Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

non fiction, kurz – 09/2020

Sachbücher, kurz und bündig 

Sekundärliteratur ist unerlässlich, wenn man nicht nur konsumieren will. Alf Mayer (AM) war im Revier unterwegs – mit:

Oliver Bullough: Land des Geldes
Claudia Gehrke, Stephanie Sellier (Hg.): Tod. Konkursbuch 56
Allen Glover: TV Noir: Dark Drama on the Small Screen
Garrett M. Graff: Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September
Siegfried Tesche: Motorlegenden – James Bond
Siegfried Tesche: 007. Der James Bond Atlas

Was für ein Spaziergang

(AM) Dialog am Frühstückstisch: „Ist das eigentlich tauglich als Geschenk?“ – Meine Frau: „Bist du verrückt? Du kannst doch niemand etwas über den Tod schenken.“
Doch, kann man. Finde ich. Und wenn, dann das hier: Konkursbuch 56 – Tod, gerade eben erschienen. 606 Gramm, angenehm haptisch in der Hand, 456 Seiten, fein illustriert – und ungeheuerlich vielfältig, fast 70 Autorinnen und Autoren (Selbstanzeige: die CrimeMag-Herausgeber AM und TW mit dabei). Erzählungen, Erinnerungen, Gespräche, Gedichte, Essays, Gewissenserforschungen, Grabreden, Lebensgeschichten mit Toden und Toten, beißend Humorvolles, Familien- und Spukgeschichten, Sachtexte, Kostümentwürfe, Fantasien vom Danach, Historisches, Philosophisches, viele Bilder, Fotografien, eine Postkarten-Höllensammlung und ein Theaterstück, das sich in mehreren Stationen durchs Buch zieht.
Herausgeberin Claudia Gehrke, die schon für viele Bücher verantwortlich zeichnete, hat sich hier im Verbund mit Stephanie Sellier selbst übertroffen. Aufgebaut ist der ebenso kompakt wie großzügig wirkende Band wie ein Spaziergang, den man sich selber zusammenstellen kann. Inhalt wie Gestaltung atmen die Freiheit des Geistes, das Buch ist ein Fest des Lebens – mit unserer aller Sterblichkeit, eine überaus kurzweilige, bunte und wundersame Collage. Regina Nössler etwa schreibt über einen Friedhof ihrer Grundschulzeit in Frankfurt-Rödelheim und forscht über die Filmwissenschaftlerin Dr. Eva M. J. Schmid, eine ihrer Toten. Litt Leweir steuert eine beeindruckend ambivalente Kurzgeschichte bei, Jürgen Jonas ein Sterbealphabet in jeweils siebzehn Silben. Zu Franz Kafka etwa heißt es dort: 
„Ich wollte sterben
und zusehen, wie man weint.“

Um Leib und Seele
3. Juni 1924

Zu Zapata:
Emiliano
ist gar nicht tot. Kommt wieder,
wenn wir ihn rufen  …
10. April 1919

Querdurch ziehen sich die Antworten auf einen Fragebogen, den die Herausgeberinnen verschickt haben. Fast alle, die sie ansprachen, berichten sie im Vorwort, hielten sich anfänglich zurück „und sprudelten dann“. Der Tod als Ende. Zugleich als Anlass für Texte… Die Erstauflage dieses wundersamen Buches beträgt 666 Exemplare. Sichern Sie sich eines oder zwei, es lohnt.

Claudia Gehrke, Stephanie Sellier (Hg.): Tod. Konkursbuch 56. Ein Lesebuch mit Beiträgen u.a. von Torsten Flüh, Xenia Hausner, Dorothea Keuler, Marie-Luise Kling-de Lazzer, Jürgen Jonas, Alf Mayer, Regina Nössler, Ulrike Pfeil,  Axel Schock, Thomas Wörtche, Hannah Zufall u.v.a. Konkursbuch Verlag, Tübingen 2020. 456 Seiten, Klappenbroschur, 16,80 Euro.

Emotionale Wucht

(AM) Nine-eleven ist die Kurzformel für ein Datum, das ebenso wichtig ist wie der Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, es war der Tag, an dem Terroristen zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York gesteuert haben. Seitdem haben wir eine andere Welt. 9/11 wirkt nach. 2018 war das erste Jahr, in dem nach dem 11. September 2001 geborene Rekruten zu Einsätzen in den Irak und nach Afghanistan geschickt wurden. Der Journalist Garrett M. Graff hat Jahre damit verbracht, über die geo- und sicherheitspolitischen Konsequenzen dieses Datums zu schreiben, zuletzt „Raven Rock. The Story of the U.S. Government’s Secret Plan to Save Itself — While the Rest of Us Die“ über die Regierungsvorsorge für den Jüngsten Tag (CrimeMag-Kritik hier). Jetzt legt er mit Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September vor. Drei Jahre hat er dafür recherchiert, zwei Jahre mit der Oral-History-Spezialistin Jenny Pachucki zusammengearbeitet. Das Buch beruht auf mehr als 500 Zeitzeugenberichten, destilliert aus über 5000: einfache Menschen, Mütter und Väter und Kinder, Feuerwehrleute, Polizisten, Politiker, Ärzte, Lehrer, Hausfrauen, Mütter, Stewardessen, Journalisten, CIA- und FBI-Agenten, Soldaten und Pfarrer. Das Buch will dokumentieren, wie dieser Tage erlebt wurde – in den eingestürzten Türmen, in New York und Umgebung, im Pentagon, im Kapitol, im Weißen Haus, in Bunkern und Flugsicherungszenten, in Schulen und Büros, im Cockpit von Kampfflugzeugen und in den Flugzeugen, die an diesem Tag zum Absturz gebracht wurden. 

Die Lektüre ist heftig, die emotionale Energie gewaltig. Die Erzählweise ist demokratisch. Das ist klein und groß und vor allem anschaulich, ein Leseerlebnis, das unter die Haut geht. Sich einbrennt. (Auch das US-Hörbuch übrigens ist Gänsehaut.) Oral History mag ein wenig aus der Mode sein, veraltet ist sie nicht, sondern höchst effektiv. Zuletzt hat uns das die Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch mit Büchern wie „Die letzten Zeugen – Kinder im Zweiten Weltkrieg“, „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“, „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ bewiesen. Nun also Kempowskis „Echolot“ aus New York, als Raum für Verzweiflung und Schmerz, Trauer und Schrecken und puren Terror.

Unweigerlich summiert sich eine große Litanei des großen „Was Wenn?“ Was, wenn Mohammed Atta nicht aufgefordert worden wäre, sich beim Boarding zu beeilen? Was, wenn jemand seinen Flug nicht bekommen oder für eine andere Stunde gebucht hätte? Was, wenn jemand nicht noch schnell sein Hemd gewechselt hätte? Was wäre aus Familien geworden, aus Karrieren, aus so vielen Leben? Stoff für Dutzende Romane steckt in diesem Buch. Der Originaltitel bezieht sich darauf, dass die Air Force One mit Präsident Bush an Bord an diesem Tag das einzige Flugzeug am Himmel war; die Maschine kreiste für Stunden über den USA. So schien es für die Sicherheit von Präsident Bush am besten.

Garrett M. Graff: Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September (The Only Plane in the Sky: An Oral History of 9/11, 2019). Suhrkamp Nova, Berlin 2020. Klappenbroschur, 541 Seiten, 20 Euro.

„James, fahr nicht so schnell“ (Bond 1)

(AM) Das erste Foto, wenn man diesen handlichen, stabil gebundenen Band aufschlägt, ist für ein klar fetischistisch angelegtes Auto-Buch spektakulär. Es zeigt den zerschrammten vorderen linken Kotflügel eines elegant beige glänzenden Aston Martin DB 5, eines von zehn extra für den neuen Bond-Film gebauten Replikas, im süditalienischen Matera. Autor Siegfried Tesche war dort im August 2019 bei den Dreharbeiten von „Keine Zeit zu sterben“ (No Time to Die) vor Ort, die Corona-Pandemie brachte alles durcheinander. Der Film sollte an Ostern dieses Jahres starten, jetzt wird es Mitte November für den „global release“, und James Bond wird mehr denn je die ganze (Kino-) Welt retten müssen.
Motorlegenden – James Bond ist das richtige Buch, sich die Wartezeit bis dahin zu vertreiben. Der Autor ist nicht nur ein großer Bond-Fan (siehe auch seinen 007-Atlas), sondern auch ein Autokenner und solch ein Buch hat es tatsächlich noch nicht gegeben. Liebevoll und detailliert werden all die Fahrzeuge aller Bond-Filme, ihre Einsätze und was aus ihnen wurde, beschrieben, ihre Leinwandzeit sekundengenau notiert, dazu Modell, Farbe, Bauzeit, Stückzahl, Motor, Motorleistung, Kennzeichen, Höchstgeschwindigkeit in Steckbriefen benannt und in vielen Anekdoten und Hintergrundinformationen ausgeleuchtet, die Stuntleute gewürdigt und auch vermerkt, welche Autos die Schauspieler privat besaßen und besitzen. Für Auto- und Bond-Liebhaber ist dieses reichlich illustrierte Buch ein Fest. Alleine der weiße Lotus Esprit aus „Der Spion, der mich liebte“ (1977) bekommt 30 Seiten („Screen-Time 9.51 min“). Der 2 CV aus „In tödlicher Mission“ („Screen-Time 4.33 min“) kommt ebenso vor wie der BMW 750 IL aus „Der Morgen stirbt nie“ („Screen-Time 6.24 min“) oder der Moon Buggy aus „Diamantenfieber“ („Screen-Time 3.10 min“), vom Aston Martin DB 5 in „Goldfinger“ (10.46 min) und in sieben weiteren Bond-Filmen zu schweigen, Screen-Time insgesamt bisher 20.18 min.

Das Buch lässt unter viele Motorhauben und in viele Nähkästchen blicken, ist kurzweilig geschrieben und gestaltet, lässt die schönsten Fahrstrecken aus den Filmen nicht außer Acht und zeigt in Summe, dass die Geschichte der Fahrzeuge mindestens so spannend ist wie die Filme selbst. Ein Buch mit hohem Spaßfaktor.

Siegfried Tesche: Motorlegenden – James Bond. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2020. 240 Seiten, Format 225 x 170 mm, durchgängig illustriert, 29,90 Euro.

So nah, so fern (Bond 2)

(AM) Eine Erstauflage von 007. Der James Bond Atlas erschien 2008
 im Wissen Media Verlag, Gütersloh. Jetzt gibt es eine erweiterte Neuausgabe im großzügigen Atlas-Format und mit dem britischen Geheimagenten und seinen inzwischen 28 Filmen reist man tatsächlich um die ganze Welt. Autor Siegfried Tesche (siehe auch sein Buch über die Bond-Autos) hat viele 007-Schaupätze selbst bereist. Weltkunde also mit der Figur von Ian Fleming, der einmal sagte: „Das erste Gesetz für einen Geheimagenten ist, dass er sich in Geografie auskennt…“

Der Atlas folgt im Kapitel 1 „Die Filme“ jedem Bond-Film an Schauplätze und Drehorte, beschreibt einzelne Szenen und Drehs, dazu auch – sehr verdienstvoll – die Arbeit der 2nd Units, und breitet zu jedem Film eine eigene Weltkarte mit all den Filmorten aus, dazu gibt es Stadtpläne und Szenenfotos. Der Bildersog der Bond-Filme wird übersichtlich in die einzelnen Reiseabschnitte zerlegt. In Kapitel 2, „Die Schauplätze“, nimmt natürlich Großbritannien einen breiten Raum rein, 20 Seiten insgesamt, von Südwesteng- bis Schottland, die Pinewood-Studios und die anderen Londoner Fazilitäten inklusive. Es folgen Frankreich und Monaco, Paris, Norwegen, Deutschland mit sechs Seiten, darunter viel Berlin, Russland, die Schweiz, Österreich, Italien (viel Venedig), Griechenland, Türkei, Marokko, Ägypten, viel USA, Mittel- und Südamerika, dazu Indien, Hongkong, Japan und Thailand. Nur Afrika, Australien oder Neuseeland sind schwach vertreten in den Bond-Filmen, lernen wir.
Einzelne Städte wie Berlin, Wien oder Paris haben größere Auftritte, manchmal spannt sich hier im Bond-Kosmos ein weiter Bogen. In Istanbul etwa, das Ian Fleming 1954 für eine Interpol-Konferenz besuchte, um über das globale Verbrechen zu recherchieren, und dann in „Liebesgrüße aus Moskau“ (als Roman 1957) einbaute. Im Film von 1962 mit Sean Connery  durfte in der Hagia Sophia nicht gesprochen werden, nicht einmal eine Filmklappe wurde dort geschlagen. 49 Jahre später waren Daniel Craig als neuer Bond und Naomie Harris wieder vor Ort, für die Pre-Title-Sequenz von „Skyfall“. Eigentlich sollte als Reminiszenz wieder an der Hagia Sofia gedreht werden, aber die Absperrmaßnahmen wären zu gigantisch ausgefallen, so wurde ein eigener Bazar aufgebaut, sogar eigene Dachziegel über die des Grand Bazar gelegt. Die Sequenz, in der die Motorradfahrer die Straße verlassen und dann auf einen fahrenden Zug springen, wurde in der fast 1000 Kilometer südlich gelegenen 1,5-Millionen-Stadt Adana gedreht. Endstation, wo Bond angeschossen ins Nirwana stürzt, ist auf der 75 Kilometer entfernten Vardana-Bridge. Im Film wirkt alles nah beieinander.

Siegfried Tesche: 007. Der James Bond Atlas. 1954 – 2020 Filme Schauplätze Hintergründe. LangenMüller, Stuttgart 2020 (3. Aufl.). Atlas-Format, 272 Seiten, durchgängig illustriert, 30 Euro.

Stoff für zig Romane

(AM) Das goldene Vorsatzpapier hat seinen Sinn, denn mit diesem Buch betritt man eine Welt, die nicht die unsere ist, eine von unvorstellbarem Reichtum, unrechtmäßig aufgehäuft und oft mit Hilfe des Westens  gewaschen und legalisiert. Der britische Investigativ-Journalist Oliver Bullough beginnt seinen Ausflug ins Land des Geldes (im Originaltitel: Moneyland) mit einer Reminiszenz an die französische Revolution und den Sturm auf die Bastille als Machtsymbol, besucht dann 2014 in Kiew den vom Volk besetzten Präsidentenpalast Janukowytschs, der vollgestopft war wie eine Räuberhöhle. Wenige Seiten weiter erhebt 2017 Sonderermittler Robert Mueller Anklage gegen Trumps ehemaligen Wahlkampfmanager Paul Manafort, der ebenjenen ukrainischen Ex-Präsidenten „beriet“, kräftig beim Geldwaschen half und alleine bei einem New Yorker Herrenausstatter für 849.215 Dollar eingekauft hatte, ein paar Belege müssen in diesem Gewerbe ja für die Steuer sein.
In London nimmt Bullough uns mit auf eine Kleptokraten-Bustour, das lohnt sich dort. Wir lernen auch, wie gut in Ian Flemings Roman „Goldfinger“ von 1959 das inzwischen längst vergangene, weil auf allgemeine Anständigkeit angelegte Währungssystem von Bretton-Woods beschrieben ist, und wie heute, wer Geld hat, sich seine Gesetze zusammenstellen kann wie ein Nachtischbuffet. Es geht um die Superreichen, die großen Steuersünder der Ersten und um die Kleptokraten der Dritten Welt, um den neuen Reichtum in China und Russland. Dort, direkt an der Kremlmauer, befindet sich die umsatzstärkste Bentley-Niederlassung der Welt, nirgends werden mehr Protzkarossen verkauft. 226.450 Menschen weltweit galten 2016 als reich mit einem Vermögen von mehr als 30 Millionen Dollar, es steigt pro Jahr in der Größenordnung des Bruttoinlandprodukts von China und den USA zusammen, Amazon und andere Corona-Gewinnler noch gar nicht mitgerechnet. 

Es ist eine schwindelerregende Welt, dieses Moneyland. Seine Grenzen sind virtuell, sie überspannen die Schweiz und Monaco, Panama (mit eigenen Papers), Florida, London, Moskau, Manhattan, die Kaiman-, Jungfern- und viele andere Inseln und Briefkästen. In jedem Land gibt es genügend Schlupflöcher, die dorthin führen. Transparency International hat seine Mühen, all dem zu folgen. Moneyland ist die dunkle Seite der Globalisierung. Bullogh: „Es hat keine Zöllner, die Pässe abstempeln, keine Flagge, vor der man den Hut zieht, und keinen Außenminister, mit dem man telefonieren könnte. Moneyland hat keine Armee, um sich zu verteidigen, aber es braucht sie auch nicht. Es existiert überall da, wo jemand sein Geld dem Zugriff seines Staats entzieht und die Banker und Anwälte bezahlen kann, die ihm dabei helfen“

Die Quellen sind kapitelweise angegeben. Es gibt ein Register. Und Stoff für mehr als fünf Dutzend Kriminalromane. Was für eine Lektüre.

Oliver Bullough: Land des Geldes. Warum Diebe und Betrüger die Welt beherrschen (Moneyland.  Why Thieves & Crooks Now Rule The World & How to Take it Back, 2019). Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Verlag Antje Kunstmann, München 2020. 332 Seiten, 25 Euro. 

Die Bilder sprechen miteinander

(AM) Dieses Buch war mehrere Jahre lang angekündigt, immer wieder verschob sich der Erscheinungstermin. Es lag am Autor und seinem Perfektionsdrang. Das Ergebnis ist ein Meilenstein. Der aus Kaiserslautern stammende Medienhistoriker und Ausstellungsmacher Allen Glover war Kurator am Paley Center for Media, besser bekannt als Museum of Television & Radio in New York und Los Angeles, das der kulturellen und kreativen Rolle von Fernsehen und Radio und dessen gesellschaftlicher Relevanz gewidmet ist. Glovers Anliegen ist es, unseren Blick auf das Noir-Universum zu erweitern, und das substantiell. Sein TV Noir: Dark Drama On The Small Screen ist die erste umfassende Studie zum Anteil des Fernsehens an diesem Genre (oder wie immer man den Film Noir nennen will) und er macht klar: Noir-Fernsehen gab nicht erst, nachdem das Kino ein größeres Publikum mit dieser Weltsicht vertraut gemacht hatte. Das geschah gleichzeitig, die Verschränkungen sind viel enger, und sie sind vielfältig. 
Glover hat Aberhunderte von TV-Sendungen untersucht und Programme gewichtet. Das frühe (US-)Fernsehen der 1940er und 1950er strahlte zahlreiche „Live drama“-Adaptionen und Telefilme der Werke von Chandler, Hammett, Cornell Woolrich, David Goodis, W.R. Burnett, Dorothy B. Hughes und anderen aus. Anthologie-Programme wie etwa das Kraft Mystery Theatre bedienten sich unter anderem bei Ed McBain. Und vor TV Noir gab es Radio Noir und sogar Bühnen Noir. Die erste Noir-Serie war 1945 Cornell Woolrichs „The Black Angel“ auf NBC, Patricia Highsmiths „The Talented Mr. Ripley“ gab es bereits ein Jahr nach Erscheinen des Romans 1956 im Fernsehen. Jack Webbs „Dragnet“ wirkte stilbildend, ebenso Lee Marvin in „M Squad“. Auch „The Fugitive“ (1963 – 1967), dessen Hauptdarsteller David Jansen das Cover ziert, befruchtete viele andere Serien, war seinerseits ein wenig nach der Westernserie „Cheyenne“ (1955 – 1963) gestrickt, der Schöpfer in beiden Fällen Roy Huggins, der später auch die „Rockford Files“ (1974 – 1980) verantwortete. Glover arbeitet Noir-Einflüsse auch für „The Twilight Zone“ heraus, macht Ausflüge nach Großbritannien zu „Danger Man“ und „The Prisoner“, hat ein Auge für die Ära von Honor Blackman bei den „Avengers“ (1961 – 1965), zieht Linien bis „Twin Peaks“ und „Breaking Bad“.

Außergewöhnlich gut sind die Illustrationen, insgesamt 289 Schwarz-Weiß und 147 Farbabbildungen, darunter viele ausgesuchte Szenenfotos.  Die Bilder sprechen miteinander, bilden eine eigene Metaebene. Der renommierte Abrams Verlag legt hier ein richtig schönes Buch über das Fernsehen vor, das Warten hat sich gelohnt. Einblicke in das Produkt gibt es auf der Internetseite des Autors (unter „Portfolio“ zu „TV Noir“ gehen, dann blättern sich rechts die Buchkapitel auf).

Allen Glover: TV Noir: Dark Drama on the Small Screen. Abrams Books, New York 2019. Hardcover, 256 Seiten, durchgängig illustriert, USD 40.

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