Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

non fiction, kurz – Mai 2021

Alf Mayer (AM), Hans Helmut Prinzler (hhp) und Thomas Wörtche (TW) über:

35 Millimeter (Nr. 40): Schwerpunkt Studio Warner Bros
Guenther Anders: Schriften zu Kunst und Film
Sabine Börchers: Der Palmengarten
Christina Clemm: AktenEinsicht
Julia Hörath: „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938
Klaus Mann: Der Kaplan. Ein Drehbuch
Beat Presser & Danit: Film Stills. Berliner Kinos im Lockdown
Barbara Tänzler: Vico Torriani

Sehnsuchtsorte

(AM) Ein schönes Buch, ich mag es gar nicht aus der Hand legen. Eine Fotogeschichte von A bis Z nennt sich der wunderbare, aber eben auch wunderbar traurige Fotoband Film Stills von Beat Presser & Danit im Untertitel. Er zeigt alle 77 Berliner Kinos im Lockdown. Hans Helmut Prinzler weist in seinem Vorwort zu Recht darauf hin, dass es das in den letzten hundert Jahren noch nicht gegeben hat, dass alle Kinos geschlossen waren. Während des 1. Lockdowns war das in Berlin vom 14. März bis zum 1. Juli 2020 der Fall. Der Schweizer Fotograf Beat Presser und die Bildhauerin Danit machten sich kurzerhand auf den Weg und fotografierten die Lichtspieltheater im Großraum Berlin. Von außen versteht sich.

Jedes Kino hat eine Doppelseite, wird flankiert von zwei Zitaten aus der Kinowelt. Bekanntes und viel Unbekanntes vorbei. Eine schöne Idee, die auf vielfältige Weise die Magie des Kinos transportiert. Und dann sind da sie Kinos selbst. BITTE BLEIBEN SIE GESUND wünschen die roten Blechbuchstaben am Bali in Berlin Zehlendorf. WIR SEHEN UNS WIEDER versprechen sie am eleganten Cinema Paris auf dem Kurfürstendamm. Es ist eine bunte, äußerst vielfältige Kulturwelt, durch die uns der Bildband führt. Er zeigt Hinterhöfe und Flaniermeilen, moderne Fassaden und bröckelnder Putz, Zweck- und Repräsentationsbauten, Unscheinbares und Glamouröses, Edles und Schäbiges. Immer aber geht es – auch wenn wir bis auf dem Foto auf dem Umschlag – nie ins Innere schauen können, um den Raum, von dem wir alle wissen. Den wir alle lieben und den Christine Handke vom Filmmuseum Potsdam so benennt: „Das Kino ist und bleibt einzigartiger Erlebnisraum, in dem gemeinsam geweint und gelacht wird, wir ferne Länder ohne Flugzeug bereisen, fremde Schicksale zu unseren eigenen werden. Ein Leben ohne Kino ist undenkbar.“

In den 1920er Jahren gab es alleine im Berliner Ortsteil Mitte rund rund sechzig Lichtspieltheater. Heute sind es im ganzen Großraum Berlin noch zusammen 77. Ob sie alle die Corona-Zeit überleben, ist ungewiss. Das macht einen Teil der Wehmut und der Gefühle aus, die dieser schmucke Fotoband hervorruft. Einen Panoramablick auf die reichhaltige Geschichte Berlins als Filmstadt gibt übrigens ein von Hans Helmut Prinzler gemeinsam mit Antje Goldau geschriebener Text, den Sie hier finden können. Von Beat Presser stammen die Bildbände „Vor der Klappe ist Chaos. Eine Hommage an den Neuen Deutschen Film – und an die Kunst des Filmemachens“ und „Aufbruch ins Jetzt – Der Neue Deutsche Film im Gespräch“.

Beat Presser & Danit: Film Stills. Berliner Kinos im Lockdown. Buchdesign Vera Pechel, mit Zitaten aus der Filmgeschichte. Deutsch und Englisch. Verlag Zweitausendeins, Leipzig 2021. Klappenbroschur, Format 21 x 14,1 cm. 192 Seiten, 15 Euro. Internetseite zum Buch hier. Die der Autoren hier und hier.

Fern von jedem Kitsch

(TW) Der unglückliche Publikationstermin, März 2020, also mitten im ersten Corona-Schock, hat dieses Buch durchrutschen lassen. Und das ist extrem schade, deswegen wenigstens hier noch ein kurzer, aber nachtrüglicher Hinweis darauf.  Christina Clemm ist Strafverteidigerin in Berlin und vertritt als Nebenklägerin Opfer sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Und das sind in Deutschland mehr als 100.000 Frauen pro Jahr in der Sparte „Partnerschaftsgewalt“, 15.000 Kinder und Jugendliche sind sexualisierter Gewalt ausgesetzt, 9000 Frauen werden Vergewaltigungsopfer, die Dunkelziffer bei Zwangsprostitution und Menschenhandel dürfte extrem gruslig sein. Clemm stellt die richtigen, klugen und ganz einfachen Fragen: Hinter jeder statistischen Nummer steht ein Menschenschicksal. Was also macht diese Gewalt mit den Menschen? Wie geht man damit um, wie die Polizei, wie die Gerichte? Was kann man tun? Wo sitzen die strukturellen Probleme in unserer Gesellschaft und in ihren Institutionen?  

Clemm blättert Fallbeispiele aus ihrer Praxis auf (natürlich verschlüsselt) und seziert die Rolle, die die jeweiligen Institutionen dabei spielen – die Polizei, die Staatsanwaltschaften, die Richter*innen, wobei ein wichtiger Punkt immer wieder aufscheint: Das Problembewusstsein für den jeweiligen Einzelfall. Dass sie dabei die Opfer nicht idealisiert und romantisiert, ist ein großer Vorzug des Buches, dem man vor allem keinen Gefühligkeitskitsch unterstellen kann. Clemm argumentiert klar und nüchtern und benennt immer Gründe für ihr Engagement. Der Verzicht auf sensationalistischen Thrill (die Achillesferse von True Crime) und der Verzicht auf das Pathos der Kämpferin für die Unterdrückten, Mühseligen und Beladenen, sowie der Verzicht auf rhetorischen Bombast macht das wirkliche Schwergewicht von AktenEinsicht aus.

Bleibt die Grundaporie, die auch Christina Clemm nicht beseitigen kann: Dass ein Urteil rechtstaatlich völlig korrektsein kann, aber gleichzeitig ungerecht. Aber: Kein Grund, die „Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen“ nicht für ein zivilgesellschaftliches Essential zu halten. Wichtiges Buch!

Christina Clemm: AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt. Kunstmann, München 2020. 205 Seiten, 20 Euro.

Sehr lesenswert

(hhp) Günther Anders (1902-1992) war ein deutsch-österreichi-scher Philosoph, Dichter und Schriftsteller. Als sein Hauptwerk gilt die zweibändige Publikation „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956/1980). In zahlreichen Texten hat er sich über die Jahrzehnte mit den Themen Kunst und Film beschäftigt. Sie sind jetzt erstmals, herausgegeben von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz, in einem Band publiziert, der im Verlag C. H. Beck erschienen ist.

15 Texte widmen sich speziell dem Thema Film, sie stammen aus den Jahren 1925 bis 1954 und beschäftigen sich sehr reflexiv mit dem Absoluten Film, der Tonfilmphilosophie, Spuk im Film, der Filmdramatik, Eisensteins Filmphilosophie, dem plastischen Film, dem Kriminalfilm, Charlie Chaplin und dem 3-D-Film. In einem Rundfunkgespräch mit Herbert Ihering geht es um das Dramatische im Film (1932). Drei Texte stammen aus der Exilzeit in Hollywood 1939-43, als sich Anders dort um eine Beschäftigung bemühte. Aber: „Filmphilosophie reimt sich nicht auf Hollywood“. Auch die Schriften zur Bildenden Kunst sind interessant. Zum Beispiel: das „Louvretagebuch“ (1927/28), der Radiodialog mit Arnold Zweig über Freiheit in der Kunst (1933), die Künstlerporträts für den Rundfunk (1953-56), die Italien-Tagebücher (1954 und 56). Unbedingt lesenswert: das Nachwort des Herausgeberduos. Ein Buch für stille Stunden und Zeit zum Nachdenken.

Guenther Anders: Schriften zu Kunst und Film. C.H. Beck, München 2020. 487 Seiten, 44 Euro.

Verfolgung, mit Tradition

(AM) Selbst mehr als 70 Jahre nach Kriegsende weist die Aufarbeitung des Nationalsozialismus noch immer Lücken auf. Das betrifft den Holocaust, betrifft aber auch bisher wenig beachtete Opfergruppen. Die Politologin und Historikerin Julia Hörath untersucht in ihrer Studie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938 die Akteure, die während der ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft für die KZ-Einweisunge dieser Randgruppen verantwortlich waren, stellt Verbindungslinien in den wilhelminischen Obrigkeitsstaat her und zeigt, dass es für den Terror gegen gesellschaftliche Außenseiter keine „Stunde Null“ gab. Ihr Anliegen ist es, die Entgrenzung dieses Terrors als Gesamtentwicklung der sozialen Exklusion währen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu verstehen. Und sie fragt sich, welcher Binnenrationalität diese Internierungen folgten.

Eine KZ-Haft anordnen konnten Polizeidirektionen, Landratsämter und Regierungspräsidenten. Sie erfolgte aber auch auf Vorschlag von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wohlfahrtspflege, von Bürgermeistern, Gesundheits- und Arbeitsämtern, in Einzelfällen von klinischen Anstalten, nicht selten aufgrund von Denunziationen durch Mitbürger oder sogar Angehörige. Es traf Menschen mit anderen Lebensentwürfen, Obdachlose, Jugendliche, Kleinkriminelle oder Frauen, die als „sexuell verwahrlost“ galten, sei wegen des Kontakts zu Fremdarbeitern, einer Abtreibung oder vermeintlicher oder tatsächlicher Prostitution. Schätzungen zufolge waren allein bis 1943 zwischen 63.000 und 82.000 „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den KZ inhaftiert, sie zählen bis heute zu den „vergessenen Opfern“. Julia Hörath macht alleine 1937/38 drei Verhaltungswellen aus, untersucht die Bettlerrazzia vom September 1933 ebenso wie die Ausweitung der „Schutzhaft“ auf Devianz und Delinquenz und die sogenannten „Vorbeugungshaftverfahren“ oder geht den rund 45.000 Verhaftungen nach dem Reichtagsbrand nach. Sie studiert zum Beispiel das Konzentrationslager Osthofen an der Bahnstrecke Mainz-Mannheim oder widmet sich dem KZ Dachau als Himmler Zentrale für das perfide „Dachauer Modell“. Durchweg differenziert ist ihre Betrachtung der Polizei, am Ende der Nazi-Zeit aber unterschieden sich die Methoden der Verfolgung nur noch graduell vom Vorgehen der Einsatzgruppen im besetzten Osteuropa. Etliche der Nazi-Narrative wirken weiter fort.

Julia Hörath: „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 222. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017. 388 Seiten, Register, 54,99 Euro.

Niveau und Qualität

(hhp) Seit sieben Jahren gibt es das Retro-Magazin 35 Millimeter. In den ersten sechs Jahren erschien es alle zwei Monate, seit diesem Jahr wird es vierteljährlich publiziert. Die Zeitschrift widmet sich der Filmgeschichte von 1895 bis 1965. Jedes Heft hat einen Schwerpunkt. In der Nummer 40 ist dies das Studio Warner Bros. Auf sechs Seiten porträtiert Berward Knappik den Regisseur Raoul Walsh: „Ein Regisseur für jedes Genre“. Marco Koch erinnert an die Filme DOCTOR X (1932) und MYSTERY OF THE WAX MUSEUM (1933): „Warner Horror in Technicolor“. Prof. Dr. Tonio Klein befasst sich mit Michael Curtiz („Ein Typ, der Filme macht“), setzt mit dem zweiten Teil seinen Bette Davis-Text fort („Sternchen, Schauspielerin – und Star?“), mit dem vierten Teil seinen William Powell-Text („Die frühen Jahre“) und verweist auf den Anti-Nazi-Film BLACK LEGION (1937). Lars Johansen richtet seinen Blick auf die Animationsfilme von Warner Bros.: „Mit dem Hammer auf den Kopf“. Matthias Merkelbach beschäftigt sich mit dem Film Noir bei Warner Bros. („The Big Sleep“).

Bei Robert Zion geht es um die Noir-Western THE SEARCHERS und CHEYENNE AUTUMN von John Ford. Clemens G. Williges, der Chefredakteur der Zeitschrift, schließt die 34seitige Titelstory mit seinem Text über Boris Karloff ab: „Jenseits der Monster“. Auf zwölf Seiten werden Blu-rays und DVDs rezensiert. Weitere Beiträge sind dem Regisseur Irving Lerner, dem österreichischen Film EIN TOLLES FRÜCHTCHEN und dem japanischen Film NACKTE JUGEND von Nagisa Oshima gewidmet. Von Robert Zion stammt ein Nachruf auf Rhonda Fleming. Fortgesetzt werden Texte über Federico Fellini (von Manuel Föhl) und Antonin Artaud (von Christoph Seelinger). Eine Hommage von Stefan Vockrodt gilt der Schauspielerin Helen Holmes. Es gibt mehrere Kolumnen und eine Vorschau auf das Heft 41 mit der Titelstory über Bette Davis. Die Texte des Magazins haben hohes Niveau, die Abbildungen (Fotos und Plakate) sehr gute Qualität.

35 Millimeter. Das Retro-Film-Magazin. Herausgegeben von Jörg Mathieu, Saarbrücken. Erscheinungsweise dreimonatlich, 4 Ausgaben pro Kalenderjahr. Das Jahresabo kostet passgenaue 28 Euro. Bestandteil eines jeden Heftes sind Rezensionen von DVDs und Blu-Rays. Diese Zeitschrift pflegt die Filmkunst auf gloriose Weise, Dominik Graf war von den Socken: „Erstmal denkt man, man träumt…“ Homepage und Bezug: www.35mm-retrofilmmagazin.de
Auf seiner überaus empfehlenswerten Internetseite mit vielen Filmbuchbesprechungen rezensiert Hans Helmut Prinzler aktuell die Ausgabe Nr. 41 des Magazins. Zur Homepage von 35 Millimeter – Das Retro-Film-Magazin geht es hier.

Interessanter Lesestoff

(hhp) Der Schriftsteller Klaus Mann, ältester Sohn von Thomas, war als US-Soldat an der Befreiung Italiens vom Faschismus beteiligt und sollte als Autor einer Episode an Roberto Rossellinis Film PAISÀ mitwirken. Sie wurde nicht realisiert. Das Drehbuch – THE CHAPLAIN – wird hier erstmals publiziert, verbunden mit Texten zum Hintergrund der Produktion und zur damaligen Situation von Klaus Mann. Die Episode erzählt die Begegnung eines pazifistischen Militärkaplans mit einem faschistischen Jugendlichen in der Nähe des Futa Passes im nördlichen Apennin und hat berührende Momente. Frederic Kroll äußert sich zu Klaus Manns Zusammenarbeit mit Rossellini. Von Carlo Gentile stammt eine historische Situationsbeschreibung „Futu Pass, Weihnachten 1944“. Die Herausgeberin Susanne Fritz informiert über die Kriegsjahre des Autors Klaus Mann (What are we fighting for?“). Georg Seeßlen stellt die Kooperation zwischen Klaus Mann und Roberto Rossellini in einen filmhistorischen Zusammenhang. Susanne Fritz spricht mit dem Regisseur Didi Danquart über Filmen im Kriegsgebiet und mit den Regisseurinnen Lucia Chiarla und Chiara Sambuchi über Kunst im Zusammenhang mit Krieg und Katastrophen. Friedrich Lohmann stellt theologische und ethische Überlegungen zu Klaus Manns Drehbuch an. Alberto Gualandi äußert sich zu Macht und Ohnmacht der Vernunft in Klaus Manns letzten Werken. Auszüge aus Manns Fragment gebliebenen letzten Roman „The Last Day“ (1949) schließen den Band ab. Interessanter Lesestoff über einen weitgehend in Vergessenheit geraten Autor.

Klaus Mann: Der Kaplan. Ein Drehbuch für Roberto Rosselinis Filmklassiker „Paisà“. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Susanne Fritz. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 292 S., 15 Abb, 29,90 Euro.

Hohes Niveau, wunderbar illustriert

(hhp) Er war ein populärer Schlagersänger aus der Schweiz und wurde in den 1950er Jahren zum Film- und Fernsehstar. Vico Torriani (1920-1998) spielte Hauptrollen in Filmen wie STRASSENSERENADE (1953), GITARREN DER LIEBE (1954), EIN HERZ VOLL MUSIK (1955), DER FREMDENFÜHRER IN LISSABON (1956), SIEBENMAL IN DER WOCHE (1957). Seine berühmtesten Fernsehsendungen waren Hotel Victoria (1961-68) und Der goldene Schuss (1967-70). Barbara Tänzler hat sich zusammen mit Torrianis Tochter Nicole auf die Spurensuche gemacht, Archive erschlossen und Zeitzeugen gefunden, die viel über die wechselhafte Karriere erzählen konnten. Die Biografie hat als Text ein hohes Niveau, informiert über die beruflichen Stationen und skizziert das treue Familienverhalten des Protagonisten. Beeindruckend: die Zahl und Auswahl der Bilder. Mehrere Jahrzehnte Kultur- und Medien-geschichte werden präsent. Der Untertitel der Biografie lautet „Ein Engadiner singt sich in die Welt“.

Barbara Tänzler: Vico Torriani: Ein Engadiner singt sich in die Welt. NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe, Basel 2020. 256 Seiten, 109 Abb., 17 x 24 cm, gebunden, 34 Euro.

Buffalo-Bill, 180 Palmenarten und Tasmanien

(AM) Rosa Luxemburg ließ sich 1914 nicht einmal durch ihren Prozess wegen „Aufforderung zur Ungehorsamkeit gegen Gesetze und Anordnungen der Obrigkeit” von einem Besuch abbringen. Aus der 14-monatigen Haft – zur Verteidigungsrede hier – schrieb die leidenschaftliche Hobbybotanikerin an eine Freundin über den Frankfurter Palmengarten: „Ich war dort aus Anlass meines Prozesses, im Februar und sah mir das Gewächshaus an. Es ist traumhaft schön, im ersten Vorfrühlingsflor; und so schön eingerichtet, dass man dort sitzen und plaudern kann: namentlich die Primelabteilung.“

Wo Frankfurts grünes Herz schlägt hat Sabine Börchers sich als Untertitel für das Jubliäumsbuch Der Palmengarten gewählt, er feiert dieses Jahr sein 150-jähriges Bestehen und ist und bleibt mit 22 Hektar eine der schönsten Gartenanlagen der Welt. Sie wird von über 130 Beschäftigten in Schuss gehalten: Seerosen, Steppenwiesen, Stechpalmen und 179 andere Palmenarten, dazu Kamelien, Magnolien, Rosen, Orchideen und eine Weltreise quer durch die Botanik, dazu ein Weiher mit Ruderbooten und das einzige Subantarktis-Haus außerhalb Tasmaniens. „Büffel-Wilhelm“ Buffalo Bill gastierte 1890 mit seiner Wildwest-Show, im Dezember 1936 der 1. Offizielle Filmball der Reichsfilmkammer, später dann die deutsche Luftfahrt, Eiskunstläufer, Radrennfahrer, Tennisspieler. 1974 gaben Freddy Mercury und „Queen“ ein Konzert. Das Lichterfest mit abertausenden Teelichten sollte Alle romantischer Gesinnung einmal erlebt haben, und obwohl ein guter Freund von mir nach einem Jazz-Abend am Schock eines Wespenstichs starb, wird mir der Palmengarten immer im Herzen sein. Um auf einer Wiese oder Bank ein Buch zu lesen, kenne ich kaum einen schöneren Ort. 

Wie der „Eiserne Steg“ über den Main entsprang der Garten einst privater bürgerlicher Initiative. Als der verschuldete Herzog Adolf von Nassau seine Sammlung exotischer Pflanzen in der Orangerie des Biebricher Schlosses aufgeben musste, ergriff der Handelsgärtner und Gartenarchitekt Heinrich Siesmayer die Gelegenheite, seinen Traum vom Bürgergarten zu realisieren, gründete mit 13 Mitstreitern ein Komitee und eine Aktiengesellschaft, die den Grundstock für die 1871 offzielle eröffnete Botanik-Oase im Frankfurter Westend schufen. Die großformatige und im Preis schlanke Jubiläums-Publikation ist ebenso üppig, vielfältig und ausladend wie das Subjekt, dem sie sich widmet. Gleich sieben Vorworte unterschiedlicher Amtshierarchie bis hoch zum Ministerpräsidenten zeigen an, wie gerne man sich mit diesem Juwel identifizieren mag.

Sabine Börchers: Der Palmengarten. Wo Frankfurts grünes Herz schlägt. Societäts Verlag, Frankurt 2021. Hardcover, 272 Seiten, durchgängig farbig illustriert, 25 Euro.

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