Ein Polizist und eine Drogendealerin, die sich ineinander verlieben – das klingt klischeehaft, kitischig, nach tausendmal erzählt. Für Tim Staffel ist es indes Anlass, einen sehr dichten, gegenwärtigen Berlinroman über eine große Liebe zu schreiben.
Südstern heißt ein Platz in Berlin-Kreuzberg. Er liegt im Polizeiabschnitt 52, in dem der Polizist Deniz mit seinem Streifenwagen regelmäßig unterwegs ist. Südstern verweist aber auch auf den südlichen Polarstern, den Deniz eines Nachts mit der Drogendealerin Vanessa am Himmel sucht. Diese zwei Bedeutungen umreißen die beiden Hauptaspekte von Tim Staffels Roman: er erzählt von dem Leben in Berlin-Kreuzberg und ist zugleich die Geschichte einer großen Liebe.

Da ist Deniz. Er arbeitet Doppel- und Dreifachschichten, lebt mit seinem an Parkinson erkrankten Vater, ist von diesem Alltag überfordert, hält aber durch. Und dann ist da Vanessa. Sie ist Pharmakologin, jobbt als Barkeeperin und Apothekenkurierin, das meiste Geld verdient sie allerdings mit dem Verkauf von Drogen. Eines Tages trifft sie in ihrem Lieblingslokal Deniz‘ orientierungslosen Vater. Sie bringt ihn wieder nach Hause und so begegnen sich Deniz und Vanessa, die beginnen einander zu umkreisen. Aber sie zögern: Denn Vanessa hat einen Freund und bringt nicht nur ihn, sondern auch Deniz in Gefahr mit ihrem Doppelleben. Dennoch lassen sie nicht voneinander, sondern beginnen, einander zu umkreisen, immer mehr zu vertrauen und langsam zueinander zu finden.
Vanessa gibt Deniz Halt und Hoffnung in seinem harten Alltag – und genau das hält wiederum sie aufrecht: die Sorge um andere Menschen. Der erste Satz des Romans deutet schon darauf hin: „Ich heiße Vanessa und bin ein Engel.“ Weil sie ein gesteigertes Empfinden für die Bedürfnisse und Gedanken ihrer Mitmenschen hat, öffnen sich diese gegenüber Vanessa sehr schnell, sprechen über ihren Alltag innerhalb eines maroden Systems. Vanessa hilft ihnen mit chemischen Substanzen. So erzählt „Südstern“ von Pflegern, die jeden Tag Antidepressiva nehmen, um in Schwung zu kommen; Ärzten, die Kokain kaufen, um die langen Schichten und die Verantwortung tragen zu können. Aber auch von Vanessas Ersatz-Oma, die Haschischkekse gegen die Schmerzen backt. Für manche sind die Drogen Hilfsmittel und Stütze. Andere werden süchtig und stürzen ab.
Kluge Gegenwartsbezüge
„Südstern“ streift viele soziale Themen und ist sehr dicht erzählt. Der Roman basiert auf der Hörspielserie „Dope“, für die Tim Staffel mit dem Journalisten Lucas Vogelsang über Alltagsdrogen in Berlin recherchiert hat. Die Figuren kehren hier wieder, Schwerpunkt und Stil sind aber anders: es geht weniger um Vanessas Doppelleben, ihre Beziehung mit ihrem Politikerfreund als vielmehr um ihre Liebe zu Deniz. Dennoch spürt man, dass in den verdichteten Beschreibungen des Drogenalltags und -geschäfts eine große Rechercheleistung steckt, die hier zur Literatur wird – mit einer überspitzten dramatischen Wendung am Ende. Auch sind manche Nebenfiguren hart an der Grenze zum Klischee – beispielsweise der Sohn eines Gangsterbosses „mit zarten Zügen“, der seine Queerness unterdrückt. Überwiegend aber sind die Gespräche von Vanessa und ihren Kunden, die Einsätze von Deniz, ihre Bewegungen und Fahrten durch Berlin kluge und gut gesetzte Gegenwartsmarker: man erkennt das Kiezleben, aber auch typische Alltagssituationen, in denen z.B. klar wird, wie marode das Gesundheitssystem mittlerweile ist.
Eine Liebesgeschichte ohne Kitsch
Bemerkenswert ist auch die Erzählsituation: Indem Vanessa und Deniz aus der Ich-Perspektive und im Präsens erzählen, sind ihre Schilderungen unmittelbar und direkt. Die kurzen Sätze – meist ohne Nebensatz -, das Schriftbild mit Blocksatz und wenigen Absätzen verstärken die Nähe und Dringlichkeit noch. Auf diese Weise entstehen ein eigener Erzählrhythmus und -ton, die gut zur Großstadtrealität passen. Und noch etwas gelingt Tim Staffel mit seiner doppelten Ich-Perspektive: Wenn Vanessa und Deniz zusammen sind, zeigt sich in ihren abwechselnd wiedergegebenen Gedanken, wie sehr sie beieinander sind. Das ist Romantik ohne Kitsch.
Dazu durchzieht dieses Buch eine morbid-melancholische Atmosphäre. Im Verlauf des Romans mehren sich die Anzeichen des Niedergangs der Stadt: die Bedrohung von rechts wird größer, die Gewaltbereitschaft steigt. Alle stehen unter Druck, haben Angst vor dem Versagen, dem Abstieg, Alleinsein und Sterben. Geschäfte schließen, Tiere dringen in die Stadt ein, immer mehr Menschen schlafen in ihren Autos, leben mit ihren Möbeln auf der Straße. Hier bekommt „Südstern“ leichte dystopische Züge, die dafür sorgen, dass dieser oftmals poetische Roman am Ende nicht zu sehr abhebt.
Tim Staffel: Südstern. Kanon Verlag, Berlin 2023. 288 Seiten, 25 Euro.