
Als Miriam Makeba in Ost-Berlin auftrat
Eine Besprechung von Sonja Hartl zum dritten Band von Max Annas‘ „Morduntersuchungskommission“ sowie ein Textauszug (die Kapitel 1, 2 und 6)
Ost-Berlin, 1987: Oberstleutnant Otto Castorp wurde von der Morduntersuchungskommission Gera nach Berlin versetzt und ermittelt in dem dritten Teil von Max Annas‘ Reihe in dem Todesfall von Daniela Nitschke. Sie wurde tot in einem Hinterhof gefunden – möglicherweise ist sie aus einem Fenster gefallen, möglicherweise wurde sie aber auch gestoßen. Besonders brisant ist, dass es ganz in der Nähe eine zweite Leiche gibt: einen Musiker aus dem Westen.
Dazu kommen zwei weitere Handlungsstränge, die so wohl nur in Berlin und nicht in Jena oder Gera möglich waren: Der eine erzählt von dem südafrikanischen Jazz-Bassisten Billy Ndlovu, der mittlerweile in West-Berlin lebt und Kurierdienste für den ANC übernimmt. In dem dritten Handlungsstrang wird die Stasi-Sekretärin Erika Fichte von ihrem Chef beauftragt, das Verschwinden eines Genossen zu untersuchen, der mit Waffenlieferungen nach Angola und Südafrika zu tun hatte. Von Anfang an ist klar, dass diese drei Handlungsstränge miteinander zu tun haben, sie werden sich das erste Mal in einer hochspannenden Passage in der Pause eines Konzerts von Miriam Makeba kreuzen. In bester Spionagemanier werden hier die Figuren einander beobachten, teilweise erkennen und vor allem Zusammenhänge begreifen.
Unschwer ist zu erkennen, dass dieses Buch von der Beteiligung an den Befreiungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent und den Folgen des Imperialismus erzählt. Diese brisanten, spannenden und aktuelle politischen Themen werden durch den nüchternen Erzählstil gekonnt kontrastiert. Dazu schreibt Max Annas wundervoll über Jazz und lässt passenderweise den Lesenden ausreichend Raum für eigene Schlussfolgerungen und Interpretationen. Im Gegenzug bringt er schon mit der Namensgebung viel Haltung in den Roman ein. So heißt Erika Fichtes Chef bei der Stasi mit Nachnamen Diewitz und wird behördenintern „der Witz“ genannt. Das ergibt dann komische Sätze wie „Sicher auch ein Zufall, dass der Witz sich mit Verbindungen nach Rostock beschäftigte und vergessen hatte, das ihr gegenüber zu erwähnen“, ohne dass die Gefährlichkeit dieses Mannes heruntergespielt wird.
Keine der zentralen Figuren in diesem Roman ahnt etwas von den Entwicklungen, die noch kommen werden. Erika Fichte ist überzeugt von dem Guten der Staatsform, ohne wie eine verblendete Ideologin zu wirken. Otto Castorp nimmt zwar wahr, dass sich die Gesellschaft in der DDR verändert, aber als sich eine junge Frau ihm gegenüber respektlos verhält, ist er sehr irritiert. Ihm kommt gar nicht in den Sinn darüber nachzudenken, dass er die Staatsmacht repräsentiert.
Diese Genauigkeit in der Zeichnung der vielfältigen Figuren, die vielen Details, die den Imperialismus in verschiedenen Facetten zeigen und das Vertrauen in die Leserschaft machen die gesamte Morduntersuchungskommission-Reihe zu herausragenden historischen Kriminalromanen.
Sonja Hartl
Max Annas: Morduntersuchungskommission. Der Fall Daniele Nitschke. Rowohlt, Hamburg 2022. 368 Seiten, 22 Euro.
Textauszug:
Kapitel 1
Auf der Bühne trage ich immer eine Sonnenbrille. Schon seit Jahren. Und auf jeden Fall, seit ich mir eine richtig gute leisten kann.
Das hat damit zu tun, dass ich das grelle Licht in den Augen nicht vertrage. Es schadet der Konzentration beim Spielen, sich immer wieder so zu platzieren, dass man nicht geblendet wird. Und Konzentration ist das Allerwichtigste in meinem Beruf.
Das ist der eine Grund.
Der andere ist, dass ich gern ins Publikum schaue. Ich sehe gern, wie sich die Leute verhalten. Die, die ganz fokussiert sind, jeden neuen Ton antizipieren. Die anderen, die einfach trinken und bei denen man nicht so genau weiß, wo sie gerade mit ihren Gedanken sind. Dann die, die quatschen und sich nicht um die Musik scheren. Ja klar, die gibt es auch. Und dann die, die gehen und kommen, die auch woanders sein könnten.
Warum verlassen sie den Raum? Den Saal. Die Bar. Gerade jetzt. Gerade in der Minute, in der ich mein Solo spiele.
Oder warum kommen sie erst jetzt? Sie könnten den besten Teil des Abends schon verpasst haben. Geht ihnen denn das nicht durch den Kopf?
Wenn ich sie mir so anschaue, dann müssen sie das nicht unbedingt mitkriegen. Auch, weil es eine Frage der Sicherheit ist. Meiner eigenen Sicherheit. Wie Sie selbst gleich sehen wer- den.
An dem Abend, diesem ganz speziellen Abend, rettet die Sonnenbrille mir das Leben. Das ist einfach so.
Und einem anderen wird sie es nehmen. Nicht die Sonnen- brille selbst, sie ist nur ein Objekt, ein Mittel eher, sondern die Beobachtung, die ich von der Bühne aus mache. Und die ohne die Sonnenbrille nicht hätte geschehen können. Das Licht ist nämlich wirklich recht grell für eine kleine Bar mit Bühne. Und ohne die Sonnenbrille hätte ich die Augen die ganze Zeit beinah geschlossen gehalten.
So aber sehe ich den Mann, der durch die Tür kommt und sich umschaut, als suche er jemanden. Dann, nach einem län- geren Moment, geht er an die Theke und bestellt einen Drink.
So weit nichts Besonderes. Aber ich kenne den Mann. Oder besser: Ich bin ihm schon einmal begegnet. Und das ist gar nicht lange her. Gerade verpasse ich beinahe den Einsatz, als Francks Posaune leiser wird. Denn mir fällt ein, wo ich den Mann schon ein- mal gesehen habe. Und wann.
Unauffällige Frisur, das Haar lose nach hinten gekämmt, Jeansjacke und Hemd, die dunkle Hose kann ich in dem Licht kaum ausmachen. Aber den Rest, den kenne ich.
Kurz konzentriere ich mich auf meinen Beitrag. Bass-Solo mit eingeworfenen Tupfern von Piano und Schlagzeug. Als ich das Stück wieder für die anderen öffne, weiß ich es. Ich hatte etwas zu Hause vergessen, am Nachmittag, nur ein paar Stunden ist das her, drehte mich um und ging wieder auf die Haustür zu. Da stand er ganz unbeteiligt und blickte in irgendein Parterre- fenster. Es war keine wichtige Begegnung für mich. Wir haben uns nicht in die Augen gesehen, wir haben einander kaum be- merkt. Oder besser: Ich habe ihn kaum bemerkt.
Und trotzdem. Irgendetwas ist hängen geblieben.
Der Mann trinkt ein Bier. Langsam, Schluck für Schluck. Dabei betrachtet er unbeteiligt die Bühne. Er fällt hier nicht auf. Die meisten Leute im Publikum sind weiße Männer. Sogar in seinem Alter. Irgendetwas zwischen 30 und 40. Und doch ist da etwas, das ist anders an ihm. In einem dünnen Lichtstrahl, der von irgendwo über der Theke auf ihn fällt, sehe ich deutlich die rötlich bronzene Gesichtshaut.
Der Mann ist nicht von hier. Er ist weiß, aber er lebt nicht in Deutschland.
Die Weißen in Deutschland sind bleich. Manchmal holen sie sich einen Sonnenbrand. Dann sind sie rosa oder rot wie ein un- gebratenes Steak. Aber ihre Haut hat nie diese bronzene Tönung.
Dieser Mann hat sie. Das bedeutet, dass er in einem ande- ren Klima lebt. Und dass er mit ziemlicher Sicherheit dort auf- gewachsen ist.
Und jetzt fällt es mir wieder ein. Das, was ich am Nachmittag wahrgenommen habe. Das eine kleine Detail. Es war nicht wich- tig. Nicht in jenem Moment. Ich habe nur sein Profil gesehen. Kein Grund anzunehmen, dass ich dem Mann in der Jeansjacke noch einmal begegnen würde. Aber mir fiel doch auf, dass die Haut unter der Nase deutlich heller war als der Rest des Ge- sichts.
Denn da, wo die Haut weißer war, fahler, da war bis vor Kur- zem noch ein Schnurrbart gewesen. Und ich erinnere mich an noch etwas. Die Hose, die er trug, hatte noch den Schlag der 70er-Jahre.
Wir beenden das Stück gerade mit einem gemeinsamen Aus- klang.
Ich zupfe ein paarmal an der tiefsten Saite, lasse sie schwin- gen und denke an Südafrika. Dort ist der Mann in der Jeansjacke aufgewachsen, ich bin mir sicher. Und den typisch burischen Schnurrbart hat er sich abgenommen. Mit dem würde er hier im Jazzclub auffallen.
In den Applaus hinein spricht Gordon ins Mikrofon. «On Bass Billy Ndlovu», sagt er.
Billy Ndlovu, das bin ich. Jazzmusiker. Bassist. Südafrikaner im West-Berliner Exil.
Kapitel 2
«Das ist der Viel Collins jetzt», sagte Holger Manz. Sogar Otto kannte den Sänger von Genesis. Phil, dachte er, Phil mit kurzem I. Er machte sich nicht wirklich was aus Musik, aber das wusste sogar er. Dafür musste man nicht mal Westradio hören. Was gerade von jenseits der Mauer kam, hörte sich aller- dings so spannend an wie ein tropfender Wasserhahn. Dass die Leute deswegen in Scharen angelaufen kamen, konnte er nicht
verstehen. Nun, ein wenig, vielleicht, konnte er die Leute doch ver-
stehen. Es gab eine ganze Menge Konzerte im Osten in diesem Jahr. Viele Weststars kamen wegen des Stadtjubiläums auch und gerade zu ihnen. 750 Jahre Berlin. In West-Berlin waren schon alle gewesen. Aber bei ihnen eben nicht. Dieser Collins auch nicht. Und auch David Bowie nicht, der gleich noch auftreten sollte. Den hätte er sich auch selbst angehört. Wenn, ja wenn sie nicht im Westen gespielt hätten. Auf der anderen Seite der Mauer.
Holger und er standen an der Ecke Unter den Linden und Friedrichstraße. Immer noch zogen Leute an ihnen vorbei in Richtung Brandenburger Tor. Dort warteten schon eine ganze Reihe von Kollegen auf sie. Uniformierte Kollegen. Aber natürlich auch andere.
Schon während die Bühne am Reichstag in den letzten Tagen aufgebaut worden war, hatten Kundschafter betont, dass etliche der gigantischen Lautsprecher in ihre Richtung aufgestellt worden waren, Richtung Osten. Und deshalb hatten sie nun den Salat. Da standen also Tausende von ihren jungen Leuten, die meisten waren kaum über 25, und gafften in Richtung Westen.
Viel zu sehen gab es nicht. Da stand die Mauer, das Brandenburger Tor. Und die uniformierten Einsatzkräfte wussten nicht, was sie tun sollten.
Holger und er wussten es auch nicht. Aber sicher gab es gleich einen Einsatzbefehl. Niemand konnte ein Interesse daran haben, dass aus der Menge heraus irgendwelche dummen Sachen passierten.
Direkt an der Grenze. Das musste man sich einmal vorstellen.
Holger zog sich in einen Hauseingang zurück und legte den Kopf schief. Er hatte das Funkgerät in der Jacke und zuckte beim leisesten Geräusch. Dann trat er wieder einen Schritt vor. Im Licht einer Straßenlaterne war der helle Schnurrbart deutlich zu sehen, der sein Gesicht dominierte. Otto hatte so einen im letzten Jahr auch einmal ausprobiert. Holgers Bart stand nicht weit vor, die Haare waren höchstens vier oder fünf Millimeter lang. Damit es so aussah und vor allem so akkurat blieb, musste man den jeden Tag penibel schneiden. Ihm war das zu viel gewesen. Der Bart hatte ihm sowieso nicht gestanden.
Auch Holger stand er nicht. Sie hatten beide eine ziemlich hohe Stirn, was bedeutete, dass ihnen die Haare auf dem Kopf ausgingen. Holger hatte den kümmerlichen Rest als Kranz rund um den Kopf behalten und trug dazu den Bart. So sah er mindestens zehn Jahre älter aus als die 38, die er war. Otto hatte die Haare, die ihm geblieben waren, ganz kurz schneiden lassen. Er fand beim Blick in den Spiegel, dass er jetzt aussah wie 45. Aber manche Dinge konnte man sich nicht aussuchen. Er wäre ja auch gern fünf Zentimeter größer.
Das Funkgerät knackte jetzt wirklich. Holger drehte sich wie- der in den Hauseingang.
Die Ansage war nicht zu verstehen, weil zur gleichen Zeit eine Gruppe junger Frauen hinter ihnen plappernd vorbeizog. Eine von ihnen redete laut über irgendetwas, was sie im Radio gehört hatte. Ganz sicher im Westradio.
«Also.» Holger lehnte sich zu ihm hinüber. «Da passieren jetzt hässliche Sachen. Überall Provokateure. Wir werden ge- braucht.» Er ging mit schnellen Schritten voran. Bald schon hatten sie die Frauengruppe überholt. Otto sah auch andere Ein- satzkräfte in Zivil auf die Grenze zulaufen. Hinter ihnen wurde es leiser. Er drehte sich kurz um und bemerkte, dass die Frauen stehen geblieben waren. Sie ahnten, dass es gleich Schwierig- keiten geben würde.
Holger war schon im Laufschritt. Sie hatten nur noch zwei- hundert Meter bis zu dem Auflauf.
Otto blieb stehen und horchte. Verstand die Worte der Sprechchöre und hörte doch noch einmal genauer hin. Aber klar, er verstand die Parole schon.
«Die Mauer muss weg.» Und noch einmal: «Die Mauer muss weg.» Drüben wurde gerade ein Lied beendet. Vor dem Reichstag
gab es Applaus. «Die Mauer muss weg.» Das waren ganz schön viele Leute.
Etliche hundert? Wahrscheinlich sogar mehr als tausend. Holger blieb schon stehen. «Die haben das im Griff.» In der Tat. Die uniformierten Kräfte hatten ihre Schlagstöcke gut im Griff und hieben auf die Leute ein.
Otto hatte dafür kein Verständnis. So etwas musste doch nicht sein. Warum mussten die denn auch so provozieren? Die wussten doch, was sie erwartete. Da wurden auch schon die Ersten aus der Gruppe abgeführt. Klar, so erreichte man doch nichts.
Holger war schon einige Schritte voraus. Otto musste sich beeilen, um ihn nicht zu verlieren. Je näher sie dem Branden- burger Tor kamen, desto voller wurde es auf der breiten Straße.
Otto sah, wie der Kollege endlich stehen blieb. Da vorn war- teten noch andere aus ihrer Morduntersuchungskommission. Eingeteilt, um das Schlimmste zu verhindern.
Kapitel 6
Erika Fichte stellte den Wartburg vor der Zentrale in Lichten- berg ab. Sie fühlte sich erstaunlich klar im Kopf für die fünf oder sechs Gläser Weißwein, die sie getrunken hatte. Aber sie war auch erleichtert, dass es nichts mit Holberg war, weswegen sie nun hier erwartet wurde.
Wenn Diewitz die Wahrheit sagte. Aber warum nicht? Wenn Holberg etwas zugestoßen wäre, dann hätte er vor ihrer Tür gestanden. So schätzte sie ihren Vorgesetzten jedenfalls ein.
Nicken an der Pforte. Der Major hatte Bescheid gegeben. Im vierten Stock stand sowohl die Tür zu ihrem Vorzimmer offen als auch die zum Büro von Diewitz. Erika stellte ihre Handtasche auf ihrem Schreibtisch ab, ohne stehen zu bleiben, und sah, wie Diewitz zwei Gläser mit Wodka füllte.
«Setz dich.»
Er schob ihr ein Glas zu, hob seines an und trank es in einem Zug aus. Warum eigentlich nicht? Sie machte es ihm nach.
«Wolle ist weg», sagte der Major.
«Wie weg?»
«Weg eben.»
«Seit wann?»
Der Major hob beide Hände leicht an. «Freitag ist er nicht mehr zum Dienst erschienen.»
«Freitag? Das sind vier Tage. Herzinfarkt bei einer Geliebten in West-Berlin.»
«Hat er nicht nötig.»
«Stimmt. Beim Spaziergang im Thüringer Wald abgerutscht. Hals gebrochen.»
«Das hätten Leute mitgekriegt.»
«Mit einem Geldkoffer über die bulgarisch-türkische Grenze.»
«Tja …»
«Was? Wirklich?»
«Ich weiß es nicht.»
«Aber ist es so was?»
«Fichte, was hast du für ein Verhältnis zu Wolle?»
«Gar keins.»
«Hat er dich …»
«Andauernd. Aber ich habe das nicht als Kompliment aufge- fasst. Er steigt allen Frauen unter 50 nach. Sagen wir: unter 45.»
«Könnte darin der Schlüssel liegen?» «Aber was ist denn passiert?» «Ich weiß es nicht. Wir …» Diewitz machte eine lange Pause.
«… wissen es nicht.»
«Wer ist wir?»
«Ach. Das ganze Haus. Die Spezialkommission.»
«Die auch?»
«Die auch. Der Chef weiß Bescheid, und Mischa Wolf auch. Alle eigentlich.»
«Aber was wissen die denn?»
«Dass Friedrich Wolle verschwunden ist.»
«In der DDR verschwindet niemand.»
«Ja, das habe ich auch immer wieder gesagt.»
Diewitz bemühte sich um die Gläser. Sie tranken. Der Major zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr die Schachtel hin. Erika schüttelte den Kopf.
«Aber gib mir noch davon.» Mit dem Kopf wies sie auf die Flasche. Sie nahm das Glas, nachdem Diewitz es gefüllt hatte, blickte hinein, nahm einen kleinen Schluck, beließ ihn eine Sekunde zu lang auf der Zunge, bis es anfing zu brennen, und sah dem Major dann in die Augen.
«Und warum wollten Sie jetzt mich hier haben?»
«Du musst ihn suchen.»
«Ich? Ich bin doch nur die Sekretärin. Ihre Sekretärin.» Erika leerte das Glas und stellte es vor sich. Sie sollte aufhören zu trinken, auch wenn die Absurdität der Unterhaltung dringend nach Alkohol verlangte. Aber irgendwann musste sie auch wieder nach Hause fahren.
«Guck mal, Fichte. Die Spezialkommission behandelt das wie einen ganz normalen Vermisstenfall, einen dringenden natürlich. Die werden bei seiner Frau anfangen und dann die anderen Frauen fragen. Dich werden sie auch fragen, bald sogar. Alle kennen schließlich seinen Ruf. Also … Dich werden sie ja nicht nur als Frau fragen, sondern auch wegen der Arbeit. Dann werden sie sich angucken, womit er beschäftigt war. Und, glaub mir, sie werden das gründlich machen. Aber was die machen können, hat natürlich seine Grenzen. Polizeiarbeit, auch die politische der Spezialkommission, ist immer eine technische Sache. Du hingegen hast einen eminent politischen Blick.»
Trotz des Alkohols in ihrem Kopf erkannte Erika einen Speichellecker, wenn sie einen sah. Wusste Diewitz eigentlich, wie sie ihn nannten, wenn er allen auf die Nerven ging? Der Witz.
Weil er keinen Humor hatte. Natürlich nur unter den Sekretärinnen. Und nur, wenn keiner der Vorgesetzten in der Nähe war.
Eben aber hatte der Witz kurz gefunkelt in den Augen, als er sie gelobt hatte. Eminent politischer Blick.
Scheiß drauf. Den hatte sie ja auch.
Sie wartete. Der Major würde es schon erklären.
«Ich will … Wir wollen, dass du dir die Vorgänge ansiehst, mit denen Wolle befasst war. Einen nach dem anderen.»
«Warum ich? Es gibt doch Leute, die Wolle besser kennen.»
«Eben. Darum geht es ja nicht. Wir brauchen ein paar Augen, die das Ganze von außen erfassen, aber trotzdem kein Problem haben zu verstehen, worum es geht.» Der Witz wartete, wie sie das Lob aufnahm. Sie wusste selbst, dass sie nicht blöd war.
«Und da ist noch etwas», fuhr er fort. «Ich kann mich nicht nach außen wenden für so eine Aufgabe, denn das hauen sie mir um die Ohren. Dann kriege ich zu hören, dass die Spezialkommission das alles im Griff hat. Wer ich denke, dass ich bin, nicht in die Strukturen zu vertrauen … bla bla bla. Das verstehst du doch, oder?»
Sie nickte kurz.
«Und genauso wenig kann ich im Haus nach Hilfe fragen. Man borgt sich ja nicht einfach einmal einen Agenten.» Er öff- nete die Hände und blickte über sie hinweg. «Da bleibst nur du.»
Erika schwieg ein paar Sekunden. «Hat der noch was anderes gemacht als Südafrika?»
«Da hat er schon mal mitgeredet. Aber in erster Linie küm- mert er sich um die Ausbildung von Südafrikanern hier. Und um ein paar andere Sachen, die damit in Zusammenhang ste- hen.»
«Waffen.»
«Waffen zum Beispiel. Aber das ist nicht alles. Wir drucken ja für den ANC das internationale Magazin. Es gibt Kommuni- kationstechnik. Alles Mögliche. Der entscheidet auch schon mal Sachen allein. Keine Waffenverkäufe. Nichts Strategisches. Das macht keiner allein. Aber der ist schon mittendrin.»
«Hat der ANC Geld, um Waffen zu kaufen?»
«Na ja, eigentlich nicht. Meistens erhalten die alles einfach so. Solidarität.»
Erika beugte sich nach vorn und schüttete sich noch einmal nach. «Wonach suche ich?»
«Ich weiß es nicht.» «Gucke ich nur in die Akten?» «Wenn du mit jemandem reden willst, dann tust du das auch.»
«Dann sage ich: Hallo, ich bin Erika Fichte, wissen Sie, ob Friedrich Wolle tatsächlich die Ladung AK-47 an die progressiven Kräfte weitergeleitet hat oder ob er sie nicht vielmehr an den Klassenfeind verkauft hat?»
Diewitz sagte dazu nichts. «Meinen Sie so was?»
«Wirklich, Fichte, wir wissen es nicht. Wolle ist weg, und wenn er nicht beim Pilzesammeln zusammengebrochen ist, dann haben wir ein Problem. Das Problem sollst du identifizieren.»
«Und wenn mir etwas auffällt?»
«Dann kommst du zu mir.»
«Dann komme ich zu Ihnen. Klar. Und wann fange ich an?»
«Sofort.»
«Sofort.»

«Gott, ja, du gehst nach Hause, schläfst dich aus. Und wenn du morgen früh hier ankommst, dann beginnst du mit der Arbeit.»
Sie stand auf und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. «Ist das …» Sie überlegte, welches Wort sie benutzen wollte.
«Wenn ich dich bitte, das zu tun, dann ist das auch gedeckt. Und wenn es ein Problem geben sollte …»
«Dann komme ich zu Ihnen, Major. Schon klar.»
Sie verließ das Zimmer, öffnete die Tür aber noch einmal, bevor sie sie schloss. «Sein Büro?», fragte sie.
«Haben die Genossen von der Spezialkommission ausgeräumt. Niemand geht ja im Moment davon aus, dass wirklich etwas Schlimmes passiert ist. Und schon gar nicht im Zusammen- hang mit seiner Arbeit. Aber irgendwo müssen die ja ansetzen.»
Als Erika darüber nachdachte, ob das die Antwort war, die sie erwartet hatte, fuhr Diewitz fort: «Aber sieh es dir an. Setz dich in seinen Stuhl und denk nach.»
Sie nickte, schloss die Tür, nahm die Handtasche von ihrem Schreibtisch und war schon fast aus dem Vorzimmer heraus, als sie sich noch einmal umdrehte. Sie klopfte gar nicht erst und behielt die Klinke in der Hand. «Im Ernst. Denken Sie, dass da irgendetwas faul ist?»
Diewitz richtete sich in seinem Stuhl auf. «Ich weiß es nicht.»
Max Annas, hier etliche Mal bei uns auf CrimeMag.