Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Satoyama Cuisine: Blick über den Tellerrand

Eine Begegnung mit Yoshihiro Narisawa – von Alf Mayer

Ein Buch wie ein Drei-Sterne-Menü. Wie eine Pilgerfahrt. Eine Lektion in Demut und Erdverbundenheit. Yoshihiro Narisawa gehört zu den 100 besten Köchen der Welt, ist Inhaber eines mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurants in Tokyo. Das Narisawa, im Süden Tokios im Stadtteil Minato gelegen und die ersten acht Jahre Les Créations de Narisawa benannt, gehört zu den weltweit 50 besten Restaurants. Die Vereinfachung des Namens ist Programm. Acht Jahre Lehrzeit verbrachte Narisawa in Europa bei Meistern wie Paul Bocuse and Joël Robuchon, es folgten sieben Jahre in der für ihre Naturschönheit berühmten Präfektur Kanagawa, ehe er sein schlicht in Schwarz und Grau gehaltenes Lokal in Tokyo eröffnete. Umso strahlender, was dort auf die Teller kommt.

Narisawas Blick geht weit über den Tellerrand, er hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine nachhaltige und auf alten Traditionen und Weisheiten basierende Küche zu pflegen: eben Satoyama Cuisine. Der Begriff satoyama bedeutet wörtlich „Dorf und Berg“, er weckt, so sagt es mir eine japanische Freundin, sofort ein warmes Gefühl und Erinnerungen an den eigenen Heimatort. 

Satoyama Scene, essence of the forest dish, composed of okara to represent soil and moss and shimonitanegi charcoal powder © Sergio Coimbra
Matcha Warabimochi, Matcha Yokan, green tea-based deserts © Sergio Coimbra

Satoyama, das sind Orte und Landschaften, in denen die natürliche Umwelt behutsam vom Menschen geformt wurde und wo etwa Reisfelder, Bäche, Gemüsefelder und Mischwälder zu finden sind, wo die Landwirtschaft nicht agroindustriell sondern in Einklang mit der Natur betrieben wird. In solchen Gegenden – so bebildert und beschreibt es uns hier die japanische Botschaft in Deutschland – wurden durch die Symbiose von Mensch und Natur Lebensweisheiten und Fertigkeiten ausgebildet, die in Japan immer noch mit großen Nachdruck (bei uns jedoch zusehends weniger) von Generation zu Generation weitergegeben werden. 

Satoyama, das ist ein Lebensraum, genauer: ein Ort der Symbiose allen Lebens. Ein Ökosystem mit großer biologischer Vielfalt, nachhaltig genutzt.  Rund 70 Prozent der Landmasse Japans sind mit Wald bedeckt. Wälder sind für Narisawa essenziell und für ein Gleichgewicht von Mensch und Ökosystem unbedingt notwendig. Der Wald ist der Ort, an dem Pilze gedeihen, sie sind eine Grundzutat für viele typisch japanischen Lebensmittel. Sojasoße, Miso, Mirin, Essig und Sake entstehen durch die Wirkung des Pilzes Aspergillus oryzae. Diese winzige Schimmelart, die auf Japanisch Kōji heißt, wird seit über tausend Jahren verwendet. Wenn Kōji über Sojabohnen oder Reis gestreut wird, beginnt seine Arbeit: der Fermentationsprozess.
Oder nehmen wir Kombu. Das ist essbarer Seetang, der, wenn ihm einige Jahre Zeit zum Reifen gelassen wird, der Zubereitung von Dashi-Suppe dient. Auf der Insel Rebun reift er in speziellen Kellern zwei bis sogar fünf Jahre lang. Er verliert dadurch den Geruch des Meeres und entwickelt Körper – wie Wein.

„Satoyama Cuisine“ ist ein Werk, das über den Charakter eines Kochbuchs weit hinausreicht. Es ist eine Schule der Behutsamkeit. Mag das Buch auch so teuer sein wie ein Besuch in einem der 50 besten Restaurants der Welt, inklusive Weinbegleitung und/ oder Übernachtung, so wird es beim Top-down-Publisher Taschen davon irgendwann sicher auch eine erschwingliche Volksausgabe geben. Bis dahin hier einiges an Bildern – als Vorspeise.

Gion Matsuri, a desert inspired by the festival help annually during the month of July in Kyoto – all: © Sergio Coimbra

Alle Aspekte in Narisawas Küche sind von Bedeutung. Dazu gehören auch die Werkzeuge, die der Zubereitung dienen, oder das Geschirr, auf dem sie serviert werden. Oder die Holzkohle und deren Herstellung. Auch darauf geht das Buch ein. Die zur Herstellung verwendete Technik der glänzend lackierten Schalen und Teller zum Beispiel ist als Urushi bekannt und geht auf eine über zehntausend alte Tradition zurück, bei der der Saft des chinesischen Lackbaums (Rhus vernicifera) extrahiert wird, meistens während der warmen Sommertage.

„Am Anfang war die Scholle“, heißt das Anfangskapitel. Narisawas Gerichte sind tief in der Natur verwurzelt. „Evolve with the Forest“ heißt ein weiteres Kapitel, es macht die Sinnhaftigkeit jahreszeitlicher Gerichte klar („Bread of the Forest“) und geht weit über den Kanon der bei uns üblichen jahreszeitlichen Produkte hinaus. Auch traditionelle Verfahren wie die Fermentierung werden beachtet. Nach „Sense of Wonder“ und der Sensibilisierung gegenüber dem Wundern der Natur folgt dann der Hauptteil mit der Überschrift „A Blessing from Nature“. Hier sind die Rezepte des Meisters versammelt. Den Abschluss macht ein Kapitel über „Japanese Condiments“, also Shoyu, Miso, Dashi und anderes.

Chef Yoshihiro Narisawa with Kombu Producer © Sergio Coimbra
all: © Sergio Coimbra

Fotografiert hat das alles der Brasilianer Sergio Coimbra, einer der besten Food-Fotografen der Welt, der schon mit einigen der weltbesten Köchen gearbeitet hat. Er setzt nicht nur die fertigen Speisen in Szene, sondern beleuchtet zudem die Hintergründe der Rezepte. Seine kontrastreichen Bilder – die aufklappbaren bis zu 80 cm groß – erzählen von allen Phasen der Herstellung, von der Herkunft der Zutaten über die Zusammenarbeit mit traditionellen Handwerksmeistern bis hin zum Endergebnis. So wird dieses Buch auch ein sehr spezieller Reiseführer, der einiges bisher kaum Bekanntes über die japanische Geschichte und Kultur transportiert.

Alf Mayer

P.S. Vor drei Jahren, wenige Tage bevor die Welt von Corona erfuhr, bestellte ich mir in Hobart auf Tasmanien in einem kleinen Bistro neben dem „State Cinema“, Australiens ältestem Kino, ein kleines Gericht: „Tasmanian Mushrooms“. Ich bekam eine kleine Skulptur serviert, die an einen Waldspaziergang erinnerte – und auch einer war. Ein Baumstumpf mit einer Moos-Landschaft, verlorenes Ei inklusive, und natürlich Pilze … traumhaft schön. Ungewohnt lecker dazu. Dies zu einem sehr schlanken Preis. Ich ließ mir vom Koch zeigen, wie er dieses kleine Wunderwerk „baut“. Er muss ein Schüler von Narisawa gewesen sein. Ich träume heute noch von dieser Begegnung …

Yoshihiro Narisawa, Sergio Coimbra: Satoyama Cuisine. Taschen Verlag, Köln 2023. Verlag Taschen, Köln 2023. 416 Seiten, Hardcover, 6-farbiger Druck mit Lack, mit Bodonian-Einband aus zwei verschiedenen, aus Japan importierten Stoffen, Buchblock mit vergoldeten Kanten, 40 x 33 cm, in einer glänzend lackierten, mit Naturleinen ausgekleideten Box. Gesamtgewicht 15 kg. Collector’s Edition von 1.000 Exemplaren, jeweils von Yoshihiro Narisawa und Sergio Coimbra signiert, 1.250 Euro. www.taschen.com

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