Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020

Robert Rescue: Schreie in der Nacht #covid-19

Die Tage und Nächte im Krankenhaus

Schreie in der Nacht

„Hilfe“, hörte ich es aus einem anderen Zimmer. Ich konnte nicht schlafen. Diese ungewohnte Umgebung und die fremden Menschen im Zimmer waren nichts für mich. Erneut hörte ich es rufen. Oh Mann, der musste Schmerzen haben. 

Ob ich aufstehen und nachschauen sollte? Ging nicht, ich trug einen Blasen-Katheter, der mich ans Bett fesselte. Wieder und wieder hörte ich es rufen, aber niemand schien darauf einzugehen. Was war mit der Nachtschicht? Standen die alle draußen und zogen sich was rein, was ihnen den Job erleichterte? Was war mit den Zimmergenossen? Er machte einen Heidenlärm. Hatte er ein Einzelzimmer? Regte er sich einfach nur über irgendwas auf oder lag ein Notfall vor?

„Hilfe Anuschka“, hörte ich es jetzt von ihm.

Wer war Anuschka? Eine der Schwestern? Seine persönliche Leibschwester, weil er Privatpatient war?

„Hilfe Polizei“, schrie er jetzt. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Geschah da ein Mord? Standen die Pfleger um ihn herum und durfte jeder mal auf das Kissen drücken? Passierte das hier öfter? War der Garten, den der Klinikprospekt so poetisch als „Oase der Ruhe“ anpries, ein einziges Massengrab? Wurde den Angehörigen erzählt, der Patient habe einfach so das Krankenhaus verlassen und mehr wisse man nicht? War das hier etwa ein sogenanntes Mordkrankenhaus?

Ich schluckte und beschloss, es mir mit dem Pflegepersonal nicht zu verderben.

Sonst war ich der Nächste mit einem Kissen im Gesicht.

Ich steckte mir Ohropax in die Ohren und drehte mich zur Seite. Ich würde die Pfleger morgen früh bei der Visite loben, nahm ich mir vor.

Die Liebe in den Zeiten von Zu- und Ableitung

Das Einzige, woran man nicht dachte, während man einen Blasen-Katheter trug, war Sex.

Man machte sich Gedanken, wie man hierher gekommen war, was man hätte anders machen sollen, um zu verhindern, dass man hier lag, man sinnierte, wie lange man das verdammte „Ding“ tragen musste und vor allem fixierte man in einer Mischung aus Schauern und Faszination die infusionsartige Zuleitung und Ableitung. An einem Gestänge hing ein Beutel mit einer klaren, wässrigen Substanz. Vielleicht war es destilliertes Wasser, das Tropfen für Tropfen in die Blase sickerte, vielleicht Spüli oder irgendetwas toxisches, das dem, weshalb man eine OP ertragen hatte, den Garaus machen sollte. Das, was aus dem Ableitungsschlauch herauskam, war in den ersten acht Stunden blutig und man fragte sich, was der Blase während der OP zugemutet worden war und was die Harnröhre jetzt erleiden musste. Aufmerksam betrachtete man den Kreislauf der Flüssigkeiten durch die Plastikschläuche und suchte nach Anzeichen, dass die ableitende Flüssigkeit klarer wurde. Der Beutel, der seitlich am Krankenbett hing, wurde vom Pflegepersonal „Einkaufsbeutel“ genannt. Zunächst erschloss sich mir nicht, wie die auf diese Bezeichnung gekommen waren. Nach etwa 16 Stunden Durchspülung wurde die künstliche Zuleitung getrennt. 

Dann konnte ich den „Einkaufsbeutel“ mit mir herumtragen und auch das Bett verlassen. Ich verließ das Zimmer, bekleidet mit dem Patientenkittel und den Badelatschen aus dem 1-Euro-Laden. Angeblich Größe 46, aber tatsächlich Größe 43, weshalb die Ferse überstand, was mir das Gehen erschwerte. In der rechten Hand hielt ich den „Einkaufsbeutel“, in dem sich noch immer blutiger Urin sammelte. Jetzt bekam ich eine Ahnung, warum er „Einkaufsbeutel“ genannt wurde. Ich taperte in den Wartebereich der Urologie-Station und schockierte die dort Sitzenden, die ihre OP in ein paar Tagen oder Wochen noch vor sich hatten.

Am Abend verspürte ich aber ein Aufkeimen der Libido, als Schwester Anuschka gemeinsam mit ihrem Kollegen das Zimmer betrat, um routinemäßig die Inhalte der „Einkaufsbeutel“ aller Patienten in einen blauen Eimer zu entleeren. Wahrscheinlich die meist gehasste Arbeit auf der Station und sicherlich der denkbar ungeeignetste Moment, um sich näherzukommen. Ob Schwester Anuschka wirklich so hieß, wusste ich nicht. Aber sie hatte so ein slawisches Aussehen und ich malte mir aus, sie sei als Kind mit ihren Eltern aus Sibirien nach Berlin gekommen und im märkischen Viertel aufgewachsen. Deshalb nannte ich sie Anuschka. Jetzt löste sie sich von ihrem Elternhaus, hatte die Ausbildung zur Krankenschwester begonnen und träumte von einem Studium. Ich sah ihr zu, als sie neben Herrn Birgers Bett in die Hocke ging. Plötzlich hatte ich den Gedanken, aus dem Bett aufzuspringen, den Patientenkittel zu lüften und „Tara“ zu rufen. Meine Güte, wie kam ich denn darauf? Ich schaute zur Decke und versuchte, den Gedanken zu vertreiben. Was war, wenn sich in dem Moment der Blasen-Katheter löste, weil ich vergessen hatte, den „Einkaufsbeutel“ von seiner Halterung zu lösen. Ich würde vor Schmerz aufschreien und schlimmstenfalls musste Anuschka den Katheter wieder in die Harnröhre und Blase schieben. Nein, nein, an diesem Gedanken war nichts schönes, nichts sinnliches. Das durfte niemals passieren, ich würde vor Scham augenblicklich sterben wollen. 

Der Kollege kam an mein Bett und machte sich an dem Beutel zu schaffen. Anuschka stand neben ihm. Ich hatte nur Augen für sie. Ich stellte mir vor, ich würde sie in ein Steakhouse in Reinickendorf ausführen, danach in die Spätvorstellung vom Cinestar Borsighallen und schließlich würde sie mich fragen, ob wir im Mustis Quick Kebap in der Quickborner Straße noch ne Runde kickern wollen. Fiebrige Wahnvorstellungen, dachte ich mir, vor allem das mit der Runde Kickern. Anuschka war nicht die Typin Frau, die gerne kickerte. Oder doch? Der Kollege lüftete die Bettdecke und Anuschka wurde des schrumpligen Elends angesichtig, aus dem ein Schlauch in den „Einkaufsbeutel“ führte. Sie ließ sich nichts anmerken, aber für mich war jegliche Schwärmerei in dem Moment abrupt beendet. Ich war nur ein Patient, nur ein Name am Bett oder in der Akte. Morgen war ich weg und Anuschka würde jemand anderen attraktiv finden.

Am nächsten Morgen war es ihr Kollege, der den Katheter entfernte. Er tat es schnell und verbunden mit einem kurzen, heftigen Schmerz. Dann zeigte er mir das Ding vor, als hätte er ein Alien entfernt. Vorne dran der Ballon, der für die Verankerung in der Blase sorgte. Verankerung war das Stichwort. Er hatte keinen Stift gezogen, er hatte nirgendwo Luft rausgelassen, keinen Mini-Schalter gedrückt. Einfach rausgezogen. Den Ballon durch die Harnröhre rausgezogen. Ohne Empathie, kalt, abgestumpft auf die Ausübung einer Tätigkeit.

Anuschka hätte das anders gemacht. 

Wir hätten uns in die Augen geschaut und ich hätte mir vorgestellt, was nach dem Kickern in Mustis Quick Kebap passiert wäre. 

Ich hätte mich gefreut.

Über die Handynummer auf der Serviette. 

Die nächste Einladung zum Kickern.

Diesmal im Wedding.

Nichts übereilen, hätte sie gesagt und mir den Katheter vorgezeigt.

Oder das Kissen?

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