Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

non fiction, kurz – 12/2019

Sachbücher, kurz und bündig

Sekundärliteratur ist unerlässlich, wenn man nicht nur konsumieren will. Sonja Hartl (SH),  Sigrid Lüdke-Haertel (SLH), Marcus Müntefering (MM) und Alf Mayer (AM) waren auf einem Streifzug im Revier unterwegs – und besprechen:

Hannes Brühwiler (Hg.): Hollywoods Schwarze Liste
Michael Caine: Die verdammten Türen sprengen
Barry Forshaw: Crime Fiction: A Reader’s Guide
Mario Kramp: Köln an der Seine. Der Kölner Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1937
Chanel Miller: Ich habe einen Namen
Mittelweg 36: Lug und Trug
Andrea Noack: Die Bestie schläft
Volker Pantenburg (Hg.): Gerhard Friedl – Ein Arbeitsbuch
Stefana Sabin: AugenBlicke
Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen

3,5 im Turm haben

(AM) „Hallo. Ich heiße Andrea und bin Alkoholikerin.“ Sieben harte Jahre hat Andrea Noack gebraucht, bis sie diesen Satz sagen konnte. Sie hat ihr Gesicht auf dem Cover, sie schreibt über sich. Schonungslos. Lange Zeit ist sie nie nüchtern schlafen gegangen, hat funktioniert, und dann doch nicht mehr, hat sich auf den langen, langen Entzug gemacht. Ganz zweifellos hat sie an Die Bestie schläft sehr hart gearbeitet, sie hat überhaupt sehr hart an sich gearbeitet.

Von den Zen-Meistern und den wirklich großen Schriftstellern wissen wir, dass hinter den einfachsten Texten und Taten die härteste Arbeit steckt. Bei diesem Buch ist es nicht nur Textarbeit, nicht nur schlichtes Handwerk und eine Portion Inspiration, hier ist es mit bloßer Hand gespaltenes Eichenholz, ungeheure Willenskraft, bewundernswerter Mut – und Hingabe. Dazu eine geradezu gebirgsbachklare Sprache. Begeisternd schlicht. Schnörkellos, unfassbar schön. 

Ich las die ersten Seiten und bei jedem Umblättern war es, wie in einen großen, klaren Teich zu sehen. Bis auf den Grund. So einfach, so schwierig. So lässig. Ganz große Klasse. Sogar der Satz dieses Buches transportiert das. Gewiss ist es so, dass Andrea Noack sich belohnt mit diesem Buch, jedes verdammte Gramm davon hat sie sich redlich verdient, uns aber beschenkt sie. Überreich. Wo immer sie dieses Buch geschrieben haben mag, ich muss an ein Zen-Kloster denken, an Uma Thurman bei Meister Pai Mai in Tarantinos „Kill Bill“ oder an Jenny Aaron bei ihrem Lehrer Kisho in Andreas Pflügers „Geblendet“. Wie die Beiden ist Andrea Noack eine Kriegerin, tapfer und stur, sie hat den Kampf gegen ihre Sucht gewonnen, ihre Demut aber bewahrt sie, sie triumphiert nicht, sie weiß, dass die Bestie immer auf sie lauern wird. Stratosphärenkilometer über den lauwarmen Rinnsalen herkömmlicher Ratgeberliteratur ist dies ein Buch über das Loskommen von einer Sucht, die allgegenwärtiger ist, als wir es uns eingestehen. Das Buch ist witzig und lakonisch, knallhart und menschlich, nimmt uns mit in viele Alltags- und Therapieszenen, ist manchmal screwball comedy pur und dann wieder Abgrund. Eines der Kapitel geht über Alkoholikersprache, „mindestens 3,5 im Turm haben“ bedeutet 3,5 Promille, „nur zum Trockenschleudern hier“ nennt man den von der Krankenkasse bezahlten Sieben-Tage-Entzug, die kleinen Flaschen an den Supermarktkassen sind „Zündkerzen“.

Das Buch ist harter Stoff, aber zum Feinsten destilliert, was es für uns Leser gibt: Li-te-ra-tur.

  • Andrea Noack: Die Bestie schläft. Meine Alkoholsucht und wie ich sie überwand. Blessing Verlag, München 2019. Hardcover, 384 Seiten, 20 Euro.

Verdammt viel Spaß 

(MM) Dieses Buch ist eine Mogelpackung. Was aber gar nicht schlimm ist. Der Titel Die verdammten Türen sprengen mag Aufmerksamkeit erwecken, ist aber deutlich zu rabiat gewählt für diese Sammlung von Lebenslektionen, die der britische Schauspieler Michael Caine gelernt hat, um sie jetzt an uns weiterzugeben. 

Er wendet sich zwar in erster Linie an junge Menschen, die selbst Schauspieler wollen, aber er schreibt in einem so angenehmen Plauderton und haut so viele Anekdoten raus, dass dieses Memoir auch für alle anderen Leser ein Genuss ist. So etwa, als würde man auf einer Familienfeier einen fast vergessenen Großonkel wiedertreffen, der ein wenig aus dem Nähkästchen plaudert. Das passiert aber natürlich mit britischer Höflichkeit und Zurückhaltung, sodass der Gala-, Bunte- oder „Hollywood Babylon“-Leser hier eher weniger auf seine Kosten kommt.

Michael Caine hat zumindest in einem Dutzend Filme mitgespielt, die jeder CrimeMag-Leser gesehen haben sollte, darunter „Get Carter“ (1971), den Über-Klassiker des britischen Gangsterfilm nach dem gleichnamigen Roman von Ted Lewis, „Ipcress – Streng Geheim“, einen Anti-Bond-Spionagethriller aus dem Jahr 1965, basierend auf Len Deightons Roman, Brian De Palmas auch heute noch unfassbar spannenden Psychothriller „Dressed to Kill“ und die Graham-Greene-Verfilmung „The Quiet American“ von 2002. Als typischer Vielfilmer verzeichnet sein Werk ansonsten eine eklektische Mischung aus hits and misses. Zu den unbedingten Hits gehört auf jeden Fall Paolo Sorrentinos wundervoll melancholische Alte-Männer-Tragikomödie „Ewige Jugend“ (2015), zu den schlimmsten Brotjobs seine Rolle im Bienenhorrorfilm „Der Schwarm“.

Caine macht in seinem Erinnerungsbuch kein Geheimnis daraus, dass er für Geld für jeden Schrott zu haben war, macht aber auf der anderen Seite auch kein Gewese aus seinem absoluten Kultstatus. Stattdessen, wie gesagt, viel lässiges Partygeplauder und ein paar Lebensweisheiten, die gut tun in Zeiten wie diesen, in denen miserables Benehmen die Grundvoraussetzung für Karrieren zu sein scheint, ob in der Filmwelt, in der Politik oder überhaupt. Das mag an seiner Herkunft liegen, der Schauspieler kommt aus einfachsten Verhältnissen, er wurde 1933 als Sohn eines Fischhändlers und einer Putzfrau in Südlondon geboren und zog später in den Problemstadtteil „Elephant and Castle“ (wohin er für „Harry Brown“ 2009 zurückkehrte und was dem ersten Teil seiner Memoiren, „The Elephant to Hollywood“ 2010 den Titel gab) und hat seine Herkunft nie vergessen. Oder präziser: Wenn er Gefahr lief, abzuheben, holten ihn zunächst seine Mutter und später seine Frau Shakira zurück auf den Boden. „Anständiges Benehmen“ heißt denn auch eines der schönsten Kapitel in diesem Buch, und die darin versammelten Erinnerungen zeigen einen Mann, der immer bemüht war (und dem es meisten gelang), seine Macht nicht zu missbrauchen und der sich nie mit einer Entourage aus Claqueuren umgeben hat. 

Anders als Frank Sinatra etwa:
„Ich weiß noch, wie einer seiner Leute mir einmal verschwörerisch zuflüsterte: , Frank ist heute wirklich gut gelaunt.’
In normaler Laustärke sagte ich: , Was ist mit mir? Wie bin ich drauf?’
Und der Kerl schaute mich an, als wäre ich verrückt. ,Wen interessiert das? Es kümmert niemanden, wie es Ihnen geht.’“

Wer (wie ich) Bewunderer des großartigen Michael Caine ist, wird mit diesem Buch verdammt viel Spaß haben – und wer noch kein Fan ist, wird es hoffentlich spätestens nach der Lektüre. 

  • Michael Caine: Die verdammten Türen sprengen – und andere Lebenslektionen (Blowing the Bloody Doors Off And Other Lessons in Life, 2018). Aus dem Englischen von Gisbert und Julien Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2019. Gebunden, 300 Seiten, 24 Euro. 

Wie uns die Schuppen von den Augen fallen

Entscheidend war die Veränderung des Blickwinkels. Die Sehschwäche, die vormals gern als Krankheit behandelt wurde, von Quacksalbern aller Art mit allerlei Wundermitteln und Tinkturen traktiert, musste erst als Behinderung begriffen werden, die man mit technischen Hilfsmitteln, Lupe, Brille und dergleichen, leicht kompensieren konnte. – Damit fängt die Erfolgsgeschichte der Brille an. Nahezu 80% aller Deutschen sollen, statistischen Erhebungen zufolge, mindestens zweitweise, mit solchen Gläsern auf der Nase herumlaufen.

Die Auswirkungen dieses Geräts sind enorm gewesen. Denn die Brille ermöglichte den Menschen zum Beispiel länger und präziser zu arbeiten (ohne zu ermüden). So wurde denn auch bald aus dem Luxusobjekt, das sich ursprünglich nur wenige leisten konnten, ein Gebrauchsgegenstand für die Allgemeinheit. Stefana Sabins unterhaltsam präsentierte Geschichte der Brille mit dem Titel AugenBlicke wird mit vielen Beispielen aus der Kunst- und Kulturgeschichte illustriert. Das geht von Rembrandts „Geldwechsler“ über Spitzwegs „Armen Poeten“ bis zuHumphrey Bogarts Partnerin Dorothy Malone in „Tote schlafen fest“ und der Nickelbrille, die Harry Potter nach John Lennon wieder populär gemacht hat. Kurz gesagt: Stefana Sabins Büchlein öffnet uns, auf vergnügliche Weise, die Augen

  • Stefana Sabin: AugenBlicke. Eine Kulturgeschichteder Brille. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 96 Seiten, 18 Euro.

Unser sozialer Schmierstoff

(AM) „Wir alle spielen Theater“, befand 1959 der Soziologe Erving Goffman. Kinder lernen das Lügen schnell. Hochstapler können unterhaltsam sein, aber Betrüger, Wirtschaftskriminelle, despotische Machteliten, Spione, Schmuggler und Verbrecher richten mit ihrer auf Täuschung basierenden „Art of Darkness“ (Goffman) großen Schaden an. Klagen über die Unehrlichkeit und Schlechtigkeit der Welt sind so alt wie die Menschheit selbst. Die Sprache ist eben nicht nur ein Mittel zur Verständigung sondern auch zur Täuschung. 

Mit all diesem Lug und Trug beschäftigt sich das aktuelle Doppelheft von Mittelweg 36, der von uns geschätzten Zweimonats-Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Wie immer bei diesen unkonventionellen Forschern sind die Befunde oft ganz schön überraschend. Täuschung kann vieles sein: Betrug, Lüge, Fälschung, Verstellung, List, Tarnung, Geheimnis, Manipulation, Desinformation, Propaganda. Sie ist ein Schmierstoff des sozialen Miteinanders, aber auch seine Unterminierung. Lug und Trug steht im Mittelpunkt faszinierender Fiktion, ist aber auch das Instrument finsterer Machenschaften. Es gibt daraus kein Entkommen. 

Glaubt man einem hellsichtigen Beobachter des gesellschaftlichen Treibens wie dem französischen Moralisten François de La Rochefoucauld, würden wir Menschen nicht lange in Gemeinschaft leben, wenn nicht einer vom anderen betrogen würde. Erfüllen Täuschungen in unserem Alltag also nicht auch eine zutiefst soziale Funktion? Kommen wir am Ende ohne Lug und Trug nicht aus und belügen wir uns selbst, wenn wir denken, dass wir nicht immer nur die Wahrheit sagen können?

Christian Thiel umreißt eine Soziologie der Täuschung. Karl Lenz interessiert die Unvermeidlichkeit der Lüge, Anett Kollmann zeigt uns Hochstapelei als Delikt und Metapher – schöner Spruch hier: „Fake it till you make it!“. Martin Endreß spürt den „Gelingensbedingungen“ des Täuschens nach, dazu nimmt er das Vertrauen in den Blick, Täuschung und Enttäuschung liegen nah beieinander. Die polygrafische Wahrheitssuche per Lügendetektor zerlegt das Autorenteam Paul, Fischer, Voigt zerlegt und Wolfgang Kraushaar liefert wie immer in seiner sich fortschreibenden Protest-Chronik formidablen Hintergrund. Ungelogen gesagt: Dieses Heft lohnt sich.

  • Mittelweg 36: Lug und Trug. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Heft 5, Oktober/November 2019. 120 Seiten, 12 Euro. Verlagsinformationen.

Erschütternd und klug

(SH) „Du kennst mich nicht, aber Du warst in mir“ sind die ersten Worte des Statements, das eine Frau, damals bekannt als Emily Doe, bei der Anhörung zur Festlegung des Strafmaßes gegen Brock Turner vorlas. Er wurde zuvor von einer Jury für schuldig befunden, sie auf dem Campus der Stanford University hinter einem Müllcontainer vergewaltigt zu haben, als sie bewusstlos war. Doch der Richter bei dieser Anhörung befand, dass der Leistungsschwimmer und Student eine längere Gefängnisstrafe schwere Auswirkungen auf ihn hätte und verurteilte ihn zu sechs Monaten. Das Strafmaß rief eine Welle der Entrüstung hervor, Emily Does Statement wurde auf Buzzfeed veröffentlich und ging viral. Millionen Menschen haben es seither gelesen, Gesetze in Kalifornien wurden geändert, der Richter wurde abgewählt. Und nun wendet sich Emily Doe erneut an die Öffentlichkeit: Chanel Miller, so ihr Name, hat mit „Ich habe einen Namen“ ein erschütterndes, kluges, aufrichtiges Buch darüber geschrieben, wie sie von einer Person zu einem Opfer wurde – und wie schwer es für sie war und ist, sich wieder als Menschen, als Person wahrzunehmen und zu sehen. 

Seit der Party kämpft sie um ihre Identität, die durch Brock Turner auf „bewusstlose nackte Frau“ und „Stanford-Vergewaltigungsopfer“ reduziert wurde. „Ich habe einen Namen“ erzählt über ein System, das die Opfer kaum durchschauen können, das ihr gesamtes Leben auf den Prüfstand stellt, das das Narrativ über die Tat allzu gerne dem Täter überlassen will. Ein System, dessen Institutionen darauf ausgerichtet ist, Männer zu schützen; einer Gesellschaft, in der Frauen Objekte sind und ständig von sexueller Gewalt bedroht. 

Chanel Miller weigert sich, das Narrativ jemanden anderen zu überlassen, sie weigert sich, zu verstummen, sich ihre Stimme, ihre Identität nehmen zu lassen. Sie beschreibt, was ihr geschah. Was sie gefühlt und gedacht hat, wenn Brock Turners Vater bedauert, dass sein Sohn nun keine Freude mehr darin findet, ein RibEye-Steak zu essen. Dass Brock Turner dem Alkohol und der sexuellen Freizügigkeit auf dem Campus die Schuld gibt. Dass ein Richter nicht das Leben des Täters zerstören will. Und dass eine Universität keine Unterstützung bietet. Es ist ein Buch, in dem sich viele Frauen wiederfinden – denn Chanel Miller ist nicht alleine. Hier flicht sie die Statements von anderen Frauen ein, von Christine Blasey Ford, von Ashley Judd, von den vielen Frauen, die in den vergangenen Monaten das Schweigen durchbrochen haben. Doch es gibt – wie nicht zuletzt #Metoo gezeigt hat – unzählige Frauen, die diesen Kampf bereits ausfechten mussten.

In diesem bemerkenswerten Buch liest, hört, sieht man Chanel Miller zu ihren eigenen Bedingungen. Es ist ein Buch, das aus einem Trauma heraus entstanden ist. Und es ist ein Buch, das daran erinnert, wie viele Bücher, wie viel Kunst, wie viele Leben uns vorenthalten wurden, weil Männer diese Stimmen zerstört haben. 

  • Chanel Miller: Ich habe einen Namen. Eine Geschichte über Macht, Sexualität und Selbstbestimmung. Übersetzt von Yasemin Dinçer, Hannes Meyer, Corinna Rodewald. Ullstein 2019. 480 Seiten. 20 Euro. 

Jack Reacher eher nicht

(AM) „Demokratie ist die Verzweiflung darüber, dass es keine Helden gibt, die sich regieren; und Befriedigtsein darüber, dass man sich mit ihrem Fehlen abfinden muss“, meinte Thomas Carlyle im Jahre 1841, es hat sich hartnäckig das Vorurteil gehalten, dass Demokratie und Heldentum sich nicht vertragen. Der Philosoph Dieter Thomä, der uns bereits den Störenfried als zu schätzende Figur nahegebracht hat („Puer Robustus“, begeisterte CulturMag-Besprechung hier), belehrt uns in seinem geradezu süffig lesbaren Buch Warum Demokratien Helden brauchen eines Besseren und hält ein Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus

Während des Ersten Weltkriegs, so hat Dieter Thomä ausgegraben, bot ein eine Fabrik in Deutschland „fertige Denkmalrosse mit nach Wahl aufschraubbaren Helden“ an. Deshalb, und weil er über gehörig Humor verfügt, beginnt seine Heldensuche mit dem Kapitel „Pferde sind die Überlebenden der Helden“. Adorno schrieb das 1932 nach einem Westernfilm, später wählte er ihn das als Titel für eine Wagner-Studie. „In Heldenblutes Blütenpracht/ Betrittst du hehr der Zukunft Tor“, dichtete noch 1914 ein Wilhelm Fischer den Soldaten zu. Mit Musil, Nietzsche, Freud, David Bowie („Heroes“) und einer ganzen Kompanie von Denkern, Dichtern und Medienfiguren tritt Dieter Thomä als erstes dem so tief in unsere Kultur geprägten Bild vom Soldaten als sozusagen natürlichsten Helden entgegen – Jack Reacher lässt grüßen, siehe auch das Buch von Lee Child in dieser Rubrik. Dieter Thomä seziert Bundeswehr-Werbespots, viele populäre Filme, die entsprechende Fiktion und die Heldenbilder in den Medien. Der Wiederkehr des Kriegers kann er nicht viel abgewinnen, findet das auch ziemlich altbacken. Um nicht so sagen reaktionär und restaurativ. Er hat eher die Untergrund- und Widerstandskämpfer im Blick. Die Helden der Demokratie sind Zivilisten, sie sind eher Frauen als Männer, und sie sind eher jünger als wir Erwachsenen, die sich längst abgefunden haben. Sie setzen sich für eine Sache ein, die größer ist als sie selbst. Als Philosoph ist Dieter Thomä explizit politisch, dabei angenehm anschaulich, Wehklagen und Schwanengesänge sind nicht sein Ding. Mit Marx und Schumpeter, Luhmann und Hegel, Wonder Woman, Ta-Nehisi Coates und seiner „Black Panther“-Comicadaption schärft er den Blick für ein „Wir“. Ein moderner Held ist einer von uns – und einer für uns. Sogar noch das Personenregister macht hier Spaß.
Das Buch wurde geraume Monate, bevor Hongkong in unseren Medienfokus kam, geschrieben, auch von daher ist es ebenso aufrüttelnd wie prophetisch. Heldenhaftes Eintreten für Demokratie, das geht uns alle an: „Nur ein großes Erwachen der Demokraten kann dem Aufstieg der Populisten und Autokraten in die Quere kommen. Bei diesem Erwachen sind demokratische Helden die Frühaufsteher.“ Entstanden ist das Buch während eines Forschungsjahres in Princeton. Ich denke, Hannah Arendt, die dort die erste Professorin war, hätte es geschätzt. (Die Besprechung ihrer Biographic Novel in dieser CrimeMag-Ausgabe nebenan.)

  • Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus. Ullstein Verlag, Berlin 2019. 272 Seiten, 20 Euro.

Seltenes Juwel – ein Filmbuch bester Güte

(AM) Wenn man heute im Internet nach „Blacklist“ sucht führt der erste Haufen Links zu einer (leider) ziemlich dämlichen Fernsehserie. An Publikationen war Glenn Frankel 2017 so ziemlich der Letzte, der sich anhand von „High Noon“ mit „The Hollywood Blacklist and the Making of an American Classic“ beschäftigt hat. Filmkurator Hannes Brühwiler hat 2018 eine „Hollywood Blacklist“-Retrospektive auf die Beine gestellt, die in Berlin, Frankfurt und Zürich gezeigt wurde. Daraus und dazu ist ein äußerst bemerkenswertes Buch entstanden, das in diesen Tagen erscheint. Nebenan in dieser Ausgabe präsentieren wir Ihnen daraus einen Text, den legendären Filmkritik-Aufsatz „Tod und Mathematik – Über Irving Lerner“ von Wolf-Eckart Bühler aus dem Jahr 1981. So weit ich mich erinnere, sagte man damals tatsächlich noch Aufsatz und „Hast du diesen Aufsatz von Bühler gelesen?“, nicht Essay, wie das heute für uns alle üblich ist.

Hannes Brühwiler führt äußerst kundig in das Thema ein. Der große Abraham Polonsky selbst – einst „The Most Dangerous Man Alive“ genannt – erzählt, wie die Blacklist in Hollywood funktioniert hat: „Jeder bekam ein Angebot.“ Patrick Holzapfel schreibt zur Politisierung von Dorothy Parker, Stefan Ripplinger über die Geschichte von „Salt of the Earth“ – „Mit der Gewerkschaft, gegen die Gewerkschaft“. Lukas Foerster porträtiert die Produzentin Hannah Weinstein und ihr Engagement für Blacklist-Opfer. Dazu gibt es 15 exemplarische Filmanalysen. Volker Pantenburg beschäftigt sich mit „Give Us This Day“ (Haus der Sehnsucht, 1949) von Edward Dmytryk, Ekkehard Knörer mit dem wohl unbekanntesten Joseph Losey-Film, dem Fantasy-Drama „The Boy with Green Hair“ (1948). Katrin Doerksen hat sich den romantischen Dramafilm „I Can Get It for You Wholesale“ ausgesucht, Drehbuch Abraham Polonsky, die Krimiautorin Vera Caspary auch involviert. Kompakt und auf dem neuesten Stand sind die 56 Kurzbiografien von Opfern der Blacklist von Frank Arnold und Hannes Brühwiler. Das Ganze ein weißer Elefant, ein heute fast nicht mehr mögliches, mustergültiges Filmbuch – ermöglicht von den Verlegern Dieter Bertz und Katrin Fischer, die mich unlängst schon mit der Anthony Mann-Werkschau von Ines Bayer begeistert haben (Besprechung hier).

  • Hannes Brühwiler (Hg.): The Sound of Fury. Hollywoods Schwarze Liste. Deep Focus Band 32. Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2019. Ca. 300 Seiten, 100 Fotos, Paperback, 20 Euro. Verlagsinformationen hier.

100 Wege offen 

(AM) Er war ein Filmemacher eigener Klasse. Die in der Publikationsreihe des Österreichischen Filmmuseums erschienene Monografie Gerhard Friedl – Ein Arbeitsbuch macht das auf vornehmste Weise anschaulich. Herausgeber Volker Pantenburg, der auch die Schriftenreihe im Harun Farocki Institut mitbetreut, hat mit diesem Projekt zehn Jahre verbracht, unglaubliche Details versammelt, Gespräche, Dokumente, Chat-Protokolle und Fotografien zusammengetragen, Arbeitszusammenhänge nachvollziehbar gemacht, die Hintergründe der Filme und einiger nicht realisierter Projekte rekonstruiert, zum Beispiel zu Arbeitskämpfen in den USA im ausgehenden 19. Jahrhundert, kurz so sorgfältig gearbeitet, wie es auch seinen Protagonisten immer ausgezeichnet hat. Ganze zwei sogenannt abendfüllende Filme hat Gerhard Friedl gemacht: „Knittelfeld – Stadt ohne Geschichte“ (1997) und „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ (2004), sechs Filme und Videoarbeiten insgesamt, zwei davon gemeinsam mit der Künstlerin Laura Horelli. „Mir stellt sich Faszination und Abscheu ein angesichts der Geschichte des Hochkapitalismus“, schrieb er 2005 im Exposé zu einem Film, der nicht verwirklicht werden konnte. „Zugleich habe ich ein Verlangen, diese Zeit zu verstehen und mir ein Bild zu machen. Dem Bild, das ich schon habe, misstraue ich.“

In seinem autobiografischen Text „Ich schreibe ICH“ wandte Friedl sich gegen heroische Ansichten, sein Handwerk betreffend: „Der Dokumentarfilmer schreibt das Buch am Schneidetisch, ohne Papier. Die Arbeit geht zugleich ins Grundsätzliche und ist zugleich mit dem Gedrehten immer konkret und spezifisch. Es sind 100 Wege offen. Hass kann sich einschreiben, Liebe. Respekt, Ignoranz. Man muss genau untersuchen, ausgleichen, gegeneinander stellen, an sich selbst arbeiten. Es ist wundervoll.“ Der im Sommer 2009 gestorbene, in der Steiermark geborene Friedl hatte „eine eigene Handschrift, einen eigenen Tonfall, eine eigene Film-Methode“, verbeugte der große Harun Farocki sich vor ihm in einem Nachruf. Sein Blick auf Geschichte und Gegenwart gesellschaftlicher Strukturen war rigoros, seine filmischen Mittel stets präzise komponiert, sein Herangehen an ein Thema diszipliniert und hochkonzentriert, er konnte Verhältnisse sichtbar machen. Das auch haptisch und gestalterisch begeisternd schöne Buch wird ihm gerecht – welch eine Freude.

  • Volker Pantenburg (Hg.): Gerhard Friedl – Ein Arbeitsbuch. Band 34 der FilmmuseumSynemaPublikationen. Wien 2019. 272 Seiten, mit farbigen Abbildungen, 22 Euro.

Die Sache mit der Gewichtung

(AM) Mit den meisten Enzyklopädien hat es seine Krux. Etwas fehlt immer, es darf nur nicht zu vieles sein. Mit Crime Fiction: A Reader’s Guide schreibt Barry Forshaw seinen 2007 erschienenen „Rough Guide to Crime Fiction“ fort, hat die damals darin aufgeführten 200 Autoren beträchtlich aufgestockt und sich dafür auch aus seinen zwischendurch erschienenen „Pocket Guides“ zum Nordic/ American/ Euro/ Historical oder Brit Noir bedient. 
Und Pocket Guide it is, recht viel Inhalt fürs Geld, aber zu viel geschürfte Tiefe darf man sich nicht erwarten. Gegen Forshaw wirkt Dennis Schenk wie ein Literaturwissenschaftler. Der Krimiführer ist in neunzehn Kapitel aufgeteilt, die Ursprünge der Kriminalliteratur werden in der Bibel und bei Sophokles geortet, gefolgt dann von Shakespeare, Balzac, Victur Hugo, Edgar Allan Poe, Dickens, Wilkie Collins und Arthur Conan Doyle (dort immerhin ein Verweis zu Joe Die). Kaum Neues unter der Sonne also. Auch nicht bei der Frage, die Ian Rankin in der Einleitung erörtet: Genießt Kriminalliteratur endlich den lange überfälligen Respekt, den sie verdient? Eine Fragestellung, die sich freilich bereits mit der Wahl des Retro-Covers erledigt hat – wenn das die ästhetische Höhe der Zeit ist, dann kann Respekt noch lange warten. Aber sei’s drum.

Natürlich braucht die Kriminalliteratur von Zeit zu Zeit eine Art Lexikon und es gibt hier Abteile von Golden Age, Cozy und Comedic Crime bis zu Privatdetektiven, Cops, Rechtsanwälten, Forensikern, Journalisten, Gangstern und natürlich Serienkillern und Psychopathen. Jedem Kapitel und Thema sind Lieblingsbücher zugeordnet, immer wieder werden auch Verfilmungen besprochen. Bestimmte wichtige Autoren haben eigene Porträts, denen in ihrer Pointiertheit kaum zu widersprechen ist. Ed McBain oder Elmore Leonard oder Elmore Leonard auf je einer dreiviertel Seite – immerhin. Gängige Klassifizierung bei Forshaw ist „ein Platz im Pantheon“, immerhin gibt es den auch für Derek Raymond. Charles McCarry hätte mehr verdient gehabt als nur mit seinem Spätling „Old Boys“ vorzukommen, auch Gerald Seymour bleibt etwas knapp in der Darstellung. Eric Ambler ist einer der wenigen mit einer ganzen Buchseite und dazu vier Kurzrezensionen.
Lehrreich war die Lektüre für mich insofern, als mir wieder einmal auffiel, wie – fast – unvergleichlich breit doch der deutsche Krimi-Markt aufgestellt ist. „Foreign Bloodshed“, übersetzte Kriminalromane, machen bei Forshaw keine 40 der 448 Seiten des Buches aus (Oliver Bottini als einziger deutscher Autor dabei, jedoch kein Andreas Pflüger, von dem zwei Jenny-Aaron-Romane übersetzt sind). Dabei ist Deon Meyer aus Südafrika, aber kein Mike Nichols, und nicht ein einziger zeitgenössischer australischer Autor: kein Garry Disher, Alan Carter, Paul Temple, David Whish-Wilson oder eine Candice Fox. Kein Jean-Patrick Manchette, über Peter O’Donnell und Modesty Blaise ganze 13 Zeilen, zehn nur über Ken Bruen, nullkommanull über Harry Bingham – und für mich die größte Fehlstelle: kein Pieps zu Adam Hall (sein CrimeMag-Porträt hier).

  • Barry Forshaw: Crime Fiction: A Reader’s Guide. Oldcastle Books, London 2019. 448 Seiten, GBP 12,99.

Brennglas der Geschichte

(AM) Faszinierend und unerwartet, als Fund ein Schmuckstück, der Traum eines jeden Museumsdirektors und für uns als Freunde schöner Bücher ein Glücksfall, das ist dieses verschwenderisch illustrierte Buch von Mario Kramp über Köln an der Seine. Der Kölner Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1937. Der Direktor des Kölnischen Stadtmuseums war eher zufällig auf den weitgehend unbekannten Auftritt Kölns auf der Bühne der Weltgeschichte gestoßen, als er eine Ausstellung zum 200. Geburtstag des gebürtigen Kölner Komponisten Jacques Offenbach vorbereitete. Als weltweit einzige Stadt war Köln 1937 in Paris mit einem eigenen Pavillon vertreten. Dokumentiert wurde der Auftritt vom damals 19-jährigen Fotografen Karl Hugo Schmölz, seine Fotos und die seines Sohnes Hugo bildeten den Grundstein dieses Buches und der entsprechenden Ausstellung – sie ist noch bis zum 26. Januar 2020 im Kölnischen Stadtmuseum zu sehen.

Vom 25. Mai bis zum 25. November 1937, zwei Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, gaben sich die Nationen auf der Weltausstellung ein scheinbar friedliches Stelldichein, folgten der Tradition der von Prinz Albert angeregten, 1851 erstmals im Londoner Hyde Park unter dem Titel „Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations“ veranstalteten Schau im eigens errichteten spektakulären Kristallpalast, einem 600 Meter langen Gebäude aus Glas und Eisen. Die ersten Weltausstellungen, auch als Exposition Universelle InternationaleExposition Mondiale (Expo) oder World’s Fair bezeichnet, vereinten die Welt unter dem großen Dach eines einzigen Gebäudes. Schon 1867 in Paris aber konnte der Platzbedarf so nicht mehr gedeckt werden, man sah sich gezwungen, für die teilnehmenden Länder separate Pavillons zu errichten. Dieses Konzept der Länderpavillons hat sich bis in die Jetztzeit gehalten.

Paris hatte Köln eingeladen, weil man die Stadt eng mit Frankreich verbunden sah. Das NS-Regime gab sein Plazet, Bedingung war, dass die Stadt die erforderlichen 30.000 Reichsmark in Devisen selber aufbrachte. Köln schaffte es mit einem Trick: Man kaufte 28 Ford-„Eifel“ und verkaufte sie an die Pariser Stadtverwaltung. Den Franzosen war die Teilnahme Kölns der Beweis, dass Hitler keinen Krieg plane. Dennoch aber hatte man dem deutschen Wunsch entsprochen, keine deutschen Künstler auszustellen, die im Pariser Exil lebten. Wer wollte, konnte damals im spanischen Pavillon Picassos Monumentalgemälde „Guernica“ sehen. Er hatte es erst kurz zuvor eigens für die Expo vollendet – eine Anklage des Bombenangriffs auf das spanische Städtchen durch die deutsche Luftwaffe im April 1937. – Durch das ganze Buch zieht sich der Schatten des Zweiten Weltkriegs, Geschichte kondensiert sich hier an einem Ort. 

  • Mario Kramp: Köln an der Seine. Der Kölner Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1937. Greven Verlag, Köln 2019. Hardcover, 272 Seiten mit vielen Abbildungen, 30 Euro.

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