Geschrieben am 1. Juni 2019 von für Crimemag, CrimeMAg Juni 2019

Ritter & Indianer – Zwei Mittelalter-Bücher

Die Edlen und die Wilden – oder umgekehrt

Alf Mayer über Theodor de Bry „America“ und „Das Turnierbuch Kaiser Maximilans I.“

Während ich an diesem Text sitze, laufen im Nachbarort Königstein im Taunus die Vorbereitungen zum 21. Ritterturnier und poliert mein Bruder, der als Herold der „Armati Equites“ zur Hälfte im Mittelalter lebt, seine Ausrüstung für das Weißenhorner Pfingstturnier im Stauferland, vulgo Unterallgäu. Das Mittelalter ist nicht tot – Game of Thrones ist überall –, und jetzt gibt es das größte Lustobjekt der Ritterkultur in einer Prachtausgabe des Verlags Benedikt Taschen, endlich für alle Interessierten zugänglich. Denn der „Freydal“, das Turnierbuch von Kaiser Maximilian I., hat das Bild, das wir von Rittern und vom Rittertum haben, entscheidend mitgeprägt. 
Fast zeitgleich, wie es mit kommunizierenden Röhren eben sein muss, erscheint bei Taschen gerade auch ein Faksimile-Band, der unsere Vorstellungen von den Wilden erheblich mitbeeinflusst hat: Theodor de Bry „America“. Beide Bände waren lange nicht oder kaum zugänglich, ihre Bilder- und Wertewelten sind dennoch über Jahrhunderte in unsere Ansichten von Welt & Werten, Rittern & Wilden, Edlen & Primitiven gesickert. So ist das mit Ikonografie. Einmal mehr erweist sich der verdienstvolle Taschen Verlag als Bildgedächtnis und Bildspeicher unser Kulturgeschichte, von Leonardo über Brueghel bis Klimt und Warhol.

Maximilians Turnierbuch, auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin und mit seiner aktiven Beteiligung zwischen 1512 und 1515 entstanden, ist so etwas wie eine fiktive Autobiografie. Ein Denkmal, das ein Kaiser sich zu Lebzeiten setzt. Das Buch war Teil der künstlerischen Projekte, die Maximilian I. zur Verherrlichung seines eigenen Lebens vorgesehen hatte. Zusammen mit den Büchern „Theuerdank“ und „Weisskunig“ bildet „Freydal“ eine inhaltliche Einheit – ein aufwendig illustriertes Heldenepos. Das Turnierbuch erzählt in 255 kunstvoll gold- und silbergehöhten Miniaturen von der Minnefahrt des jungen Herrschers Freydal. Der Held nimmt, von drei königlichen Jungfrauen ausgeschickt, an 64 Turnierfesten teil. Am Ende dieser Reise erhört Prinzessin Maria (Maria von Burgund, die Maximilian 1477 in Gent ehelichte) sein Werben.

Maximilian I. (1459–1519), der wegen seiner Vorliebe für Turniere den Beinamen „der letzte Ritter“ trug, behandelte die Ritter-Wettkämpfe als eigene Kunstform. Sein „Freydal“ entspricht sozusagen 64 Folgen von „Game of Thrones“. Die ritterlichen Turniere des Spätmittelalters und der Renaissance waren prachtvoll inszenierte sportliche Spektakel. Turnierfähigkeit, also das Recht, an den Wettkämpfen teilzunehmen, besaßen nur Mitglieder geadelter Familien. Die ritualisierten Kämpfe boten den Rahmen, Tugenden wie Tapferkeit, Lehnstreue und Minnedienst unter Beweis zu stellen.  Die Teilnahme an Turnieren war heiß begehrt, so wie heute ein Harvard- oder anderer Eliteabschluss, fand Eingang in Stammbäume und Abstammungsverzeichnisse. Turnierbücher waren für den Adel wie für das aufstrebende Bürgertum der Handelsstädte ein wesentlicher Bestandteil von Erinnerungskultur. Und Status sowieso.

Die Bilder des „Freydal“ gehen vorwiegend auf tatsächliche Turniere und Kostümfeste (Mummereien) des Kaisers zurück, erfunden ist das spektakuläre „Rennen mit geschifften Tartschen“, bei dem Schilder in die Luft katapultiert wurden und dabei Metallplatten, wie bei einem Feuerwerk, abspringen. Bis heute ist der „Freydal“ das größte erhaltene Turnierbuch des Spätmittelalters und die maßgebliche Quelle zu höfischen Festlichkeiten im Europa der frühen Neuzeit. Er gehört zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Viel zu fragil, um ständig ausgestellt zu werden, sind die Miniaturen in den Tresoren des Kunsthistorischen Museums in Wien verwahrt. Sie werden jetzt – 500 Jahre nach dem Tod von Maximilian I. – zum ersten Mal publiziert, und allesamt kundig erläutert von Stefan Krause, dem Direktor der Kaiserlichen Hofjagd- und Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums, der auch für eine sehr informative Einladung zeichnet..

Die abgebildeten ritterlichen Wettkämpfe bestehen jeweils aus einem Rennen, einem Stechen und einem Fußkampf. Am Ende jedes Turniers ist eine Mummerei zu sehen, ein Maskenball, der traditionell abends nach dem Turnier veranstaltet wurde. Dieses Wort stammt vom mittelhochdeutschen turnier (für „Kampfspiel“) und von turnieren, das Pferd „tummeln, wenden, drehend bewegen“. Die niedergeschriebenen Regeln übrigens nannte man „Cartell“.

Die an Vorbildern der niederländischen und Kölner Kunst des frühen 16. Jahrhunderts orientierten Miniaturen, von unbekannten Künstlern vermutlich der Donauschule angefertigt, sind keine Sportfotografie, aber akkurat in der Abbildung der Ausrüstung (des Rennzeugs und der Turnierharnische) und dem Ablauf der Kämpfe. Das prächtige samtene Lesezeichen des mit einer Abbildung zerbrochener Lanzen eingeleiteten Prachtbands ist ebenso nützlich wie das Glossar am Schluss des Buches. Einige Beispiele: Ahlspieß (Stangenwaffe), Anzogenrennen (mit fest verschraubten Schilden), Buckler (Faustschild), Deutsches Gestech (ohne Plankenzaun), Dilge (Oberschenkel- und Knieschutz), Stechsack (Brustpuffer aus Stroh für die Pferde), Tartsche (Schild), Welsches Gestech (mit Plankenzaun), Zimier (Helmschmuck).

Die Ankunft des Columbus – Theodor de Bry @ Wiki-Commons

Die edlen Wilden & die wilden Edlen

Jedes Geschichts-Schulbuch hat ihn: den berühmten Stich von der Ankunft des Kolumbus in der Neuen Welt. Er ist zur Ikone der europäischen Eroberung geworden. Die Westroute nach Indien suchend, landet Kolumbus (mit Hut) am 12. Oktober 1492 auf der Insel Guanahani in der Karibik und trifft auf Ureinwohner – die nackten Wilden bringen ihm Geschenke. Das Bild lässt die ungleichen Tauschbedingungen als geradezu naturgegeben erscheinen, als historisch-zivilisatorische Tatsache. 
Die Errichtung des christlichen Kreuzes als Zeichen von Landnahme & Missionierung im Bildmittelgrund sowie die fliehenden Indigenen im Hintergrund verdeutlichen den furchtsamen Charakter der Einheimischen ebenso wie die Überlegenheit der europäischen Invasoren. Die binäre Codierung stellt Landung versus Flucht, Kleidung oder Rüstung gegen Nacktheit, Christentum gegen Heidentum. Aber auch die ungleichen terms of trade, symbolisiert durch die Geschenke der Eingeborenen, die wie der Text erläutert „einen grossen und schweren glotzen goldt““ gegen „Hembder, Hüte, Messer, Spiegel und dergleichen“ eintauschten, „sind eindeutige Zeichen, die keine Zweifel an der Legitimität der europäischen Expansion und der mit ihr verbundenen Ansprüche und Erwartungen auf Erfolg und Bereicherung aufkommen lassen“ – hat die Schweizer Kunsthistorikerin Susanna Burghartz notiert („Mehrdeutigkeit und Superioritätsanspruch. Inszenierte Welten im kolonialen Diskurs um 1600“).

Theodor de Bry @ Wiki-Commons

Bildurheber ist der aus dem Fürstbistum Lüttich stammende Exilant, Goldschmied, Kupferstecher und Verleger Theodor de Bry, der sich in Frankfurt am Main niederließ und eine Verlegerdynastie begründete. Der breit rezipierte Kolumbus-Stich findet sich im vierten Band der „Grossen Reisen“, einer Sammlung von Reiseberichten in die neue Welt, die de Bry und seine beiden Söhne ab 1590 zweisprachig – lateinisch und deutsch – auf den europäischen Markt brachten. Ihre Serie der “Americae“ umfasste in toto dreizehn reich illustrierte Bände, die mit ihren Kupferstichen das Bild der Neuen Welt nachhaltig mitgeprägt haben. Der großformatige, in einem Kartonkoffer angelieferte Prachtband „America“ zeigt die Kupfertafeln der ersten neun Bände der Serie: Entdeckerreisen nach Virginia, Florida, Brasilien, Karibik und Zentralamerika, Mittelamerika, Peru, Rio de la Plata, Karibik, Mexiko und die Magellanstraße.

@ Verlag Benedikt Taschen

De Brys Bildformulierung mit kolonisatorischen Behauptungen und Gewissheiten stammen vom Ende des 16. Jahrhunderts, aus einer Zeit wachsender kolonialer Konkurrenz verschiedener europäischer Mächte. Im auch über das neue Medium Druckkunst ausgetragenen Propagandakrieg zwischen Katholiken und Protestanten gelang dem Calvinisten de Bry ein Spagat. In den Bänden, die im katholischen Spanien auf Latein erschienen ließ er kritische Äußerungen über die Gemetzel der Eroberer und einige frivole Nacktheit einfach weg. In den deutschen Ausgaben für den protestantischen Markt waren sie hingegen zu finden. Die Taten der katholischen Großmacht Spanien in der Neuen Welt wurden dort in düstersten Farben dargestellt. Das trug zum Entstehen der leyenda negra bei, der seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten „schwarzen Legende“, wonach Spanier fanatisch, brutal, menschenverachtend, faul und rückständig seien. In Zusammenhang mit der spanischen Dominanz im frühneuzeitlichen Europa wurde das gerne von politischen Gegnern verbreitet. Dazu gehörte auch die einseitige Anprangerung der von Spanien begangenen Verbrechen, während die Gräueltaten anderer Nationen kaum thematisiert oder verschwiegen wurden. Das gilt zum Beispiel für ihre Behandlung der Eingeborenen in Süd- und Mittelamerika und den Vergleich zur Ausrottung der Eingeborenen Nordamerikas durch Angelsachsen oder den Kolonial-Grausamkeiten von Briten, Niederländern, Franzosen oder Belgiern in Afrika. Zur Legende gehört auch die Dämonisierung spanischer Institutionen. Noch heute herrscht die Ansicht vor, die spanische Inquisition habe massiv Hexenverfolgung betrieben, während hat sie die tatsächlich oft als Aberglauben bekämpfte und gerade protestantische Geistliche, darunter auch Martin Luther, massiv zu ihr aufgerufen haben.

@ Verlag Benedikt Taschen

Weder de Bry noch seine Söhne waren je in Amerika oder der Karibik. Ihre Buchhandlung auf der Frankfurter Zeil nannten sie dennoch „Zum indianischen König“, sie wurden schwerreich. Ihre Bücher fabrizierten sie aus den Reiseberichten von Kolonisten, Forschungsreisenden und Abenteurern wie Thomas Harriot, Girolamo Benzoni, Sir Walter Raleigh oder des deutschen Landsknechts und Kanoniers Hans Staden. Für ihre Darstellungen lehnten sie sich an tatsächliche Augenzeugen wie John White, den Gründer der „verschwundenen“ Roanoke-Kolonie, oder den Maler Jacques LeMoyne de Morgues an. Wo Bildmaterial fehlte, ließen sie die eigene Fantasie spielen. Herausgeber Michiel von Groesen schätzt, dass mehr als 40 Prozent aller Kupferstiche in den Reisesammlungen de Brys frei erfunden sind. In ihrer Frankfurter Werkstatt wurden Texte verfälscht und Bildvorlagen verfremdet, oft um der Sensationslust willen.

Menschen räuchern … @ Wiki-Commons

Idealisierte edle Wilde in einem Garten Eden – unser „Paradise Lost“ lässt grüßen – nehmen dankbar die Gaben der Zivilisation entgegen – nämlich Gott und Glasperlen. Daneben stehen Szenen furchtbarer Massaker, begangen von barbarischen Wilden, aber auch von den Truppen der Kolonialmächte, die auch in Europa um Vorherrschaft ringen. Die Kupferstiche der de Brys prägten die europäische Wahrnehmung des amerikanischen Kontinents nachhaltig, einige von ihnen wurden zu Bildikonen.

Der Historiker Michiel von Groesen kommentiert jede der in dem Prachtband enthaltene Tafel. Das macht eine auch kriminalistisch spannende Lektüre.

PS. Die Ritter Spaniens, um den Bogen zum Turnierbuch Kaiser Maximilians I, zu schließen, waren eine besondere Kriegerkaste, gehärtet durch Jahrhunderte der Reconquista“, der „Rückeroberung“ der iberischen Halbinsel von den Mauren. Überall in Europa gab es damals rasselnde Ritter, aber was unter spanischer Sonne herangewachsen, geboren für Sattel und Schwert – das waren Prototypen einer auf ihre mörderische Spitze getriebenen Männlichkeit, Prototypen der entfesselten neuen Machos, die man bald ehrfürchtig „Conquistadores“, „Eroberer“, nannte. Sie verfügten über „eine fanatische Härte und einen Siegeswillen, dessen wütenden Eroberungstrieb man auch in den schlachterprobten römischen Legionen nur selten gefunden hätte“, schrieb der spanische Schriftsteller Salvador de Madariaga mit Patriotenstolz. 

Als Hernando Cortes mit seinen knapp 600 Rittern an Mexikos Küste seine Schiffe verbrannte und das Aztekenreich stürzte, folgte ein Völkermord sondersgleichen. Nach heute allseits anerkannten Zahlen lebten vor der Conquista ungefähr 25 Millionen Menschen auf dem Gebiet des heutigen Mexiko; 80 Jahre später, im Jahr 1600, war es noch eine Million. „Es handelt sich meines Erachtens um einen Rekord . . . Keines der großen Massaker des 20. Jahrhunderts kann mit diesem Blutbad verglichen werden“, urteilte Tzvetan Todorov, Semiologe am Nationalen Forschungszentrum in Paris, Autor einer Studie („Die Eroberung Amerikas – Das Problem des Anderen“).

Friedrich Nietzsche hat solche Raserei so skizziert: „Die vornehmen Rassen sind dort, wo das Fremde, wo die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang.“ Um sich auszutoben, müsse die „nach Sieg und Beute lüstern schweifende“ Bestie im weißen Mann ausbrechen aus der Zivilisation, müsse sie „wieder in die Wildnis zurück“.

Alf Mayer

  • Michiel van Groesen, Larry E. Tise: Theodor de Bry. America. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2019. Hardcover Leinen, XXL-Format 28,5 x 39,5 cm, im Schuber. 376 Seiten, 100 Euro.
  • Stefan Krause: Freydal. Medieval Games. Das Turnierbuch Kaiser Maximilians I. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2019. Hardcover, XXL-Format 36 x 36 cm, im Schuber. 448 Seiten, 150 Euro.

Ausstellungen:
15. März – 03. November 2019, Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Kaiser Maximilian I. Ein großer Habsburger

25. Mai – 12. Oktober 2019, Hofburg, Innsbruck:
Maximilian I. Aufbruch in die Neuzeit

15. Juni – 15. September 2019, Maximilianmuseum, Augsburg:
Maximilian I.: Kaiser – Ritter – Bürger zu Augsburg

27. Juli – 03. November 2019, Schloss Tirol, Südtiroler Landesmuseum:
Maximilianus: Die Kunst des Kaisers/L’arte dell’imperatore Kaiser Maximilian

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