Geschrieben am 1. Dezember 2012 von für Crimemag, Porträts / Interviews

Merle Kröger („Grenzfall“) im Gespräch mit Ulrich Noller

Komplexe Gebilde im Safer Space

– Die gesellschaftliche Realität des Verbrechens: In den Geschichten von Merle Kröger erfährt man davon mehr als in den meisten anderen Kriminalromanen. „Grenzfall“, ihr aktueller Roman, ist einer der unkonventionellsten Krimis der vergangenen Jahre: Geboren aus der Recherche zu einem Dokumentarfilm, realistisch und authentisch, zugleich doch hochfiktional; formal experimentierfreudig, multipolar und vielperspektivisch; lebendig und voller Leben – am Ende möglicherweise sogar mit utopischem Potential. Ein Politkrimi? Gesellschaftsportrait? Abenteuerroman? In jedem Fall: Ein Wurf, das Buch einer wagemutigen Autorin. Ulrich Noller hat mit ihr gesprochen.

So, zur Sache, Merle Kröger. Könnten Sie freundlicherweise die Handlung Ihres Romans „Grenzfall“ in drei bis fünf kurzen Sätzen pitchen?

In meinen Filmseminaren bleibt das Wort Pitching bewusst draußen vor der Tür. Viele gute Projekte kann man nicht pitchen, weil sie zu komplex sind. Sie brauchen einen „safe space“ um sich verbal zu entfalten. Ich geh mal davon aus, dass dieser virtuelle Ort  so ein safe  space ist.

„Grenzfall“ ist die fiktive Verlängerung einer historischen Jagdszene in die Gegenwart. 1992 liegen zwei Tote in einem brennenden Feld in Vorpommern. Die Täter sind bekannt. Zwanzig Jahre später macht sich Mattie Junghans auf die Suche nach der Wahrheit hinter der Wahrheit hinter der Wahrheit hinter der …

Komplexität ist jedenfalls kein Kriterium, dem Sie mit Ihrer Literatur aus dem Weg gehen, oder?

Nein, mir gefällt es, komplexe fiktive Gebilde zu bauen. Diese Gebilde sollen als fertige Bücher nicht erstarren, sondern schwingen. Komplexität ist aber keine Attitüde. Wenn es einfacher ginge, würde mir das auch gefallen. Vielleicht komme ich da eines Tages hin. Die Vorstellung, immer knapper zu werden, finde ich interessant.

Mein erstes Buch „Cut!“ habe ich geschrieben, weil ein Spielfilmredakteur vom ZDF die Drehbuchidee zu komplex fand und mir riet, doch mal „ein bis zwei Ebenen raus zu nehmen“.  Stattdessen habe ich einen Roman geschrieben. Da bleibt das Budget gleich, auch wenn er parallel in Mumbai, Hamburg und London und in drei verschiedenen Zeitebenen spielt.

Wie komplex muss ein Kriminalroman denn sein, um gutes Genre zu liefern?

Das Genre ist stringent, es verlangt nach einem klaren Plot. Das diszipliniert erst mal. Je mehr Spiralen sich dann um diesen Plot drehen, umso komplexer, umso besser für mich. Da dürfen unterwegs auch gern ein paar Fragen offen, Rätsel ungelöst und Dinge ungesagt bleiben.

Nur zur Absicherung: Ist „Grenzfall“ eigentlich überhaupt ein Kriminalroman?

Ist er das? Sie sind der Krimiexperte! Ich lese Krimis als Romane – und so schreibe ich auch. Das Genre ist für mich eine sich  immer wieder neu erfindende Jugendliebe – wie weit ich mich dabei vom „Original“ entferne, spielt schon lange keine Rolle mehr.

Polizisten spielen jedenfalls – wie auch in Ihren anderen Romanen – eine eher nebensächliche Rolle …

Warum soll man Polizisten wieder und wieder unverdienten Glamour andichten? Ich kann und will mich nicht mit Polizisten identifizieren, auch wenn sie im nächsten „Tatort“ noch unkonventioneller daherkommen als im letzten. Wenn ich das könnte, wäre ich Staatsanwältin und nicht Autorin. Polizisten ermitteln. Mattie Junghans stellt Fragen – nach der Wahrheit, nach der Welt und eben auch nach sich selbst. Das ist für sie – und für mich – ein großer Unterschied. Eins führt zum anderen. Sonst enden wir immer wieder im selben Zustand.

Warum eigentlich Krimi?

Krimi ist gleich Dramaturgie ist gleich Melodram ohne Geschwätzigkeit, ist gleich fragen, um Antworten zu hören, nicht um der Fragen selbst willen, auch wenn ich die Antworten nicht immer hören bzw. lesen will. Ein Genre, in dem Härte und Dreckigkeit erlaubt ist. Sogar Verspieltheit, wenn man nicht selbstverliebt wird. Im Krimi steckt für mich auch ein großes Potential für Realismus, der nicht abbildet, sondern Realität interpretiert,weiterdenkt.

Nennen Sie doch mal drei KriminalautorInnen, die Sie beeindrucken – mit jeweils einem Begriff zur Begründung …

Dominique Manotti – konsequent
Colin Cotterill – witty (wie lautet das deutsche Wort dafür??? „Gewitzt“ jedenfalls nicht…)
Fred Vargas – verzweigt

„Lupenreines Genre“, das ist es nicht, was Sie interessiert, oder?

Kommt drauf an wer die Lupe gerade vor Augen hat? Aber „-rein“ gefällt mir nie. Bastarde mögen so was nicht. Es leben die Mudbloods.

Inwieweit interessiert Sie denn die Realität als Knetstoff für Ihre Geschichten?

Ich frage mich jetzt gerade, welche Autorin, welcher Autor hier mit „Nein“ antworten würde. Ich bin auch Dokumentarfilmerin. Würde mich die Realität nicht interessieren, wäre ich nicht glaubwürdig. Oder Zynikerin. Vor Letzterem habe ich mehr Angst als davor, mich in meinen Geschichten weiter von der Realität zu entfernen. Jede Geschichte ist doch nur eine weitere Version von Realität! Der Begriff „Kneten“ gefällt mir. Ich knete die Realität in meine Fantasie – oder knete ich Fiktion in die Realität und mache sie zu einer Geschichte?

Welche Rolle spielt für Sie bei einer guten Geschichte die Politik?

Wo fängt denn Politik an? Bei den Charakteren? Bei der gesellschaftlichen Relevanz? Oder bei den realpolitischen Bezügen? Auf dem Feld in Vorpommern? Auf dem Weg der Roma von Indien nach Europa vor knapp 1000 Jahren? Bei der Hautfarbe von Mattie Junghans? Oder bei den realen Kommunalwahlen vor ein paar Monaten? Im Kino oder auf dem Marktplatz am Biogemüsestand? Das Politische im Krimi muss sich nicht unbedingt im Setting 1 zu 1spiegeln. Es kann sich im Inneren einer Figur finden. In der Form, eine Geschichte zu erzählen.

Und inwiefern fließt – insbesondere bei Matti Junghans – Ihre eigene, Ihre biographische Realität mit ein?

Warum hätte ich Mattie Junghans erfunden, ginge es mir um eine rein biografische Angelegenheit? Was ich mag, ist der Begriff eines Alter Ego – ein biografisch inspiriertes Gegenüber, eine Person(a), an der ich mich abarbeiten kann. Mattie ist mir Buch für Buch mehr ans Herz gewachsen – war sie in „Cut!“ tatsächlich eher eine Kunstfigur, von der ich mich bewusst distanzieren konnte, kommt sie mir mit jedem Bruch in ihrer eigenen Biografie, mit jedem Zweifel an ihren eigenen Wahrheiten, mit jedem Scheitern ein Stück näher.

„Grenzfall“ ist ja sozusagen kulturell verschwägert mit dem Dokumentarfilm „Revision“, den Sie produziert haben. Können Sie die Beziehung dieser beiden Kunstwerke beschreiben?

Kulturell verschwägert – verschwistert trifft es vielleicht eher. Am Anfang steht das Bild: Ein brennendes Feld. Zwei Leichen. Dieses Bild evoziert zwei Stränge: Beide suchen danach, die Lücken zu füllen. Der Dokumentarfilm füllt die Lücken der Justiz mit Fragen und Emotionen und Bildern. Der Krimi füllt die Lücken im Kopf mit Fragen und Emotionen und Wünschen. Der Krimi macht das Unsichtbare sichtbar: die Recherche, die Rache, das Schweigen. Die Manifestation einer Möglichkeit im Kopf. Explosion des Schmerzes. Vergeltung. Vergebung.

Auf der Ebene der erzählten Geschichte – wo sind die Schnittmengen zwischen Dokumentarfilm und Kriminalroman?

In der Möglichkeit. In der Lücke.

Inwiefern lässt sich eine solche Geschichte im Kriminalroman anders erzählen?

Sie lässt sich gleichzeitig mit mehr Leichtigkeit und mit mehr „space“ erzählen. Das heißt, ich verschaffe mir in  der Fiktion noch einmal einen Raum, mir die Geschichte anzueignen, im Sinne von „zu eigen machen“. Als wir für den Dokumentarfilm mit den Familien der Opfer gedreht haben, ging es immer wieder um die Frage: „Warum macht ihr das?“ Und die Antwort lautete: „Es ist nicht nur eure Geschichte, weil ihr euren Vater verloren habt. Es ist auch unsere Geschichte.“ Wenn wir sie nicht als unsere annehmen, können wir sie nicht erzählen. Können wir den Toten keinen Raum darin geben. Der Dokumentarfilm eröffnet den Familien der Toten diesen Raum und teilt ihn mit den Zuschauern im Kino. Der Kriminalroman eröffnet mir als Autorin diesen Raum, den ich mit Stimmen fülle. Diese Stimmen existieren jenseits von Zeit und Raum, von Bildung, Klasse und Gender. Sie existieren gleichzeitig in meinem Kopf und in der Wirklichkeit wie ich sie mir vorstelle.

„Europäischer Krimi par excellence“ oder „Krimi global total“ – welches Label würde Ihnen für Ihr Schreiben eigentlich besser gefallen?

Der europäische Krimi gefällt mir ganz gut – global ist mir zu groß und regional zu eng. Und was ist denn Europa? Ein Wirtschaftsraum? Ein ethnisches Gemenge? Oder die Summe seiner gegenwärtigen, historisch-kolonialen und zukünftigen Teile? Bin ich europäisch, obwohl ich gleichzeitig ultra-regional (Prägung) und ultra-global (Gene) bin?

Lustigerweise steckt in „Grenzfall“ ja auch ziemlich viel Region. Also auch ein „Regiokrimi mit internationaler Perspektive“? 

Ich muss an Hakim Beys Konzept der „Temporären Autonomen Zone“ denken, basically: Nur wenn wir uns lokal organisieren, können wir uns global vernetzen. Also zum Beispiel ist Mattie eine Person, die sehr lokal agiert und dabei gleichzeitig ihren Blickwinkel immer wieder erweitern und verändern muss, um nicht komplett vor die Wand zu laufen. Einfach weil ihr die begrenzten – regionalen – Wahrheiten nicht reichen, die Luft zum Atmen nehmen. Was ich am Regionalkrimi nicht mag und nie mögen werde: das Kleine – das kleine Unglück wie das kleine Glück. Das Gefühl, dem Menschen „next door“ im Buch zu begegnen. Wenn es nur darum ginge, und nicht um das große Ganze, dann müsste ich doch nur mal vor die Tür gehen. Oder?

Ein kurzer Blick auf die Recherche: Wo hat es Ihnen besser gefallen, im tiefsten Ostdeutschland oder im hintersten Rumänien?

Die Recherche war sehr bewegend – für mich, für den Regisseur von „Revision“, Philip Scheffner, sowie für das gesamte Team. Svenja Harten, die 21-jährige Set-Fotografin hat damals ihren Praktikumsbericht für den Studiengang Kulturwissenschaft/Ethnologie geschrieben. Darin sagt sie, sie hätte erwartet, Rumänien wäre ihr fremd, aber Mecklenburg-Vorpommern war das eigentlich Fremde, Schockierende. Ich selbst bin in Norddeutschland aufgewachsen und kenne diese Mischung aus Indifferenz und Ignoranz. Und dennoch ist mir das Vertraute darin nah und lieb. Rumänien habe ich mir anders vorgestellt – auf eine sozialistische Art grau und eintönig. Stattdessen war es auf indische Art divers, gleichzeitig rassistisch und feudal. Das hat mich angeregt – ob es mir wirklich gefällt, kann ich nicht beurteilen, dazu kenne ich es zu wenig. Zwischen dem Vertrauten und dem Überraschenden hat sich mir die Möglichkeit eröffnet, dieses Buch zu schreiben.

Die Anekdote mit dem Bollywoodstar Cal Mukherjee bei Mattis Reise nach Rumänien – hat sich das bei Ihrer Recherche für Film und Buch eigentlich tatsächlich so oder ähnlich ereignet?

Ein bisschen Fiktion müssen Sie mir schon lassen! Die große Überraschung bei der Recherche war, überhaupt Bollywood als gemeinsame Basis zwischen uns und den Familien der beiden Toten zu finden. Authentisch ist die Idee, die aus unserer Begegnung entstand, ein Bollywoodscript zu entwickeln, das in der Roma-Community einer rumänischen Vorstadt angesiedelt ist. Das Ende des Krimis soll mich daran erinnern, dass wir noch einen Plan offen haben: Warten wir es ab …

Jedenfalls schon erstaunlich, dass der dokumentarische Anteil des Falles von 1992 so perfekt mit dem Figurenarsenal aus Ihren vorherigen Kriminalromanen „Cut“ und „Kyai!“ verzahnt. War das Absicht von Anfang an? Oder haben hier die Charaktere aus der Fiktion das Kommando über die schriftstellerische Realität übernommen?

Letzteres. Eigentlich war der Roman ohne Mattie und Nick geplant. Aber erst als sie sich hineinmanipuliert hatten, begann der Roman wirklich lebendig zu werden. So what was the beginning? Henne oder Ei? Ich denke mittlerweile, Mattie und Nick leben eine Art Parallelleben zu meinem als Autorin. Ab und zu begegnen wir uns, und dann passt es halt.

Gegen Ende wird ziemlich viel ziemlich gut, und überhaupt geht’s den Guten unter dem Strich bestens. Bisschen dick aufgetragen, oder?

Geht’s denen wirklich gut? Nick und Mattie sind weiterhin verstrickt in ihre Leben. Deren Sehnsüchte erfüllen sich nie, weil sie in sich selbst zu widersprüchlich sind. Die Kinder der beiden Toten haben eine Option – das ist das Mindeste, was ich ihnen schuldete, als ich diesen Roman schrieb. Denn die Toten sind tot, daran ändert sich nichts. Daran können wir nichts ändern. An der Zukunft ihrer Kinder schon. Wenn wir das wollen. Ob wir das wollen, entscheiden nicht irgendwelche Politiker oder Rechtsanwälte. Letztlich entscheiden das Leute wie Mattie. Oder Nick. Oder Gesine. Aber auch Adriana und Nadina selbst, denn sie sind Handelnde und nicht Opfer.

Okay, okay … anders gefragt: Darf man das Ende dieses dokufiktionalen Abenteuer-Kriminalromans als politisch-gesellschaftliche Utopie begreifen?

Ich lade dazu ein, den ganzen Roman als politisch-gesellschaftliche Utopie zu begreifen, nicht nur sein Ende – ich meine das nicht als fettes Eigenlob, sondern strukturell: Wären wir tatsächlich in der Lage, multiperspektivisch zu leben – und nicht nur zu schreiben oder zu lesen – dann gäbe es bestimmt weniger Zuschreibungen, Abgrenzungen, unglückliche Lieben, Profilierungszwang, Rassismus, Sexismus –  ich hör jetzt auf, aber die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Das ist wie eine Sucht, wenn man einmal begonnen hat, mehrere Personen gleichzeitig zu denken, kann man nur schwer wieder aufhören, weil es plötzlich weiter wird im Kopf und nicht mehr so eng.

Vielen Dank!

Ulrich Noller

Merle Kröger: Grenzfall. Roman. Hamburg: Ariadne 2012. 374 Seiten. 11,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

Revision: Documentary, Duration: 106 Minutes, Germany 2012.  Script: Merle Kröger | Philip Scheffner.
Directed by: Philip Scheffner. Director of Photography: Bernd Meiners. Sound: Pascal Capitolin | Volker Zeigermann. Montage: Philip Scheffner. Producer: Merle Kröger/pong. Co-Producer: Meike Martens/Blinker Filmproduktion GmbH. Marcie K. Jost, Peter Zorn/worklights media production. ZDF/arte, Doris Hepp.

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