Abenteuerliche Spurensuche im nebulösen Zeitfenster

Michael Ondaatjes Roman „The English Patient “ (1992) war eine aus diversen Mosaiksteinen zusammengesetzte biographische Spurensuche, die in den diffusen Nebel einer verschwommenen Vergangenheit führte. In „Warlight“ („Kriegslicht“) beschreibt der aus Sri Lanka stammende, jetzt in Kanada lebende 75jährige Lyriker und Romancier nun die Suche der jugendlichen Geschwister Nathaniel und Rachel nach ethischen Normen im zerbombten Nachkriegs-London. Nathaniels Rückblende fünfzehn Jahre später auf diese befreiende Initiations-Phase, in der ohne elterliche Obhut alles möglich schien, kreist um kleinkriminelle Machenschaften, Geheimdienst-Aktivitäten der abgetauchten Mutter und akribische Akten-Analyse in Regierungs-Archiven. – Von Peter Münder.
„In Sri Lanka hatte ich bereits unterschiedliche Schulen besucht, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, was England überhaupt war. Ich hatte bis zu meiner Ankunft in England 1954 noch keinen einzigen englischen Roman gelesen, und als ich vier Tage nach meiner Ankunft aufs Dulwich College geschickt wurde, hatte ich den Eindruck, ein fremdes Universum zu betreten. Das Gleiche passierte mir später in Kanada. Ich wurde in meinem Leben also zweimal aus dem Fenster gestoßen und musste auf meinen Füßen landen“.
(Michael Ondaatje im Interview mit der NZZ, 13. 11. 2018)
Das sei doch alles keine große Sache, eröffnen die Eltern dem 14jährigen Sohn Nathaniel und der 16jährigen Tochter Rachel: Da der Vater bei Unilever in Singapur in die Asien-Zentrale befördert wurde, würden sie die Kinder eben für ca. ein Jahr im zerbombten London zurücklassen, wo sich einige Bekannte um sie kümmern würden. Außerdem würden die Geschwister ja demnächst in ein Internat eingeschult, also wäre das alles geregelt. Und der Vater, der sich eh stärker für interessante Flugzeuge interessiert, erzählt begeistert vom Avro Tudor I, dem Schwestermodell des legendären Lancaster-Bombers, das eine Spitzengeschwindigkeit von 500 km/h erreicht. Mit diesem Wunderflieger wäre er demnächst unterwegs und mindestens zweimal müssten sie in andere Maschinen umsteigen!
Dann sind die Eltern also mal weg – aber Nathaniel und Rachel sind weder entrüstet noch deprimiert, sondern eher überrascht und gespannt auf diese neue Phase: Wer sind diese Leute, die sich um sie in Ruvigny Gardens in Putney kümmern sollen, wie werden sie beide im Internat klarkommen?

Michael Ondaatje, der Spezialist für ambivalente Darstellungen fragmentarischer Lebensläufe, zeigte ja schon in „Der Englische Patient“ , „Anils Geist“ und „Katzentisch“, dass er seine narrative Weichzeichner-Technik für das Erzielen besonderer Spannungsmomente, aber auch für das Verwischen schwer zu interpretierender Spuren einsetzt: Die ziemlich eindeutigen Figuren/ Szenen/ Fakten verschwinden so allmählich im obskuren Nebel und locken den Leser auf weitere verwinkelte investigative Entdeckungstouren, wo er aber auch riskiert, irritiert und ratlos zurückzubleiben. Die vom Erzähler eingestreuten Digressions (über Londoner Hotels, Dachklettern, Strohdächer, Partisanen-Aktivitäten auf dem Balkan, das Anfertigen von Fliegen zum Fischen oder sogar von Schachstrategien sind ja als praktische Erklärungen und Hinweise für die Geschwister gedacht, die sich schnell aus dem Internat verabschiedet hatten und nur noch gelegentlich am Schul-Unterricht teilnehmen. Der hagere „Motte“ und der flinke Weltergewichtler „Darter“ sind für die Geschwister ideale, liberale und souveräne Mentoren, die Nathaniel und Rachel freien Lauf lassen und ihnen helfen, den bürokratischen Schulapparat lässig zu überlisten. Übertrieben kulturbeflissen oder wichtigtuerisch geriert sich die „Motte“ allerdings, wenn Mahlers Noten-Anmerkung „schwer“ gleich mehrmals als Lebensweisheit angepriesen wird – im englischen Original bleibt „schwer“ übrigens im Text erhalten und soll als Maxime für kommende Lebens-Turbulenzen den Jugendlichen ein moralischer Wegweiser sein – echt jetzt?!
Coming of Age am Katzentisch

Das in „Kriegslicht“ dominierende Coming of Age-Motiv gab es übrigens schon in „Katzentisch“, wo der elfjährige Protagonist sich bei der Überfahrt von Sri Lanka nach England wie Nathaniel in „Kriegslicht“ an einem Tisch mit lauter Fremden wiederfindet und sich fasziniert in die Erwachsenenwelt hineintastet. Diese autobiographischen Splitter-Episoden des elfjährigen Ondaatje, der nach der Scheidung der Eltern bei diversen Familienangehörigen noch in Ceylon blieb und erst ab 1954 in London mit seiner Mutter zusammenlebte, finden sich auch in anderen Werken.
Die verstörenden Bürgerkriegsgräuel in Sri Lanka, die Anil (in „Anils Geist“, 2000) mit ihrer Familie erleidet, schildert Ondaatje streckenweise in unberechenbar angelegten Episoden, deren Kausalzusammenhänge oder chronologische Anordnung irrelevant zu sein scheinen – die Bilder sind dominierend. In „Kriegslicht“ gewöhnen sich die von den Eltern allein gelassenen Geschwister zwar an den Bienenzüchter und andere schrille Gestalten, die in ihrem Haus erscheinen und ihnen ganz spontan und auch zu später Stunde Gesellschaft leisten. Aber hinter der extrem gebildeten und wissensdurstigen Ethnologin und Meteorologin Olive, die den Jugendlichen bei Nachtwanderungen im Wald die Geräusche von Dachsen, Vögeln und Kleintieren erklärt, offenbart sich auch eine zweite Dimension, die ihre Abenteuerlust als ideale Voraussetzung für Geheimdienstaktionen andeutet. Die beiden kuriosen Mentoren und Leitfiguren dieser komischen Vögel sind Motte und Darter. Ihr krimineller Hintergrund wird schon im ersten Satz des Romans angedeutet; sie haben sich im zerbombten London der Nachkriegsjahre ganz gut arrangiert mit diversen obskuren Aktivitäten, mit denen sie durch faszinierende Grauzonen driften: Darter nimmt Nathaniel mit auf nächtliche Schmuggelfahrten über die Themse, wo Windhunde aus Calais dann mit gefälschten Papieren und dubiosen Doping-Mitteln bei Hunderennen für Verwirrung sorgen und den Zockern hübsche Quoten bescheren sollen – bevor es zu spät ist für illegale Doping-Prozeduren, die aufgrund drohender schärferer Vorschriften bald nicht mehr praktikabel sind. Ondaatje unterfüttert Darters Windhund-Expertise mit ausführlichen Informationen zur damaligen gesellschaftlichen Akzeptanz der Greyhound-Races (besonders beliebt war das White Chapel Stadium): 34 Millionen Zuschauer pro Jahr gab es in diesen „goldenen englischen Doping-Jahren“, bevor man Urin-Tests für die Vierbeiner einführte.
Auch kostbare antike Porzellan-Preziosen, angeblich aus einem Wrack geborgen, schmuggelt der Darter in seinem Kahn über abgelegene Nebenarme der Themse. Hier ist aber mal wieder nichts so, wie es scheint: Tatsächlich geht es um hochexplosives Nitroglycerin, das nachts in Kisten transportiert und an obskuren Anlegestellen an schweigsame Lkw-Fahrer übergeben wird.
Ondaatje als Spezialist für die Spurensuche in fragmentarischen Lebensläufen zeigt seinen 26jährigen zurückblickenden Erzähler Nathaniel zwar als beflissenen Rechercheur, der herausfinden möchte, welche Ereignisse, Persönlichkeiten und Erfahrungen ihn während der wilden Londoner Nachkriegsjahre prägten. Sucht man als Leser prägende Figuren, so kann man deren Bedeutung leicht erkennen, wenn man auf ihre Namen achtet: Der sang- und klanglos verschwundene Vater, den Nathaniel schnell von seiner Festplatte gelöscht hat, ist einfach nur eine namenlose Null. Alle Figuren aus dem Kreis um die „Motte“ und den „Darter“ haben Spitznamen, was ein Bonus-Indiz für Nathaniels besondere Sympathien ist. An seine Mutter Rose hat er nur die besten Erinnerungen; er denkt oft an sie und grübelt über ihr Schicksal nach. Hatte sie nicht mit extremer Sorgfalt einen riesigen Schrankkoffer für die Asienreise gepackt und diesen Koffer dann in Putney einfach zurückgelassen? Offenbar war sie dann doch in London geblieben?

Mitunter driftet Nathaniel zu sehr in kafkaeske Nabelschau-Tiefen ab; doch die verschwinden schnell im nebulösen Ungefähr, das spannend und thrillermäßig vom Londoner Theater-Ambiente überlagert wird, in das sich Rachel mit ihren Schauspiel-Ambitionen zurückgezogen hat. Dort lauern auch dubiose Agenten, die es auf Rachel und Nathaniel abgesehen haben und eine Entführung planen. Klingt vielleicht nach billiger Kolportage, aber der Lyriker, Dramatiker und Romancier Ondaatje will eben, wie er das ja schon früher praktizierte, mehrere Genres unter einen Hut bekommen. Für Schubladen-Fetischisten ist er sicher ein Ärgernis, denn er kümmert sich nicht um E-und U-Trennungslinien und fabuliert, phantasiert, konstruiert und montiert munter drauflos, wenn er sich etwa mit seinen eigenen „Gesammelten Werken von Billy The Kid“ (zuerst 1970 erschienen, 1997 von Werner Herzog übersetzt) beschäftigt: Da interessierte ihn das Psycho-Drama des Killers, der zum Gejagten wird.
Kleine Fußnote zu Abschweifungen: Interessant ist Ondaatjes Krimi-Affinität: Der „New York Times“ verriet er, einiges an Buchregalplatz voller Richard Stark-Bände zu haben. Er hat Stark (alias Donald E. Westlake) selbst getroffen und ihm einige Bände zum Signieren gegeben, der sei über die zerknautschten Taschenbuchausgaben erstaunt gewesen. Als Lieblingsgeschichte zitiert Ondaatje die Anekdote, dass Westlake/Stark für eines seiner Bücher unter anderem Autorennamen ein Blurb schrieb: „I wish I had written this book.“
Ondaatjes Grenzüberschreitungs-Ambitionen zeigen sich auch im interdisziplinären Projekt mit Medizinern, das er initiierte: Er las mit ihnen an der Columbia University John Bergers „Pig Earth“, Joan Didion und Stories von Isaac Babel. Außerdem Lyrik von C.D. Wright: „Das waren wunderbare Leser, sie waren tiefschürfender und analytischer als die üblichen Studenten – sie schienen etwa Charakterfehler der Romanhelden in menschlichen Organen genau zu lokalisieren.“
Meister der barmherzigen Blicke
Der Autor Ondaatje ist ja vor allem auch ein Impressionist, der sich mit literarischen Mitteln auf das Komponieren von Bildern kapriziert. Es sind nämlich vor allem starke Bilder, die beim Leser nach der Lektüre haften bleiben und Ondaatje in einer FAZ-Kritik schon vor zwanzig Jahren das hübsche Etikett „Meister der barmherzigen Blicke“ eintrugen: Hier sind das etwa die unter der Bootsplane des Schmuggler-Kahns zwischen vierzig Greyhounds versteckten Jugendlichen, die sich sanft an die Windhunde anschmiegen, um ihr Bellen bei Kontrollen der Wasserschutzpolizei zu unterdrücken. Oder die beiden Geschwister, die während einer Filmvorführung verkrampft und verängstigt am Boden eines Kinos liegen, da die epileptische Rachel nach einem Anfall von Nathaniel beruhigt werden mußte. Nathaniels erste Liebesaffäre mit Agnes wird hier als heiße Jagd durch verlassene Häuser und leergefegte Salons beschrieben, in denen der Sex wie bei heißen Attacken ausgekostet wird und die herumspringenden Greyhounds über Treppen und lange Gänge aufgeregt herumhecheln. Es sind diese intensiven, betörenden Szenen, die lange nachwirken.
In „Kriegslicht“ zeigt der mit feinem Pinsel operierende Michael Ondaatje eindrucksvolle Bilder und evoziert eine ganz ungewöhnliche Welt mit einer faszinierenden, archaischen Intimität. Was für ein grandioser Roman.
Peter Münder
Michael Ondaatje: Kriegslicht (Warlight, 2018). Aus dem Englischen von Anna Leube. Hanser Verlag, München 2018. 320 Seiten, 24 Euro. Verlangsinformationen hier.