Geschrieben am 1. Juni 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2023

Tatsächlich: DER Schlüsselroman zu #MeToo

Alf Mayer über „Komplizin“ von Winnie M Li

Noch wach? Wenn Männer die Welt erklären, hat das immer noch viel zu viel Zulauf. Der angebliche „Schlüsselroman“ von Benjamin Stuckrad-Barre – als erster deutscher MeToo-Roman lanciert, propagiert und nachgeplappert – durchbrach hierzulande geradezu mit Schallgeschwindigkeit die Schwelle von mehr einer Million verkauften Exemplaren. Wetten wir, dass das hundertprozentige Gegenteil dieses Romans, den Iris Radisch eine „Lachnummer“ nennt, mit nur einem einzigen Prozent dieser Verkaufe, also 10.000 Exemplaren, ein mehr als achtbares Ergebnis vorzuweisen hätte. Winnie M Li und ihre „Komplizin“ gegen Stuckrad-Barre und „Noch wach?“, das zeigt ein zum Schreien empörendes, aber typisches Missverhältnis auf. Übrigens auch literarisch. 

Wo Stuckrad-Barre sich aufplustert und vorgibt, missbrauchten Frauen eine Stimme zu geben, gilt er dem Feuilleton als großer Frauenversteher. Schreibt eine Frau zu diesem Thema, steht sie von vornherein unterm Generalverdacht der Hysterie, Pauschalisierung und Parteilichkeit. Umso erfrischender – grandios erfrischend sogar, bis zur letzten Zeile – wie ruhig und gelassen und dabei unerbittlich genau Winnie M Li ihre Geschichte erzählt, wo Stuckrad-Barre nur hampelt. „Sein weibliches Personal besteht von der ersten bis zur letzten Seite aus gnadenlos durchironisierten Witzfiguren, die so herrlich dämlich reden, wie ihr Herr es für seine parodistisch überdrehten Zwecke eben gerade braucht“, fasst Iris Radisch den Herrn zusammen. Winnie M Li hingegen, so die irische Autorin Liz Nugent „erzählt eine Geschichte, die fesselnd, mutig und auf die bestmögliche Weise brutal ist“.

Auf bestmögliche Weise brutal – Winnie M Li lässt sich dafür Zeit. Sie ist dort gewesen, ist nicht nur hinterher mit an der Bar gesessen. Ihre Protagonistin hat sich, wie es auch der Titel impliziert, mitschuldig gemacht. Sie war beteiligt, war eine „Komplizin“ (im englischen Original heißt der Roman „Complicit“). 

Des unheimlich schmalen und schwierigen Grats, seriös, anschaulich, nachvollziehbar und glaubhaft über die emotional ambivalente Dschungelwelt der sexuellen Belästigung, Ausbeutung und Scham zu sprechen, ist sich Winni M Li in jeder Zeile ihres Buches gewärtig. Sie hat sich dafür Zeit gelassen, der Schreibprozess dauerte mehrere Jahre – und sie lässt sich dafür im Buch auch Zeit. Das macht sogar einen Großteil der Spannung ihres Romans aus, der ganz ohne Mord auskommt. 

Es gibt Bücher, in denen mit den Leseerwartungen rücksichtslos Schlitten gefahren wird oder die grobschlächtigen Spannungselemente vom Reißbrett kommen. Bei Winnie M Li wirkt das ganz ungekünstelt und natürlich – Zitat: „Es ist wie ein Wollknäuel. Wenn man an einer Stelle zieht, wird der Faden immer länger.“ Natürlich ist es ein Kunstgriff, die Erzählerin als 39-jährige Filmdozentin einem Journalisten von Ereignissen, die zehn Jahre zurückliegen, berichten und gleichzeitig ihre Haltung dazu, damals und jetzt, reflektieren zu lassen. Als Erzählgerüst funktioniert das verblüffend elegant, erzählerisch ist es begeisternd gelöst, und an dieser Stelle ist zudem vor der Übersetzung von Stefan Lux der Hut zu ziehen, der all die Zeitebenen klar hervortreten lässt.

Selten habe ich einen Roman gelesen, der so sehr von seinem besonderen Milieu Gebrauch macht und dabei nicht nur die Filmwelt zum Leben erweckt, sondern zu bestem Effekt mit deren Erzähl- und Ausdrucksmitteln spielt. Die Erzählerin stellt sich manche Szenen wie für die Filmkamera entworfen vor, sie weiß über Rückblenden und Filter, subjektive Kamera, Abblenden und herausgeschnittene Einzelbilder, über Filmfestivals und die Flirts an der Bar, den Unterschied zwischen Tarkowski und Eisenstein, über Leseproben, Drehbucharbeit. Aber ich bin nun mal Dozentin, sagt sie einmal, lassen Sie mich ein wenig ausholen. Ein anderes Mal: Noch mal, Take 2. Die Szene noch einmal, besser.

„Oder betrachte ich aus dem Abstand von fünfzehn Jahren diesen besonderen Moment meines Lebens durch einen schmeichelhaften Filter? Zwischen zwanzig und dreißig taumeln wir durchs Leben und hoffen, dass die Welt im entscheidenden Moment auf magische Weise klar wird. Als würde ein Brombeergestrüpp sich plötzlich auftun und den Blick auf unsere wahre Bestimmung preisgeben…“ 

Das Buch hat einen angenehm stetigen Atem, überschlägt sich nicht, will und macht möglich, dass man alles klar und deutlich sieht – und folgen kann. Zwei in sich verschränkte Double-Bind-Komplexe werden ohne wehleidiges Jammern Schicht für Schicht freigelegt: Wie man als Anfängerin in einem Gewerbe Freiwild für allerlei Ausbeutung und darin manipuliert dann gar zur Mitwisserin/ Mitmacherin bei Ausbeutung und sexuellen Übergriffen wird. Und warum die Scham das Darüber-Reden so schwierig macht. Das Buch erhellt nicht nur die Schweigemechanismen der Einzelnen sondern auch das Wegschauen einer ganzen Branche. Eine Formulierung wie, diese Rolle sei einer bestimmten Schauspielerin ja „wie auf den Leib geschrieben“ wird man danach nie wieder verwenden.

„Bleib am Ball. Du könntest es wirklich weit bringen.“ Dieser Satz hält die Protagonistin über Jahre bei der Stange. Wenn man in dieser Welt weiterkommen will, sagt man niemals Nein. Man sagt grundsätzlich ja, weiß sie. Und ab irgendwann dann auch: Im Filmbusiness gibt es immer ein Machtgefälle. Die Mächtigen machen Jagd auf die Schwachen. (Alles Buchzitate.)

Winnie M Li war selbst einmal Vergewaltigungsopfer. Sie hat darüber den Roman „Nein“ (Dark Chapter) geschrieben. Für „Komplizin“ hat sie sich noch einmal extra Zeit gelassen. Sie ist dafür weit neben sich getreten, während sie gleichzeitig all ihre schriftstellerische Kraft aktiviert hat. So ist ihr Buch tatsächlich zum Schlüsselroman für #MeToo in der Filmbranche geworden. Begeisternd raffiniert und elegant erzählt. Und um es noch einmal mit Liz Nugent zu sagen: auf die bestmögliche Weise brutal.

Die Schlusspassage ist ein Diamant. Und sie entlässt, wie die besten Filme es tun – sie sind einem nahe gekommen, werden auf immer bei einem sein. Denn man ist etwas Wahrem begegnet.

Alf Mayer

Winnie M Li: Komplizin (Complizit, 2022). Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. Klappenbroschur, 476 Seiten, 18 Euro. – Verlagsinformationen und Inhalt.

Tedx Talk von Winnie M Li über #MeToo und sexuelle Gewalt:


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