
Von der Kutsche zum futuristischen Concept Car
Mit seinem umfassenden Bildband „Bertone“ legt der Schweizer Auto-Experte Roger Gloor ein spannendes Kompendium vor, das die überragende stilistische Ästhetik würdigt und die technische Entwicklung der Bertone-Konstruktionen im Verlauf von hundert Jahren detailliert vermittelt. – Von Peter Münder.
Wenn Petrolheads im globalen Netz sehr engagiert darüber debattieren (auf Drivetribe u.a.), ob nun der von 1965-74 gebaute Iso Grifo mit Corvette V8-Maschine, der Alfa Montreal oder der 1971 in Genf vorgestellte Lamborghini LP 500 12-Zylinder die beste, schönste, umwerfendste aller Bertone-Konstruktionen ist und wenn sich gutbetuchte Auktionsbeobachter jetzt verwundert die Augen rieben, als drei Berlina Aerodinamica Tecnica Bertone-Concept Car-Studien auf Basis des Alfa Romeo 1900 (gebaut zwischen 1953-55) für insgesamt 12,7 Millionen Dollar bei RM Sotheby´s versteigert wurden, dann ist offensichtlich, dass die Bertone-Legende immer noch lebt. Nicht nur, weil die ziemlich aberwitzige BAT- Ästhetik dieser mit monströsen Flügeln bestückten BAT-Mobile für den ultimativen Hingucker-Effekt sorgt: Von wegen „Form follows function“! Mit diesen Alfa-BAT-Studien, denen der Cadillac-Eldorado- Heckflossen-Wahn der 1950er Jahre offenbar subkutan implantiert wurde, könnte man ja höchstens mal bella figura vor einem Hollywood Filmstudio machen.
Der ultimative Schweizer Auto-Experte Roger Gloor, ehemaliger „Automobil Revue-Redakteur“ und Autor mehrerer Bücher über Oldtimer („Nachkriegswagen 1945-1960“, „Vergessene Autos – 300 untergegangene Marken“, Alle Autos der 70er Jahre“), hatte im Lauf der Jahre die Bertone-, Pininfarina- und Ital-Design-Werkstätten besuchen können und auch Vater Giovanni (1884-1972) und Sohn Nuccio Bertone (1914-1997) mehrmals interviewt. In seinem monumentalen Bildband (1.200 Abbildungen) präsentiert er nun alle 320 Bertone-Automodelle: Er geht nicht nur fachmännisch auf ihre technischen Besonderheiten ein, sondern streut auch Hintergrundinformationen und Anekdoten ein, die für die Entstehungsgeschichte der Modelle und für die Firmengeschichte des 1912 in Turin gegründeten Pferdewagen- und Kutschenbauers wichtig waren.

Bertone stand ja nicht nur für das Design extremer Super-Modelle wie Lamborghini Miura, Maserati 5000 GT, Iso Rivolta, Ferrari 250 GT oder der Aston-Martin DB4GT-Sonderanfertigung. Auch das herrlich puristische, mit harmonischer Nieren-Front gesegnete BMW 3200 CS-Coupe von 1961 (mit V8-Motor, ohne seitliche Scheibenpfosten), den mehrmaligen Rallye-Weltmeister Lancia Stratos, und profane Alltags-Vehikel wie den Citroen ZX, das Opel-Astra Coupe, den NSU Sport Prinz, einen Volvo 764 TE oder einen koreanischen Daewoo entwarfen und konstruierten die Bertone-Ästheten. Selbst alte Oktan-Hasen dürften aber überrascht registrieren, dass sich Bertone beim Bau von Elektro-Rekordwagen engagierte und 1994 mit dem ZER auf der Nardo-Rundstrecke in Süditalien Geschwindigkeits-Rekorde über 300 km/h aufstellte. Man hatte damals in einem Fiat-Windkanal eine extrem windschlüpfrige zigarrenförmige Karosserie mit einem Cw-Wert von 0,115 entwickelt, die für den Bremsvorgang einen hübschen Fallschirm einsetzte. Für den E-Antrieb waren 36 Blei-Säure Batterien mit einem Gleichstrom-Motor verwendet worden. Und mit dem 1989 auf Daihatsu Rocky 4WD-Basis entwickelten Freeclimber (mit BMW-2,5 Liter, 6-Zylinder-Motor) antizipierte Bertone schon den viel später einsetzenden SUV-Boom – doch die Nachfrage hielt sich damals in Grenzen; außerdem gab es bürokratische Querelen hinsichtlich der Export-Vorschriften wegen anvisierter Rückexporte nach Japan und des Hersteller-Eigenanteils. 1992 wurde die Produktion schon wieder eingestellt.
Roger Gloor kennt nicht nur alle diese Details; er geht auch auf Nuccio Bertones 1988 vorgestellte Vision einer Mobilität der Zukunft um das Jahr 2000 ein – geplant „für gänzlich veränderte Lebensverhältnisse“ – und beschreibt seine eigene Probefahrt im futuristisch anmutenden kugelförmigen Genesis-Van mit riesigen Fenstern, gewölbten Seitenwänden, üppigem Platzangebot und zahlreichen Hi-Tech-Helfern: Statt Seitenspiegeln sollten Kameras verwendet werden, eine TV-Videoanlage war unter dem Fahrersitz eingebaut. Und natürlich gab es auch eine Super-Stereo-Anlage. Der Autor hat im Buch Auszüge seines damaligen „Automobil Revue“-Berichts wiedergegeben: Er schwärmte damals nach der Probefahrt in diesem rollenden Concept-Van zwar von „kühnen, glanzvollen Aufbau-Ideen“, aber der Genesis wurde wegen Bertones Liquiditätsproblemen nicht gebaut. Nach diversen Umstrukturierungen gingen die Rechte 2014 an eine Mailänder Firma über, die sich auf Mode, Architektur und Industrie-Design kapriziert. Der Band enthält übrigens auch Hinweise auf Bertone-Gedenkstätten, Modellautos, auf Karosserien und italienische Couture und die Bertone-Produktpalette außerhalb des Pkw-Segments: Lkw, Motor-Roller (C1 für BMW), Reisebusse, Kugelschreiber, Brillen, Luxusyachten, Autozubehör. Mehr Bertone geht einfach nicht!
Allen Oktan-Afficionados kann ich diese mit erfrischendem Enthusiasmus und herrlicher Detailfreude verfasste Chronologie – das erste Bertone-Werkverzeichnis überhaupt – jedenfalls sehr empfehlen!!
Roger Gloor: Bertone. Pioniere des Autodesigns. Mit Einblick in die Automobilgeschichte. Olms Verlag, Hildesheim-Zürich-New York 2020. 328 Seiten, mit über 1200 Abbildungen, davon 720 in Farbe. Hardcover Format 21×29,7 cm, bis 31. Dezember 2020 (Subskriptionspreis) 68 Euro, danach 88 Euro.