
Zehn weitere Anmerkungen Star Trek „Picard 2“ (2022) – von Markus Pohlmeyer
1) Wir könnten anfangen, anders zu denken. Picard 2 wagt dazu viele Experimente. Diese Staffel aus dem Star Trek-Kosmos erweist sich unter anderem auch als Beziehungsdrama und Entwicklungsroman im Science Fiction-Gewand.
2) Turn around. Am Ende wird Admiral Picard der Seven das Kommando übergeben: die nicht ohne Schwierigkeiten lernen musste, dass sie Mensch UND Borg ist und bleibt (und Raffi liebt).

3) Turn around. Am Ende wird eine neue Borg-Königin (ehemals eine Frau) Picard darum bitten, provisorisch in die Föderation aufgenommen zu werden: die über Jahrhunderte hindurch gelernt hat, was es bedeutet, Borg UND Mensch zu sein. (Natürlich, damit gemeinsam eine ungeklärte galaktische Bedrohung abgewehrt werde – Spannungsbogen zu Staffel 3?)
4) Q schickt Picard in die Abgründe seiner Seele und in eine alternative, alptraumhafte Welt: die Konföderation als massenmordendes, die Galaxis versklavendes Imperium – im Grunde getrieben von Angst. Grölende Massen, öffentliche Hinrichtungen, und irgendwelche Propaganda, die das irgendwie rechtfertigen will.
5) Q werde allein sterben, aber er möchte Picard vor diesem Schicksal bewahren. Aus dem Gott und seinem Spielzeug, aus zwei alten Feinden werden Freunde, die sich am Ende umarmen.
6) Picard lernt, sich selbst zu verzeihen, da er sich – in ständiger Verdrängung – Schuld am Tod seiner depressiven Mutter gab und nicht begriff, dass sein Vater ihn beschützen wollte.
7) Und Raffi hält endlich einmal ihre Klappe … texttexttext (absolut nervig, aber total liebenswürdig) …, als Seven sie endlich küsst.

8) Unsere Helden und Heldinnen sind gealtert: „This, if nothing else, might be the most hopeful message twenty-first-century Star Trek has given the world – even if your’re over forty, you can still change your ways and turn your life around. Just look at Seven and Jean-Luc!“[1]
9) Und dann gibt es ein Juwel (Beim ersten Sehen übersah ich es), einen Dialog, eher Monolog, aus der Episode „Gnade“: Nachdem Rios gegenüber seiner heißgeliebten Ärztin Teresa, die sich für illegale Einwanderer engagiert, bekennen musste, er, ein Weltraumarbeiter komme aus (Chile und) der Zukunft, bricht die Serie durch jede Gattungskonvention (und haarscharf an einer Soap Opera vorbeigeschrammt) – das Universum hält den Atem an. Sie, auch in ihn verliebt: „Ich werde dich nicht wieder sehen. Ich würde mich gern an mehr erinnern […].“[2]
Dann auf Spanisch weiter (mit Untertiteln). „Stell dir vor, wir wären verheiratet …“ Er: „Whoa, Lady …“ „Wir haben jede Sekunde miteinander verbracht. Aber jetzt fühlt es sich an wie eine Geschäftsbeziehung. Wir reden, aber wir sprechen nicht miteinander. Darum stecken wir plötzlich fest. Buchstäblich. Wir wollten meine Familie zu Weihnachten besuchen, hatten aber eine Panne. Wir hängen in einem schäbigen Hotel fest. Wir gehen zusammen in eine Bar. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit. Ich hatte darüber nachgedacht, eine Affäre anzufangen, mit einem Kollegen.“ Er: „Versuchst du gerade, romantisch zu sein?“ (Ab hier wieder Englisch bzw. Deutsch.) Sie: „In dieser Bar erzählst du mir etwas, etwas über dich. Ich kenne dich seit 10 Jahren, aber das, was du sagst, bringt mich zum Weinen. Ich habe es nicht gewusst. So etwas solltest du mir erzählen. Bevor du wieder wegfliegst“ Rios kann darauf nicht richtig antworten, denn plötzlich Teresas Sohn dazwischen: „Mom, ich habe Bauchschmerzen!“ (Zu viele Kuchen aus dem Replikator des neu entdeckten Raumschiffs.) Bevor sie zu ihm geht, küsst sie Rios.
Das Gespräch beginnt zuerst auf Spanisch; zwar durch Raum und Zeit getrennt, bezieht sich Teresa so aber auf eine gemeinsame Basis und markiert dadurch auch eine gewisse Intimität. In ihrer Allegorie brechen Erzählzeit und erzählte Zeit vollständig auseinander, denn sie hat keine Zeit und muss wie im Zeitraffer eine mögliche Beziehung mit Rios (weil eine reale nicht möglich scheint) konstruieren und komprimieren und auf einen Kulminationspunkt hinführen. Wir haben keine zehn Jahre, um uns nichts zu sagen: bitte, gib mir etwas Relevantes von dir, woran ich mich erinnern kann. Im Von-uns-Erzählen erzählen, erschaffen wir uns und uns den anderen. Und nur in und durch diese Geschichten sind wir.[3] Teresa macht das, was Q tut: sie konfrontiert mit anderen, möglichen Realitäten. Es geht hier nicht um sog. alternative Wahrheiten, sondern um die Wahrheit in der Alternative. Denn Picard und Seven stehen immer in der Verführung durch Macht. Und Rios muss nun wie ein narratives Aschenputtel einfach den Schuh zurücklassen, an den sich Teresa erinnern will. Diese hochemotionale Szene wird banal durch ein Kuchenproblem unterbrochen. Doch Rios findet die Antwort in der letzten Folge: er werde in der Vergangenheit bleiben. Picard, zurückgekehrt, sollte später erfahren, was aus den Dreien geworden gewesen sein wird.

Liebe Leserinnen und Leser, erzählen Sie ihren Freunden und Freundinnen etwas Besonders von sich, was gut aufgehoben wäre im Schatzkästchen von deren Erinnerungen. Das bleibt.
10) Seltsame Anmerkung als Nachwort
C. L. Haven betont: „Mittlerweile aber liefert uns das Tagesgeschehen selbst Beweise für Girards Mimesis-Theorie. Sie lässt sich ebenso auf das ‚Wie du mir, so ich dir‘ der Politiker anwenden wie auf das Herdenverhalten der Twitter-Nutzer, die Zunahme von Mobbing und Gruppengewalt oder die Vergeltungssucht, die sich da und dort in den Kampf um soziale Gerechtigkeit eingeschlichen hat. Laut Girard ist Imitation eine treibende Kraft menschlichen Verhaltens. Wir alle sind schließlich soziale Wesen. Wir wollen, was andere wollen. […] Wir begehren, was wir begehren, weil wir uns so das Sein des anderen anzueignen hoffen – im Glauben, dass die Essenz dessen, was wir an ihm bewundern, auf uns übergehe […].“[4] In Kurzfassung: Neid in Kombination mit Hybris. Girard entwickelt eine komplexe Sündenbocktheorie – als Eindämmungsmechanismus von Gewalt – gerade auf dem Hintergrund der (nie richtig verstandenen) Kreuzigung des Gottessohnes. Es gibt einen Ausweg, der sehr jesuanisch klingen mag: „Girard schloss mit den Worten: ‚Wir müssen unseren Nachbarn gegenübertreten und den bedingungslosen Frieden erklären. Sogar wenn wir provoziert und herausgefordert werden, müssen wir der Gewalt entsagen, ein für alle Mal.‘ Er forderte allumfassende Vergebung, solange noch Zeit dafür ist. Mit dieser Einsicht könnten wir einer anderen Zukunft entgegengehen.“[5]

Picard 2 zeigt eine solche andere Zukunft. Q und die Borg-Königin haben etwas gesucht und gefunden: einen Freund in Picard. Seven und die Borg-Königin imitieren nicht, sie integrieren in ihrem Wesen das tatsächlich Andere ihrer selbst. Rios integriert Zukunft und Vergangenheit, Teresa Vergangenheit und Zukunft, das Gottwesen Q seine Sterblichkeit, und Picard seine schmerzvolle Geschichte und romantischen Gefühle. Irgendwie Versöhnung. Für einen schwebenden Moment lang der Hauch von Paradies, aber was wäre die Galaxis ohne Probleme, Geheimnisse, Herausforderungen und einer dritten Staffel von Picard?
Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte und Gedichte bei uns hier.
[1] R. Britt: Phasers on Stun! How the Making (and Remaking) of Star Trek Changed the World, Penguin Random House 2022, 313.
[2] Alle direkten und indirekten Zitate entnommen aus: Star Trek PICARD. Staffel Zwei. © 2022 CBS Studios/Paramount. Zeichensetzung von. Beim Transkribieren könnten sich kleinere Fehler eingeschlichen haben.

[3] Und hier könnte ich ungebremst ausholen: W. Schapps „In Geschichten verstrickt“, O. Marquards „homo narrans“ oder D. Henrichs Überlegungen zum Wahrheitsgehalt von Fiktion, Kierkegaard … ach ja, in einem anderen Universum.
[4] C. L. Haven: Nachwort, in: R. Girard: Warum kämpfen wir? Und wie hören wir auf? – Imitation und Streit, übers. v. U. Bossier u. hg. v. C. L. Haven, Stuttgart 2022, 113-119, hier 114.
[5] Haven: Nachwort (s. Anm. 4), 119.