Geschrieben am 2. Mai 2023 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2023

Peter Münder über einen London-Reiseführer

Nicht nur für Shopper, Schlemmer, Cocktail-Spezialisten

Die prächtigen Fotos dieses Bandes von Sara Santini und Andrea Di Filippo  suggerieren zwar unübersehbar, dass hier Instagram-Fans bedient und  informiert werden sollen, die ihre Technik und Sichtweise, die Beeinflussung von Trends, die Suche nach starker Authentizität und die  Darstellung origineller und einmaliger Londoner Locations erläutern wollen. Aber die Foto-Infos werden neben Hinweisen auf Sehenswürdigkeiten, Geschäfte, Hotels und Restaurants und historische Hintergründe inklusive Landkarten und vielen Hintergrund-Infos  vermittelt – wie im klassischen Reiseführer. „London wie es keiner kennt“ ist also  ein Tool für Multi-Tasker, die Abenteuersuche in der Metropole betreiben und zwischen bekannten Sehenswürdigkeiten, abgelegenen Idyllen und luxuriösen Oasen anspruchsvolle Highlights herausfiltern und optimal darstellen wollen. – Von Peter Münder 

Ihre London-Expertise und Foto-Kenntnisse haben sich Sara Santini und Andrea Di Filippi auf die harte Tour erworben: Sie siedelten 2015 aus Italien nach London über, wo sie sich mit prekären und streckenweise unbezahlten Jobs über Wasser hielten und möglichst viele exotische, entlegene Winkel erforschten. Als sie sich nach ihren ungewöhnlichen und auf großes Interesse stoßenden Recherchen zur Gründung der London-Community „Pretty Little London“ entschlossen, stieg die Zahl der Follower bald auf 100.000 an.

In ihrem Vorwort betonen sie ihre Fassungslosigkeit darüber, nun tatsächlich ihren London-Band veröffentlicht zu haben. Ihr exotischer Mix aus anspruchsvoller Ästhetik und extravaganten Locations übertrifft das übliche Instagram-Segment der Shopper, Schlemmer, Luxustaschen-Schnäppchenjäger und Cocktail-Spezialisten. Eins dieser  Beispiele ist ihr Hinweis auf eine der ältesten Londoner Kirchen – nämlich Saint Mary Aldermary. Die wurde beim Großen Brand von 1666 schwer beschädigt und vom St. Paul´s-Erbauer Christopher Wren später neu gestaltet. Heute kann man in dieser entweihten Kirche, die sich nun „Host Café“ nennt, Kaffee und Kuchen verzehren und beim Betrachten der im gotischen Stil vollendeten Säulen das Grübeln über das Anwerben neuer Instagram-Follower auch mal ausblenden.

Screenshot vom Blog

Denn Shopping-und Restaurant-Tipps, Jubel-Seufzer für weltberühmte Luxus-Hotels wie das Savoy präsentiert der Band reichlich. Umso wohltuender, wenn auch kurze historische Exkurse über Museen oder Beschreibungen ungewöhnlicher Bauwerke eingeblendet werden und Ausflugs-Empfehlungen nach Cambridge, York  und Greenwich oder auch eine  Exkursion zur malerischen Mayfield Lavendel-Farm in Surrey beschrieben werden. Dort  genießen Feinschmecker zwischen Juli und August gerne Köstlichkeiten wie  Lavendel-Eis, hausgemachten Lavendelwein, Kekse, Tee und den beliebten Lavendel-Sahne-Tee. Dass zum leuchtend blauen Lavendelfeld auch eine alte ausrangierte knallrote Telefonzelle abgebildet ist mit der Aufforderung an die Leser, „Zücken Sie unbedingt Ihre Kamera für dieses Foto“, gehört offenbar in die Abteilung „Authentische Motive ambitionierter junger Foto-Künstler“.

Die Instagram-Weiterbildung gehört als Bestandteil dieses vielseitigen Buchs mit einem Trend zum euphorischen Gesamteindruck jedenfalls   dazu. Vielleicht hätte man einige  Werbe-Jargon-Superlative wie „atemberaubende Fünf-Sterne-Unterkunft“ (für das Cadogan-Hotel) oder „perfekte Wahl für Sommeraufenthalt“ (für Mondrian Shoreditch) doch einsparen  können. Trotzdem inspiriert die breit gestreute und durch mehrere Epochen führende Neugier der Verfasser.

Die Grenzen der Ästhetik

Aber einige kritische Anmerkungen zum Ausstellungs- und Konzert-Rummel unserer Tage und entsprechender Instagram-Exzesse dürften  dennoch angebracht sein. Auch angesichts der gigantischen Besucherzahlen und damit einher gehender turbulenter Bilderschlachten, bei denen die bisher subtil gehegte Vorliebe für alles Ästhetische zugunsten eines  oberflächlichen kommerziellen Rummels auf der Strecke bleibt. 

Über „Die Grenzen des Ästhetischen“ hatte ja schon Karl Heinz Bohrer vor 25 Jahren in seinem Band (Hanser Verlag, München 1998, 202 S.) sinniert, darin den Rausch der Bilder im Kontext der Literatur, Malerei und Fotografie behandelt und das Klagelied über einen plumpen Hedonismus angestimmt, das bereits den Instagram-Boom antizipierte („als ereignislose Qualität der Dinge ohne Magie“). Sicher wäre es lohnend, hier nochmal auf  Walter Benjamins Traktat über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ einzugehen oder auf seine „Kleine Geschichte der Photographie“ – das würde jedoch zu weit  führen und auf  Freunde der Pretty-Little-London-Community irritierend wirken. Im Instagram-Kontext möchte ich hier nur die Tendenz konterkarieren,  Fotografie als kommerziellen Prozess in den Mittelpunkt zu rücken und ästhetische Aspekte vor allem für Zuwachsraten der Instagram-Gemeinde zu instrumentalisieren.

Susan Sontags Kritik an einer konsumierten und produzierten Bilderflut

Auch Susan Sontag (1933-2004) hatte eigentlich schon in ihrem 1977 veröffentlichter Klassiker „On Photography“ („Über Fotografie“  1980 auf Deutsch erschienen)  anregende Thesen zum Instagram-Komplex geliefert, obwohl es zu ihrer Zeit weder das Phänomen noch diesen Terminus gab und sie vor allem den aggressiven Aspekt einer Kamera als „Räuberwaffe“ betonte. Diese Bezeichnung gebrauchte sie mit Bezug auf einen Reklametext über die Technik einer Yashica Elektro 35 GT. Deren Qualitäten wurden damals als „Produkt des Raumzeitalters“ gepriesen: „Keine technischen Kinkerlitzchen. Nur zücken, zielen, schießen – Das Computergehirn und die elektronische Blende besorgen den Rest.“       

Die  extreme  Leichtigkeit des zu betätigenden Auslösers, die enorme  Menge der hergestellten Bilder – all  diese technischen „Errungenschaften“ irritierten Susan Sontag und veranlassten sie, die gesellschaftlichen Verhältnisse der USA unter sozialkritischen Aspekten zu analysieren. Ihr Fazit lautete: „Der entscheidende Grund dafür, alles zu fotografieren, liegt in der Logik des Konsums selbst. Konsumieren heißt verbrennen, verbrauchen – und beinhaltet damit zugleich das Bestreben nach Ergänzung. Indem wir Bilder machen und sie konsumieren, provozieren wir in uns das Bedürfnis nach mehr und mehr Bildern. Die Macht der fotografischen Bilder leitet sich ab aus der Tatsache, dass sie unabhängige, materielle Realitäten sind, höchst informative Ablagerungen dessen, was sie ausgesendet hat. Bilder sind realer als irgend jemand hätte ahnen können. Und gerade, weil sie eine so unerschöpfliche Quelle sind, die keine noch so ungehemmte Konsumgier erschöpfen kann, besteht umso mehr Grund, sie zu erhalten.“ 

Trotz ihrer kritischen Einwände gegen die extreme Bilderflut respektierte Susan Sontag den Jagdinstinkt und die Abenteurerlust des Fotografen, den sie  in ihrem Essay als „bewaffnete Spielart des einsamen Wanderers“ bezeichnete, der sich an das großstädtische Inferno heran pirscht und durchstreift“. So ähnlich sind auch Sara Santini und Andrea di Filipo gepolt, deren origineller Forschergeist diesen beeindruckenden Mix aus Farbenrausch, historischen Exkursen und spannenden  Ausflugs-Tipps zustande brachte. 

Peter Münder

Sara Santini & Andrea Di Filipo: London – wie es keiner kennt. Ein Streifzug durch Londons schönste Orte (Pretty Little London, 2021). Midas Verlag Zürich 2023. 224 Seiten, Hardcover, 25 Euro.

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