie machen freiwillig mit bei der durch staatliche Milliardensubventionen befeuerten Erzeugerschlacht – und sie bekommen die ökologischen Folgen des Raubbaus unmittelbar zu spüren. Ihre Wirtschaftsweise wird durch zwei Faktoren bestimmt: Produktivitätssteigerung und Profitmaximierung. Der Konkurrenzkampf auf den nationalen und internationalen Märkten lässt ihnen gar keine andere Wahl: Erpresserische Kartelle von Lebensmittelkonzernen, Supermärkten, Discountern, Molkereien und Großschlachtereien, die die Endverbraucher mit immer billigeren Waren beglücken, drücken die Preise; die Landwirte müssen sich den ökonomischen Zwängen anpassen und die Produktion intensivieren, um immer mehr aus ihren Böden und Tieren herauszupressen. Devise: Wachse oder weiche!
Noch nie wurden so viele Nahrungsmittel wie heute erzeugt, allein in der Saison 2021/22 belief sich die Gesamtmenge des weltweit geernteten Weizens auf 779,9 Millionen Tonnen. Doch nicht einmal die Hälfte dessen, was auf unseren Äckern wächst, wird zu Lebensmitteln verarbeitet, der Löwenanteil geht in die Produktion von Tierfutter, Energiepflanzen und industriellen Rohstoffen.
Während nach jüngsten Hochrechnungen der vereinten Nationen weltweit 735 Millionen Menschen hungern und über zwei Milliarden von mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sind, leiden 1,9 Milliarden infolge des exzessiven Konsums an Übergewicht und Fettleibigkeit. Heutzutage sterben Menschen eher, weil sie zu viel essen, nicht, weil sie zu wenig auf den Tisch bekommen. Mit der Gesamtmenge der jährlich verschwendeten oder in den Müll geworfenen Lebensmittel – 2021 waren es geschätzte 931 Millionen Tonnen – könnte theoretisch die doppelte Zahl der gegenwärtig hungernden Menschen versorgt werden.
Der Krieg gegen die Umwelt wird nicht nur von der industriellen Landwirtschaft geführt, von Megafarmern, Agrarfabrikanten, Großgrundbesitzern und Plantagenbetreibern, sondern auch von mittleren und kleineren Betrieben, die sich dem agrarökonomischen Diktat unterworfen haben. Die Viehbestände und Nutzflächen sind nur noch wirtschaftliche Assets, gewinnorientierte Produzenten haben jeden Bezug zur Natur verloren. »Das sind keine Bauern«, ärgerte sich mein Freund Matthias Kreuzeder schon bei unserer ersten Begegnung vor 35 Jahren. Der Biobauer aus dem Rupertiwinkel, dem südöstlichsten Teil Bayerns, spricht den Agripreneuren das Recht ab, die Berufsbezeichnung »Bauer« zu tragen. Kreuzeder stand Pate zu diesem Buch, er wird uns in einigen Kapiteln wiederbegegnen. Ich teile seine Urteile, darf aber gleich an dieser Stelle klarstellen, dass ich nicht das in Mode gekommene »Bauernbashing« betreiben und einen ehrenwerten Berufsstand pauschal verunglimpfen will – das liegt mir schon allein aufgrund meiner Herkunft fern. Ich ziehe vor jedem Landwirt den Hut, der umweltverträglich wirtschaftet, sei es auf einem Biohof oder in einem konventionellen Betrieb.
Das Thema Landwirtschaft wurde mir quasi in die Wiege gelegt. Ich bin auf Bauernhöfen im bayerischen Gebirge und im Voralpenland am Ende einer Epoche aufgewachsen, in der die meisten Bauern noch in natürlichen Kreisläufen wirtschafteten. In den frühen 1960er Jahren habe ich die Initialzündung der sogenannten »grünen Revolution« erlebt, den Modernisierungsschub in der Landwirtschaft, der zu einem beispiellosen Bauernsterben führte. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Bundesrepublik nahezu zwei Millionen Betriebe, im Jahr 2022 sind im vereinigten Deutschland noch 256.000 übriggeblieben. In meiner Kindheit und Jugend lernte ich, wann gesät und geerntet wird, wie man Jungvieh auf der Alm hütet und mit der Sense mäht, wie man Traktor fährt, die Trächtigkeit einer Kuh erkennt, eine Melkmaschine bedient oder Geburtshilfe beim Kälberziehen leistet. Ich absolvierte einen Grundkurs über Forstpflege in der Bayerischen Waldbauernschule, beschäftigte mich im Studium mit Agrarsoziologie und wurde in der Kampagne gegen das Waldsterben zum Ökoaktivisten. Als Journalist arbeitete ich mich an den Torheiten der europäischen Agrarpolitik ab. Reisen nach Brasilien, Italien, Polen, Tadschikistan, auf die Philippinen und in die USA öffneten globale Perspektiven; manche Recherchen liegen zwar schon einige Jahre zurück, haben aber nicht an Aktualität eingebüßt. Als Korrespondent in Afrika beschrieb ich die Probleme von kleinen Bauern und Bäuerinnen, die den Kontinent ernähren, und wunderte mich immer wieder darüber, wie die Entwicklung des ländlichen Raumes von der Politik und auch von der Hilfsindustrie vernachlässigt wurde. Kurzum: Die Agrarfrage sollte mich durchs Berufsleben begleiten und mein erkenntnisleitendes Interesse formen, und je länger ich nach Antworten suchte, desto deutlicher traten die Abgründe vor Augen.
Das Agrarwesen ist im wahrsten Sinne des Wortes ein weites Feld, ich habe versucht, ein paar ausgewählte Parzellen zu beackern: Den Untergang des traditionellen Bauerntums. Die globale Erzeugerschlacht und ihre Akteure, die Agrarkrieger. Die Macht des agro-industriellen Komplexes. Die Absurditäten der europäischen Landwirtschafts- und Handelspolitik. Den Verteilungskampf um Land und die Lage von Millionen Subsistenzbauern auf der Südhalbkugel. Es geht um den Klimawandel und die schwindende Biodiversität, um das Bevölkerungswachstum und die Zukunft der Welternährung, um Saatgutmonopole und Gentechnik, Bodenspekulation und Landräuber, Rekordernten und Dürren, Hunger und Brotaufstände, Überkonsum und Lebensmittelvernichtung. Alles hängt mit allem zusammen, das ist eine Binsenweisheit im Zeitalter der Hyperglobalisierung. Jedes einzelne Thema würde eine Bibliothek füllen, jedes ist so hochkomplex, dass es im beschränkten Umfang eines Sachbuches nur angerissen werden kann.
Fest steht: Die moderne Landwirtschaft gehört zu den größten Emittenten von klimaschädlichen Treibhausgasen und ist der Hauptverursacher des Artensterbens. Bis zu vierzig Prozent der weltweiten Landflächen sind laut dem »Global Land Outlook« der Vereinten Nationen bereits degradiert, die Produktivität der intensiv bewirtschafteten Böden sinkt kontinuierlich. Die Art und Weise, wie die Landwirtschaft gegenwärtig betrieben wird und wie wir uns ernähren, hat selbstzerstörerische Dimensionen angenommen – sie droht die begrenzten Naturressourcen unseres Planeten zu erschöpfen. Um diesen verhängnisvollen Prozess aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen, sind grundstürzende Veränderungen unumgänglich. Der Weltagrarrat, der die globalen Herausforderungen erstmals klar und deutlich benannt hat, mahnt dringlich eine ökonomische und ökologische Transformation der weltweiten Landwirtschafts- und Ernährungssysteme an. Wir müssen bei Strafe des Untergangs die Produktion, Verarbeitung und Verteilung unserer Nahrungsmittel radikal neugestalten: klimakompatibel, ressourcenschonend, nachhaltig, sozial gerecht.
Noch aber verhält sich die Menschheit so töricht wie der gemeine Hefepilz, der zuckerhaltigen Traubenmost in Wein verwandelt. Im Gärungsprozess vermehrt er sich exponentiell, frisst immer schneller seine Nahrungsgrundlage auf und stirbt massenhaft ab, sobald ein bestimmter Alkoholgehalt erreicht ist. Evolutionsbiologisch betrachtet ist unsere Spezies nicht viel weiter gekommen: Wir Menschen agieren wie hirnlose Einzeller, die suizidale Bedrohungen nicht wahrnehmen. Es steht zu befürchten, dass die zerstrittene und konfuse Weltfamilie die Notwendigkeit einer Agrar- und Ernährungswende erst erkennen wird, wenn sich die globalen Krisen in einem ungeahnten Ausmaß verschärfen. Dann kommt es vielleicht zu einer grünen Revolution, die den Namen verdient hat: Sie würde die Agrarkrieger, die tragischen Protagonisten dieses Buches, in die Wüste schicken.
© Bartholomäus Grill