Geschrieben am 1. September 2023 von für Crimemag, CrimeMag September 2023

Peter Münder liest „Geheimsache Italien“

Ein krankes Land im Würgegriff der Mafia

Über den 400 Seiten starken, historisch-analytischen Band  „Geheimsache Italien“ von Guiliano Turone, Jahrgang 1940, ehemaliger Richter am Kassationsgerichtshof, Mailänder Professor für Investigationstechniken und Mitglied der Antimafia-Kommission. In seine Amtszeit fielen Entführungen durch die Roten Brigaden (Premier Aldo Moro, ermordet 1978 ), Bomben-Attentate von Neo-Faschisten (Bahnhof Bologna 1980, 80 Tote), Morde an Journalisten (Carmine Pecorelli 1979) und im kriminellen Mafia-Biotop der 1980er Jahre. Souverän durchleuchtet Turone dieses Geflecht von Mafia-Banden, korrupten Politikern und Finanziers sowie der Geheim-Loge P2. – Von Peter Münder. 

Zur Einstimmung beim Eintauchen in diese Welt von Mord und Totschlag, Entführung, Verschwörung und Putschversuchen begleitet uns ein Zitat des investigativen Journalisten, Autors („Gomorrha“) und Mafia-Jägers Roberto Saviano, der seit über zehn Jahren mit Polizeischutz in Italien lebt:

„Ich bin geboren im Land der Camorra, wo mehr Menschen ermordet werden als irgendwo sonst in Europa, wo Geschäftemacherei und brutale Gewalt unauflöslich miteinander verbunden sind und nur das einen Wert besitzt, was Macht verspricht.“ 

Wer wie Guiliano Turone den juristisch geschärften Blick zurück im Zorn auf die Entstehung der Mafia und der italienischen Killer-Toleranz wirft, auf all die Attentate, Meuchelmorde, Entführungen, Erpressungen und das System krimineller Netzwerke, bleibt bei der Erörterung der Nachkriegszeit in Sizilien hängen, als US-Geheimdienste wie die CIA Verbindungen zu faschistischen Gruppen herstellten und lokale Mafia-Größen als Bürgermeister einsetzten. Damit waren Netzwerke entstanden, die laut Turone als Gegenmacht und Staat im Staate fungierten und gleichzeitig auch eine Gegenposition gegen die stark anwachsende italienische Kommunistische Partei „Partito Comunista Italiano“ (PCI) einnehmen konnten. Die italienische Sonderstellung in Europa führt er folglich auf drei historische Faktoren zurück: 
1. Die lang anhaltende Vermischung von Staatsgewalt und krimineller Macht, 
2. Die tausend Jahre lang anhaltende Machtperiode des Papstes, „der quasi wie ein Kaiser regierte“, wie Turone es formuliert, und
3. Die Besonderheit, dass Italien lange die größte Kommunistische Partei der westlichen Welt besaß, was die USA und die NATO dazu veranlassten, Italien die Rolle eines antikommunistischen Bollwerks zuzuschreiben.

In drei Kurztexten als „Gebrauchsanleitung“ (von Peter Kammerer/Bologna), „Vorwort“ (von Corrado Stajano, Jurist, Journalist, Schriftsteller) und einer „Einleitung“ des Autors Turone selbst wird auf diese  Sonderstellungs-Faktoren ausführlicher hingewiesen. Einen besonderen Stellenwert beanspruchen darin die Jahre von 1978-1980, als die Geheimloge P2 den Höhepunkt ihrer Macht erreichte und furchtbare Massaker anrichtete. Im März 1981 sorgte Tureno  (er nennt sich im Bericht nur „Autor dieses Buchs“) mit einer Simultan-Durchsuchung diverser Geheimverstecke der Domizile des  Unternehmers Licio Gelli für die Endeckung der P2-Loge. Gelli war im Mailänder Strafprozeß  des Bankrotteurs Michele Sindona involviert und wollte seine marode Bank mit einem vorgetäuschten Bankrott durch staatliche Mittel unter Vortäuschung einer Entführung durch ein angebliches „Proletarisches Umsturzkomitee für mehr Gerechtigkeit“ sanieren.

Sindona hatte sich von August bis Oktober 1979 versteckt in Palermo aufgehalten, den Mord am ehrlichen  Giorgio Ambrosi, (der das kriminelle Bankrott-Manöver nicht unterstützen wollte) im Juli eingefädelt, und wollte sich mit einer Flucht nach New York vor der Entdeckung  retten. Eher zufällig hatte Turone über einen von den Behörden entdeckten Terminkalender dann Sindonas gesamte relevanten italienischen Adressen des Drahtziehers Gelli entdeckt und darüber auch andere P2-Mitglieder ausfindig gemacht. Turone konnte so einen gewaltigen Stein ins Rollen bringen. Er war auch sofort hellhörig geworden, als dann einige Kampagnen gegen liberale Journalisten geführt wurden, deren Gegner P2-Mitglieder waren. 

Turone hat diese Skandale um reaktionäre oder faschistoide Verleger und Herausgeber akribisch recherchiert und auch deren  Verbindungen zu argentinischen faschistischen  Folterknechten der P2 aufgedeckt. Offenbar war der Mafia-Jäger Turone auch einer der wenigen, der registriert hatte, wie schnell den argentinischen  Folterknechten und Unternehmern die Lieferung italienischer Waffen und Panzern zugesagt wurde – was die Streiks der mobilisierten italienischen Gewerkschaftler dann jedoch vorübergehend verhindern konnten. Dass der Medien-Mogul und viermalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi ein prominentes P2-Mitglied war, hatte Turone auch sehr früh mitbekommen. Er liefert hier auch dessen  P2-Mitglieds-Nr. – nämlich 1816 – mit. Und in der Phase der Konsolidierung der P2 nach dem mörderischen Bombenanschlag in Bologna beurteilt er die Übernahme des „Corriere della Serra“ durch die P2  im Kontext  von kodierten Botschaften, die über die Zeitung  vermittelt wurden und vor allem durch das rätselhafte, ausführliche Interview des Journalisten Maurizio Costanzo (P2-Mitglieds-Nr. 1819) mit dem berüchtigten Verschwörer  und „Großmeister“ Licio Gelli (1919-2015) berühmt wurde. Es ging darin um einen „Plan zur demokratischen Erneuerung“, der nichts weiter darstellte als dumpfes Propaganda-Gefasel über einen  möglichen Putschversuch. Souverän und mit ätzender Schärfe kanzelt Turone in seiner Erörterung  dieser  P2-Aktivitäten im Medien-Sektor auch die „widerliche Wertschätzung der argentinischen Henker“ und die Glorifizierung des  vermeintlichen „argentinischen Wirtschaftswunders“ ab.  

Spezialist für Korruption, Kriminalität, Intransigenz: Giulio Andreotti

Als Drahtzieher, Vermittler, US-Geheimdienst- und Vatikan-Insider  der Nachkriegszeit mischte Guilio Andreotti (1919-2013) praktisch überall mit. Für Israelis, Palästinenser und Neo-Faschisten war er ebenso Gesprächspartner wie für die Mafia, insgesamt war er an 33 italienischen Regierungen beteiligt und siebenmal Ministerpräsident. Turone klassifiziert  ihn im Namensregister (mit 538 Einträgen) als Mitglied der P2-Loge und Mafia-Unterstützer, der Kontakte zu dubiosen Mafia-Kriminellen herstellte. Als der liberale Journalist und Verleger Carmine Pecorelli im März 1979 in Rom erschossen wurde, war Andreotti als Auftraggeber dieses Verbrechens angeklagt worden. Ein Prozess gegen ihn wurde jedoch immer wieder verschleppt und schließlich 1991 eingestellt, wofür Guiliano Turone Andreottis  undurchsichtige Täuschungsmanöver und irreführende  Aussagen verantwortlich macht: „Das resultierte in zwölf Jahren substantieller Untätigkeit!“ kommentiert Turone in seinem Buch. Er hat auch eruiert, dass Andreotti  mit der geheimen paramilitärischen Organisation Gladio vertraut war, die mit der CIA kooperierte und 1964 in die NATO integriert wurde: Denn im Fall einer Invasion des Warschauer Pakts wollte man  abotage-Akte und Guerilla-Operationen durchführen. 

Mafia-Jäger Turone demaskierte die Geheimloge P2 und öffnete die Büchse der Pandora

Die Geheimloge P2 hatte zum Ziel, mit Attentaten, Entführungen   und extremem Chaos für Instabilität zu sorgen und einen  faschistoiden Staat im Staat aufzubauen. Das Krebsgeschwür, das aus der Fusion von Mafia-Geheimlogen-Banditen-Ministern-Finanzbeamten-Killern-Politikern-Generälen-Managern und  etlichen Verlegern einen kriminell agierenden Staat im Staat anvisiert hatte, konnte sich bereits seit Kriegsende etablieren und weiter expandieren. Geradezu atemberaubend sind die Entdeckungen und Erklärungen, die Guiliano Turone uns hier zum Thema Täuschungsmanöver und falscher Spuren präsentiert: Da verschwinden extrem wichtige, umfangreiche  Prozessunterlagen  zur Entführung und dem Mord an Aldo Moro, die zufällig nach vielen Jahren in einer doppelten Wandverkleidung gefunden werden; da fingiert der Bankrotteur Michele Sindona eine Entführung, um die von ihm verursachte  Pleite seiner Bank mit betrügerischen Machenschaften zu rechtfertigen und sich selbst mit staatlichen Mitteln zu sanieren. Und als der untadelige, akribische  Anwalt und Konkursverwalter Gorgio Ambrosoli es ablehnt, Sindonas  betrügerische Aktivitäten zu unterstützen, lässt Sindona ihn von einem amerikanischen Killer ermorden. Die gerechte Strafe ereilte Sindona jedoch trotz seiner Flucht in die USA, denn das Mailänder Schwurgericht verurteilte ihn später für den Mord an Ambrosoli zu lebenslanger Haft. Sindona beging daraufhin Selbstmord mit einer Dosis Zyankali – was er jedoch als Mord  inszeniert hatte.  

Die talienische Ausgabe

Turone: Jurist, Analytiker, Spürhund

Guiliano Turone konzentrierte sich auf Widersprüche und neue Spuren aus Ermittlungs-Unterlagen, die verschlampt, jahrelang ignoriert oder falsch interpretiert wurden und aufgrund erst kürzlich gefundener Unterlagen korrekt dargestellt werden konnten. Und er wühlte sich durch geheime, lange verschwundene Dokumente oberster P2-Logen-Führer, um die geheimen Koalitionen aufzudecken, die für neue Machtbastionen und kriminelle politische Konstellationen aufgebaut wurden. 

Souverän und akribisch kann Tureno auch seinen Blick über den  Pasta-Teller hinaus werfen und die grauenhaften Verbrechen während der Militärdiktatur der argentinischen Faschisten-Junta beschreiben. Nach dem Putsch vom 24. März 1976 in Buenos Aires waren Morde,  Verschleppungen, Folter, Gefängnis und Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren mit den italienischen P2-Gruppen koordiniert worden. So waren  im Verlauf von fünf Jahren rund 2000 Tote und  über 30.000 Verschleppte („Desapaecidos“) zu beklagen.

Chaos, Korruption und Kriminalität prägten zwar meist den italienischen Lebensstil, aber  Turone weist auch darauf hin, dass „Italien zum  Glück  immer ein  Land voller Widersprüche“ war und  die Aufklärung  vieler Verbrechen nicht möglich gewesen wäre ohne liberale, aufgeklärte Unterstützer, die es eben auch gab. 

Beeindruckend, mit welcher Souveränität  und Präzision Turone die „Geheimsache Italien“ mit ihren verwirrenden, schwer überschaubaren Verästelungen und kriminellen Betätigungsfeldern der Mafia, P2 usw. beschreibt und analysiert. Sich selbst sieht er eher als kritisch-distanzierten Betrachter, der ein wirres, blutig- kriminelles Panorama an sich vorbeiziehen lässt, das er jedoch gleichzeitig zu einem neuen Ordnungs-System führen will. Ein Insiderbericht also der ganz besonderen Art.   

Peter Münder

Guiliano Turone: Geheimsache Italien. Politik, Geld, Verbrechen (Italia occulta. Dal delitto Moro alla strage di Bologna, il triennio maledetto che sconvolse la Repubblica, 2019). Aus dem Italienischen von Klaudia Ruschkowski. Marix Verlag, Wiesbaden 2023, 416 Seiten, 29,90 Euro.

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