Geschrieben am 1. November 2023 von für Crimemag, CrimeMag November 2023

Peter Münder über das Buch von Bernie Sanders

Der Kämpfer gegen grenzenlose Gier und unmoralischen Hyper-Kapitalismus kommt aus Vermont

Sein soeben veröffentlichtes Buch ist eine fulminante, kritische  Bestandsaufnahme all der Defizite  und Katastrophen, unter denen die USA bereits seit Jahrzehnten leiden. Bernie Sanders, Jahrgang 1941, zweifacher US-Präsidentschaftskandidat, vertritt seit 2007 den Bundesstaat Vermont im Senat und  bringt die gigantische Misere mit dem griffigen Titel „Es ist Okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“ auf den Punkt. – Peter Münder hat seine Besprechung mit angezogener Handbremse geschrieben, da Bernie so überzeugend und kristallklar schreibt, dass die Rezension streckenweise zur Huldigung zu werden droht.

„Hören wir auf zu schwafeln! Erst wenn wir die Gier der amerikanischen Oligarchen bekämpfen, Krankenversicherungen für alle und akzeptable Mindestlöhne haben, können wir anfangen, Amerikas Versprechen due verwirklichen!“(Bernie Sanders) 

„Je älter ich werde, desto wütender werde ich auf das hyperkapitalistische System, in dem wir leben, und desto mehr sehne ich mich nach tiefgreifenden Veränderungen in diesem Land“, lautet der erste Satz, mit dem Sanders die Gier und Verachtung für alle Regeln des Anstands bekannter Nimmersatt- Hyper-Milliardäre wie Elon Musk, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg anklagt. Die Gier der Oligarchen und Plutokraten hält Bernie nicht nur für ungerecht, sondern auch für zutiefst unmoralisch. Für gesellschaftspolitische Flickschusterei oder schöngeistige Utopien sei jedenfalls keine Zeit mehr, meint er. Die Politik der kleinen Schritte hält er für eine Verhinderungstaktik, mit der nur der status quo stabilisiert werde. Ganz konkret und pragmatisch hat er daher  auf seiner Agenda die neuralgischen Punkte erfasst, die anders reguliert oder grundlegend in Frage gestellt werden sollen: Warum ist es möglich, fragt er etwa  im Kapitel „Schluss mit der Gier im Gesundheitssystem“, dass eine  Krankenversicherung in den USA mit ca. 12.530,- Dollar jährlich doppelt so teuer ist wie in Großbritannien (5.268 Dollar pro Kopf),  Kanada( 5.370,- Dollar), Deutschland (6.731,- Dollar) und aufgrund des üppigen   Ölexports und der gigantischen Staatseinnahmen in Norwegen sogar nur 350,- Dollar pro Jahr? Sanders macht für die desolate Lage des US-Gesundheitssystems die Profitgier, Dysfunktionalität und die falsch gesetzten Prioritäten des derzeitigen Systems verantwortlich. Das habe dazu geführt, dass über 85 Millionen Amerikaner sich keine Krankenversicherung leisten können und jährlich ca. 60 000 Amerikaner sterben. Dies, weil sie medizinisch nicht versorgt werden. Gleichzeitig erzielten 2021 die sechs größten US-Versicherungsunternehmen gigantische Gewinne von 60 Milliarden Dollar, wobei der Spitzenreiter United Health Group allein 24 Milliarden Dollar Gewinn machte. Die CEOs dieser Unternehmen wurden alle jährlich mit einem  „Vergütungspaket“ in Höhe von ca. 20 Millionen Dollar „belohnt“. 

Ja, diese Gier und die Verachtung für alle Regeln des Anstands sei nicht nur ungerecht und zutiefst unmoralisch, wie Sanders schon in seiner Einleitung konstatierte. Er liefert noch weitere empörende Beispiele aus dem Hyper-Kapitalismus-Tollhaus und er hat natürlich auch Recht, wenn er im Kontext der allgemeinen Plutokraten-Jagd auf Putin den Vergleich zu den bekannten amerikanischen Hyper-Milliardären Musk, Bezos und Zuckerberg herstellt und fragt, ob deren unersättliche Gier etwa positiver einzuschätzen wäre? 

Als Bernie Sanders vor drei Jahren die Einführung einer Super-Steuer für Milliardäre vorschlug, um dringende soziale Leistungen für Bedürftige  anbieten zu können, wurde er von Elon Musk sogar noch dummdreist verhöhnt („Ich hatte keine Ahnung, dass Sie  noch lebten“). Diese Reichensteuer hatte zwar keine Chance, ernsthaft von Reaktionären im Weißen Haus oder konservativen Minderheiten erörtert oder sogar verwirklicht zu werden. 

Die Anti-Trump-Kampagne

Aber das kann noch passieren, denn inzwischen sind immer mehr Demokraten sensibilisiert worden durch Bernies empathisch aufgeladenes Sozialempfindenetwa während der Kampagne von 2020 für grundlegende US-Reformen und durch die ebenfalls  2020 initiierte Anti-Trump-Kooperation mit Joe Biden zur Verhinderung der Wiederwahl des notorischen Lügners und Monomanen Trump. Diese Anti-Trump-Kampagne hatte jedenfalls Millionen mobilisiert, die Donald Trumps mittelalterliche Thesen über Corona und die Schädlichkeit moderner Medizin nicht mehr ertragen konnten und oft genug auch nicht überlebt hatten. 

Wie Bernie tickt, versteht man sofort bei der Lektüre des Kapitels „Kampfansage an Trump“, das akribisch demonstriert, wie er die Zusammensetzung der Experten für die Arbeitsgruppen über die sechs gravierendsten Krisensektoren – nämlich Wirtschaft, Gesundheitsfürsorge, Bildung, Klimawandel, Zuwanderung und Strafrecht – organisierte. Sanders verweist ausführlich auf diesen Abschnitt über das „progressivste politische Programm in der Geschichte der Demokratischen Partei“ und geht auch auf Aspekte zum Abtreibungsrecht, Rassismus sowie auf Trumps Betrügereien ein. Das Bedrohungs-Szenario durch Autokraten wie Trump, die Demokratie, Anstand und Menschlichkeit zerstören, verbindet Sanders hier ganz bewusst mit einem Hinweis auf seine Familie, um zu verdeutlichen, dass er kein Freund überflüssiger Phrasen oder dramatischer Effekte ist. Im O-Ton Bernie Sanders:

„Ich bin Jude, meine Familie stammt aus Polen. Die meines Vaters wurde von Hitler fast vollständig ausgelöscht. Ich bin mir der Gefahr durch weißen Nationalismus und andere Formen von Rassismus zutiefst bewusst. Das hatte ich im Kopf, als ich in meiner Rede vor dem Konvent gelobte: Solange es mich gibt, werde ich mit anderen Progressiven, Moderaten und, ja, mit Konservativen daran arbeiten, diese in Gefahr geratene Nation zu schützen, für deren Verteidigung so viele unserer Helden gekämpft haben und gestorben sind.“  

Ja, Bernie ist einer der ganz wenigen Zeitgenossen, der absolut glaubwürdig ist mit seiner Abscheu vor Phrasen, Klatsch und Flachsinn angesichts der in Gefahr geratenen Nation. Mitunter übertreibt er zwar einzelne kritische Entwicklungen, die ihm fragwürdig erscheinen und er überbewertet deren Stellenwert-   wie etwa im Medien-Kapitel, indem er auf die Gefahren des Fernsehens und der im Werbe-TV hochtourig aktiven Verdummungsmaschine hinweist. Die gigantischen Medien- Monopole sind natürlich kritische Massen, deren Einfluss auf Meinungsbildungsprozesse zu propagandistischen Verwerfungen und abartigen Reaktionen führen können – aber auch Fox News  kommt inzwischen in turbulente Gewässer, und Lernprozesse vor dem TV haben viele Amerikaner inzwischen (trotz Trump) auch absolviert – wenn auch hauptsächlich aufgrund von Bernies Nachhilfe-Lektionen. 

Bernies Buch ist nicht nur Okay, es ist tatsächlich das Buch der Stunde und unserer chaotischen, bedrohlichen Zeit, in der Autokraten Hochkonjunktur haben, plötzlich und unvorhersehbar Kriege ausbrechen und viel zu viele deutsche politisch aktive Wichtigtuer (nicht nur in Berlin) heiße Luft produzieren, um die Welt zu retten, die sie beim  Jetten um die Welt beäugen. Ich bin jedenfalls beeindruckt und begeistert, dass es so einen scharfsinnigen, uneitlen Politiker wie Bernie Sanders mit dem Blick für das Wesentliche gibt, der entscheidende Fragen unserer Zeit (nicht nur in den USA!) erörtert und analysiert. Sowohl mit lockerem Schwung vor uns ausbreitend, aber auch tiefsinnig in einem bedrohlichen Kontext seine Wut ablassend. So dass der furor alienus auch uns Teutonen mitreißen kann. Was für ein Hochgenuss, in diese Lektüre eintauchen zu können! 

Peter Münder

Bernie Sanders (mit John Nichols): Es ist Okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein (It’s OK to be Angry About Capitalism, 2023). Aus dem Amerikanischen von Richard Barth, Enrico Heinemann und Michael Schickenberg. Tropen Sachbuch, Stuttgart 2023. 432 Seiten, 26 Euro.

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