Alle Jahre wieder: ein neuer Ripper-Kandidat
Wieder mal dreht sich das Ripper-Kandidaten-Karussell: Nun soll sich also der polnische Friseur Aaron Kosminski als Jack the Ripper betätigt haben – ein 1888 am Tatort gefundener dreckiger Schal soll es beweisen. Zeit für den Ripper-Check vor Ort: Impressionen vom Londoner „Ripper Walk“, als der Hype über sensationelle Ripper-Thesen von Patricia Cornwell hochkochte und der neueste Kandidat der Maler Walter Sickert war – ein Rückblick von 2003 – seitdem gibt es längst weitere Kandidaten.Der Ripper-Check-Update von Peter Münder.
Vom Tower Hill hat man einen herrlichen Blick auf die restaurierte Tower Bridge und den geschichtsträchtigen Tower. Wenn hier abends um halb acht der „Ripper Walk“ beginnt und die zur Gruseltour versammelten Teilnehmer im dichten Gedränge auf den Führer warten, sind die flackernden Blitzlichter japanischer Foto-Touristen unten auf der berühmten Brücke vom Eingang der U-Bahnstation Tower Hill aus deutlich zu erkennen. „Wir müssen uns in zwei Gruppen aufteilen, da der Andrang zu groß ist“, erklärt Peter, unser Führer. „Normalerweise finden sich rund dreißig Interessenten ein, heute haben wir aber über sechzig Ripper-Fans!“
Peter hat eine geschulte Schauspielerstimme, trägt einen breitkrempigen Hut und ist eigentlich Historiker. Seit sieben Jahren ist er bei „London Walks“, dem Spezialveranstalter, der auch Kneipenrundgänge und Touren zu den Wirkungsstätten von Sherlock Holmes, Charles Dickens, den Beatles und Oscar Wilde anbietet. Peter kennt die meisten Bücher und Spekulationen über Jack the Ripper und weiß natürlich auch, dass das neu entfachte Interesse am Ripper-Phänomen durch das Buch „Wer war Jack the Ripper“ von Patricia Cornwell und den mit Johnny Depp verfilmten Ripper-Streifen „From Hell“ ausgelöst wurde. Die US-Queen of Crime hatte ja sechs Millionen Dollar investiert, um Gemälde, Briefe und Dokumente von Walter Sickert zu erwerben und mit Hilfe von DNS-Analysen den Künstler als Killer zu entlarven. Viele amerikanische oder skandinavische Touristen wollen sich aber weniger davon überzeugen, ob der aus einer dänischen Künstlerfamilie stammende, in München geborene Maler Walter Sickert (1860–1942), der als Fünfjähriger mit seiner Familie nach London übersiedelte, tatsächlich der Serienmörder war, der im Herbst 1888 fünf Prostituierte auf bestialische Weise umbrachte. Im Mittelpunkt einer Ripper-Tour steht vor allem der Versuch, das Ambiente und die Lebensbedingungen im East End während der viktorianischen Epoche möglichst hautnah nachzuempfinden.
Patsys Ripper
„Wir machen erst mal den Rundgang, hören uns die nackten, grausamen Fakten an und werden dann am Schluss über mögliche Ripper-Kandidaten und die vielen abstrusen Thesen der Ripperologen spekulieren“, erklärt Peter. Trotzdem ist sein entnervtes „rubbish“ nicht zu überhören, als er auf Cornwells These angesprochen wird – er hält die Schöpferin der Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta für eine publicity-süchtige Schaumschlägerin und Cornwells These für elaborierten Quark. Außerdem sei bereits1990 das Buch von Jean Overton Fuller erschienen, das Sickert damals schon mit dürftigen Beweisen überführen wollte. Nur weil der Maler und Schauspieler Sickert nach drei Penis-Operationen impotent war, gerne in verrufenen Vierteln untertauchte, düstere Motive mit leichten Mädchen bevorzugte und als unstet und unberechenbar galt, soll er laut Patricia Cornwell Jack the Ripper gewesen sein.
Der Ripper wurde ja nie geschnappt, was an den schlampigen Ermittlungsmethoden der unzureichend ausgerüsteten Polizei lag. Man hatte damals zwar mehrmals einen mit schwarzem Cape und Zylinder bekleideten Herrn in der Nähe der Tatorte gesehen – aber immer nur nachts und aus größerer Entfernung. Die Suche nach diesem mysteriösen Serienmörder gestaltete sich bald zum Ratespiel. Beliebte Killer-Kandidaten waren Selbstmörder mit dubiosem Hintergrund wie etwa Montagu Druitt, polnische Seemänner, die in London einen Job als Schlachter fanden, oder Mitglieder des Königshauses mit ausgeprägtem Hang zum Sadismus wie der Duke of Clarence.
Detailfreudig
„Lets go, ruft Peter. An den Überresten der alten Stadtmauer aus römischer Gründerzeit vorbei geht es zur Whitechapel Road und weiter in die finsteren Gassen um die Hanbury Street, wo man am 8. September 1888 um sechs Uhr morgens die verstümmelte, aufgeschlitzte Leiche der 45-jährigen Prostituierten Annie Chapman fand. Wir marschieren durch düstere Torbögen und inspizieren verlassene Hinterhöfe, doch die blankpolierten Firmenschilder und hell erleuchteten Büroräume am schmucken Mitre Square, wo das vierte Ripper-Opfer Catherine Eddowes am 30. September um 1:44 Uhr nachts von Constable Edward Watkins blutüberströmt und „aufgeschlitzt wie ein Schwein“ auf dem Pflaster liegend gefunden wurde, lassen die Aktivitäten des Rippers wie mysteriöse Vorgänge aus grauer Vorzeit erscheinen. Auch wenn Peter akribisch die deprimierenden Lebensbedingungen der arbeitslosen Frauen beschreibt, die sich prostituierten, um das nötige Kleingeld für die Doss Houses aufzubringen, in denen sie sich für vier Pence die Nacht ein Bett mit einer anderen Leidensgenossin teilten.
„Hier lag damals die 46-jährige obdachlose Catherine Eddowes, die erst kurz zuvor wegen Trunkenheit in Gewahrsam genommen und nach vierstündiger Ausnüchterung wieder entlassen war“, erklärt der auf einer Parkbank stehende Peter. Er zeigt in die Mitte des Innenhofes und beschreibt mit beinah sadistischer Lust am grauenhaften Detail, wie der Ripper der Frau die Kehle durchgeschnitten und den Unterleib aufgeschlitzt hatte. „Ihre Eingeweide hatte der Ripper ihr über die Schultern gelegt, die Nase war durchtrennt und beinah abgeschnitten, die linke Niere feinsäuberlich herausoperiert und die Gebärmutter herausgeschnitten. Dazu gehören schon gründliche anatomische Kenntnisse und großes handwerkliches Geschick. Auch deswegen vermuteten viele Experten, dass es sich beim Killer um einen Mann mit medizinischen Kenntnissen und guter Ausbildung handeln musste“, konstatiert unser Führer so trocken, als würde er Wasserstandsmeldungen verlesen.
OMG
Während seines kurzen Chirurgie-Exkurses werden zwei junge Schwedinnen ziemlich blass und umklammern sich ängstlich, eine Amerikanerin stöhnt entsetzt „Oh my God!“, während sich eine Japanerin angeekelt abwendet und Halt an einer Hauswand sucht. „Keine Angst, girls“, beruhigt Peter die Frauen, „der Ripper lebt ja zum Glück nicht mehr“. Als wir schließlich genug gehört haben über herausgetrennte Gebärmuttern, aufgeschlitzte Bäuche und durchschnittene Kehlen, steuert unsere kleine Ripperologen-Gruppe das aus dem 16. Jahrhundert stammende „Ten Bells“ Pub in der Commercial Street an, das damals von den Straßenmädchen frequentiert wurde. Hier soll Annie Chapman sich noch kurz vor ihrem Tod einen Drink an der Bar genehmigt haben.
In der düsteren Kneipe hängen uralte Zeitungsberichte und neueste Artikel über Ripper-Spekulationen an der Wand, hinter der Theke liegen Ripper-T-Shirts und Teebecher in den Regalen. Kein Wunder, dass die Gerüchteküche in diesem Ripperologen-Hauptquartier immer noch mächtig brodelt. Nun kann auch Peter mit seinen Ripper-Favoriten zum Zuge kommen. „Meine Nummer eins ist der Duke of Clarence, gleichauf liegt aber ein Freimaurer-Trio, das sich wohl gegenseitig gedeckt hat. Todsicher ist jedenfalls, dass es Walter Sickert nicht war“, behauptet Peter. „Der war doch viel zu oft, gerade zu den fraglichen Tatzeiten, gar nicht in der Stadt gewesen. Mal war er auf dem Kontinent, etwa in Dieppe, wo er gerne arbeitete, oder sonst irgendwo außerhalb Londons. Die Cornwell hielt den armen Mann ja schon wegen seiner Penisfistel für verdächtig und weil irgendwelche Spaßvögel für ihre Schmähbriefe an die Polizei damals so ähnliches Briefpapier benutzten wie Sickert selbst. Der Ripper ein Maler – dass ich nicht lache!“
Der neue Ripper
Alle Jahre wieder geistert ein neuer Ripper durch die Serienkiller-Fan-Gemeinde. Das Spiel ist inzwischen zum pseudowissenschaftlichen Quiz avanciert, weil jeder neue Kandidat angeblich mit frisch entdeckten DNA-Spuren „definitiv“ überführt werden kann. Ideal sind auch hingerichtete Mörder, denen man bequem weitere Gräueltaten anhängen kann, weil sie zum Tatort irgendeinen Bezug hatten. Der pensionierte englische Kommissar Trevor Marriot hatte vor drei Jahren den deutschen Seemann Carl Feigenbaum als Jack the Rippet geoutet: Schließlich fuhr der regelmäßig auf Schiffen, die zwischen London, Bremerhaven und New York verkehrten und war 1896 in New York als Frauenmörder hingerichtet worden.
Und nun also der polnische Figaro Kosminski, den Russell Edwards jetzt in seinem Schmöker „Naming Jack the Ripper“ als den ultimativen Kandidaten präsentiert: Aus den Archiven von Scotland Yard hatte er 2007 bei einer Auktion einen Schal erworben, der in der Nähe des Tatorts gefunden wurde, an dem man am 30. September 1888 Catherine Endows mit aufgeschlitzter Kehle gefunden hatte. Und ein Zeuge will damals den Friseur ganz in der Nähe mit einem Ripper-Opfer gesehen haben. Übrigens war der blutige Schal ungewaschen und enthielt sogar Sperma-Spuren. Dass seit 1888 Dutzende von „Experten“ den Schal befingerten, ein Bobby ihn sogar seiner Frau geschenkt hatte, die ihn nie umlegte – geschenkt. Schließlich hatte der polnische Friseur ja in seinem Londoner Salon scharfe Rasiermesser, zum Aufschlitzen der Frauen geradezu ideale Tatwerkzeuge … Alles klar, Herr Kommissar?
Peter Münder
Dieser Text aktualisiert eine in der FR vom 13.12. 2003 erschiene Version.
Jack the Ripper Walk: Täglich 19:30 Uhr ab Tower Hill Underground Stn. (5 Pfund). Tel. London Walks 020-76243978 oder www.walks.com.
Patricia Cornwell: Wer war Jack the Ripper? Porträt eines Killers. Hoffmann und Campe Verlag 2002. 415 Seiten. 22,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Martin Fido: Murder Guide to London. Weidenfeld & Nicolson, London 1986.
Donald Rumbelow: The Complete Jack the Ripper. Penguin Books, London 1988.
Gerald Wagemann: London von Scotland Yard bis Jack the Rippet. Ein Führer zu 350 Kriminalschauplätzen. Eulen Verlag, Freiburg 2000.
Russell Edwards: Naming Jack the Ripper. Sidgwick & Jackson, London 2014.
Peter Münder über „Dark Tourism“.