Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023

Markus Pohlmeyer: Isabelle Huppert (1)

Eine Künstlerin mit berauschenden Talenten. Ein Essay

Eine besorgte Stimme aus meinem Umfeld: 
„Du musst aufhören, diese Filme zu sehen. 
Du kannst ja nachts nicht mehr schlafen.“ 

Sie isst Erde.

… all das wäre nicht lebbar: „Madame Bovary“, „Die Kameliendame“, „ma mère“, „Die Klavierspielerin“ … denn sonst ginge die Welt in Flammen auf. Aber vielleicht brennt diese ja schon lichterloh, und Isabelle Huppert (geb. 16.3.1953) verdrängt das nicht, tabuisiert nichts, wird zu all dem, indem sie es uns als magistra furchtlos, schonungslos, erbarmungslos zeigt. -Und erklärt? Wir sind ihr Auditorium. Doch unvermittelt sehen wir selbst uns auf die Bühne gestellt und sie schaut uns zu: eiskalt, verlangend, bisweilen mit der Gnade eines Lächelns, das sie gütigst, überlegen und ironisch auf den Marmor ihres Gesichtes zeichnet. Isabelle Huppert ist wie ein wunderschöner Dornenbusch, den zu berühren unsere Seelen verletzt, der in Flammen steht, ohne zu verbrennen, und der uns immer mitverbrennen kann.[1]

Zeit: Irgendwann im Januar. Zustand: Pandemiebedingte Isolation, Besuch von einem miesen-kleinen-dreckigen Virus bekommen. Ort: Flensburg; gefühlte Lage: kurz unter dem Polarkreis oder auf dem Pluto. Ich sah die Sonne in den letzten zwei Wochen sogar für eine halbe Stunde und keine Menschen mehr. Regen, Nebel, Kälte. Dunkelheit. Da dachte ich mir Mensch Markus Michael Haneke der ist immer beeindruckend, und „Die Klavierspielerin“ (2001, nach der Roman-Vorlage von Elfriede Jelinek) hatte ich noch nicht gesehen. ■■■■■■■■■■■■■■■■ Allerspätestens, als sie (Isabelle Huppert) am Ende mit dem Messer sich … Regen, Nebel, Kälte. Dunkelheit. Vollkommen verstört: von Ach-guck-ma-dat-gibt’s-Auch bis Jetzt-bist-du-komplett-draußen. Finis. Ende. Fin. Aus.

Neustart mit Huppert, und das schien nun wirklich unfallfrei: „Ein wunderbarer Sommerfilm“ – so die beruhigende Verheißung des Covers von „Alles was kommt“.[2] Nathalie, Philosophielehrerin, wird von ihrem Mann wegen einer jüngeren Frau verlassen, der Verlag möchte ihre Philosophiereihe bunter und ihr Lehrbuch didaktischer gestalten und überhaupt, ihr Lieblingsschüler hat eine Freundin und lebt Ideale, die ihr verloren gingen, dann stirbt ihre Mutter, dann gibt sie auch noch deren Katze weg. Stimmen. Zum Schluss sieht man sie ihr Enkelkind wiegen. Nur kurz. Dann Blick ins leere Wohnzimmer. Finis. Ende. Fin. Aus. ■■■■■■■■■■■■■■■■

Alles, was kommen mag und uns fast erschlägt: Nathalie hatte für mich viele Ähnlichkeiten mit Griselda aus der letzten Novelle von Boccaccios „Decameron“ – einer Frau, die Unsägliches von ihrem schwachen, unsicheren Ehemann erdulden muss, eine ständige Mischung aus Erniedrigungen und seelischer Folter. Und was sie alles dulden muss: er simuliert sogar den Tod ihrer Kinder. Kurt Flasch stellt Aspekte der problematischen Rezeptionsgeschichte dieses Textes (Gattung?) zusammen – und: „Die Griselda-Phantasien der Psychoanalytiker mögen zu deren Befriedigung gedient haben; zum Verständnis Boccaccios tragen sie kaum etwas bei.“[3] Nach Flasch sei die Novelle „[…] ein Anti-Exempel, das zu verstehen gibt, daß es wohl nie wieder vorkommt, daß ein verrückt agierender, grausamer Mann mit einer stoischen Weisen zusammentrifft, die ihn zu allem Überfluß auch noch liebt.“[4] 

Griselda wirkt im Grunde wie eine Personifikation der (antiken) Philosophie, und nicht von theoretischer Art, sondern als Lebenshaltung und -gestaltung; sie lebt vor, was Philosophie gegenüber den Launen von Fortuna zu leisten vermag: „Griselda ist eine abstrakte Figur, weil sie ein ethisches Konzept repräsentiert, nämlich die stoische constantia animi. Sie ist eine Leitfigur der Stoa-Rezeption des frühen Humanismus.“[5] Bei Boccaccio gibt es ein versöhnliches Ende; im Film läuft alles in eine Leere hinein. Essen, Fortpflanzung, scheiternde Beziehungen – das ist Reduktion und keine Anthropologie mehr. Während Nathalie – eine Personifikation (post)moderner Philosophie? – schlafend auf einer Parkwiese liegt … die schlafende Psyche?, nein, Amor erlöst sie nicht … vielmehr weht ein Windhauch, alles sei Windhauch, Buch Prediger, weht ein Wind ihr Manuskript davon, dessen Blätter von einer Jüngeren aufgesammelt werden. Dann sie in einer wunderbaren Wald- und Gebirgslandschaft: solche Erhabenheit und Schönheit lassen uns nur bedeutungslos zurück – oder doch versöhnt? Dann sie in ihrer Klasse, über Rousseau und Julie dozierend, wie beiläufig: Wirklichkeit durch Träumen ersetzen, Abwesenheit des geliebten Menschen kompensieren durch Phantasie usw. Schnitt. Sie lässt immer los, in Gleichmut, ihr Gesicht von gläserner Härte, verbittert und transparent für ihre zerbrechliche, zerbrechbare, zerbrochene Seele, die nie zerbricht. Das lässt sie als stoisches und postmodernes Patchworkwesen nicht zu – genauso wenig wie es Griselda tat.

Philosophie scheint keine Frage von Epochen. Die Welt war/ist/wird zersplittert in Vielheiten, Vergänglichkeiten, alle gesellschaftlichen Konstrukte und Lügen erodieren dadurch, neue Zersplitterungen in Ambiguitäten, Alternativen und Schmerzen. Oder Chancen. Wenn Nathalie auflacht, wenn sie einmal lächelt, dann wie lachende Kälte über sich und die Menschen, in Verständnis, Verständnislosigkeit und … Verzeihen. Alle Philosophie? Und all die Autoritäten wie Schopenhauer und Adorno? Nur Zitatoberflächen? Unser Lieben und Leben? Nur ein Sehnen und Wünschen in Imaginationen, Fiktionen und Texten? Und genau nur dort lebbar, weil eben nur dort echter und realer? Nach dem Film: Was mache ich eigentlich an der Universität und was in meinem Schreiben? Abends, ich zog mir dann in Melancholie die Bettdecke über die Nasenspitze. Es geht doch nichts über wunderbare Sommerfilme, mitten in einer Winternacht …

„Die Klavierspielerin“: Die Pianistin Erika kann nur ihr Leben in und durch Musik leben oder in einem Sexshop, als urinierende Voyeurin, wenn sie ein Pärchen beim Sex im Auto beobachtet – eine Träne fließt dabei über ihr Gesicht, so unscheinbar, all ihren Schmerz und ihre Sehnsucht versammelnd. Oder wenn sie sich selbst verletzt, eingeschlossen im Badezimmer. Ausgeschlossen die Welt; nur die Kamera ist Zeuge dieser zerstörerischen Intimität. Eine erwachsene Frau, die wie ein kleines Kind mit ihrer alles dominierenden Mutter zusammenlebt, gibt diese Dominanz an ihre Schüler und Schülerinnen gnadenlos weiter. Dort, in der Musik ist sie eine Dominante. Die andere quält. Bis ein Riss entsteht. Und wenn sie – verletzend und schließlich verletzbar – endlich ihre erotischen und sexuellen (SM-)Phantasien ausleben kann und will, scheitert sie an sich und dem Gegenüber, das sie nicht als Andersheit verstehen kann,[6] stürzt ab, eine fürchterliche Katastrophe geschieht; entsetzliche, ungebremste Gewalt – in kaum auszuhaltender Abgründigkeit und Ambiguität, die ausgehalten werden müssen, weil der Film das verlangt.

Es ist so, ist doch nicht so, und dies zugleich. Erika übermittelte ihre (auto-destruktiven) Phantasien per Brief an ihren potentiellen Liebhaber, der sie ihr vorlesen muss: diese Szenen dann mit fast keiner Reaktion von ihr, als würden die verschriftlichten Phantasien von ihr an ihr, einer undurchdringlichen Mauer, abprallen, als wäre nicht sie die Verfasserin, als hätte sie alles unter Kontrolle. Vielleicht sitzt dem Adressaten gegenüber keine geheimnisvolle Schönheit, sondern nur eine grenzenlose Leere? Ambiguität und Abgrund. Ein junger Mann also, der zu ihrem Vernichtungs- oder Wunscherfüllungswerkzeug mutieren soll: doch die Übertragung/Übersetzung von Träumen und Phantasie in Schrift und Körperlichkeit ist bisweilen wortwörtlich zum Kotzen. Und als sie zum Schluss sich ein Messer … das für eine mögliche Rache gedacht wäre, sie richtet es gegen sich selbst. Eine blutende Schönheit verlässt geschunden die Musik, das Publikum, das Konzerthaus. Wohin geht sie? Nach Hause, zu ihrer Mutter? Hier endete der Film. Okay, heute Abend kein Schubert, ich drücke mich schon sehr, sehr lange vor der „Winterreise“. 

In „Eine Frau mit berauschenden Talenten“, einer rabenschwarzen Komödie, entfaltet Huppert durch die Figur der Patience (patientia, lat. = Duldsamkeit, Leidensfähigkeit) ein alter Ego. Aber: diese dunkle, kriminelle Seite ihrer Vergangenheit und ihrer Persönlichkeit, das sind ihr wahres Wesen; und jene, noch ferne, verborgene Dämonie kann sie nur in einer skurrilen Maskerade ‚veröffentlichen‘. Ohne jegliche moralische Wertung interessiert sie sich als maskierte Drogen-Diva nur für Geld, und nicht für das, was Rauschmittel anrichten. Ursprünglich Dolmetscherin für die Polizei, setzt sie ihre Arabisch-Kenntnisse wie eine Waffe ein, baut sprachliche Labyrinthe und Mauern, hinter welche die Polizei nicht gelangen kann, und dirigiert ihre zwei Dealer und die üblichen Gangster wie Hampelmänner durch die (Stadt)Landschaft. Ein unscheinbares Persönchen bei der Polizei, immer in Geldnöten, und gleichzeitig Mega-Dealerin mit Geldwäscheproblemen: die gute wie die böse Männerwelt unterschätzt ihre Intelligenz – mit bisweilen tödlichen Folgen. Für einen Moment hält sie inne, beim Entsorgen ihrer Verkleidung, die sie am Ende aber nicht mehr benötigen wird …

Isabelle Huppert spielt verschiedene Frauen, und es scheint, als ob Isabelle Huppert auch von verschiedenen Frauen gespielt würde. Masken und Maskeraden: sie wirkt fluide, eine Chimäre, in ständiger Metamorphose. Isabelle Huppert tabuisiert nicht, sondern zeigt – und das verlangt oft von den Rezipierenden eine eigene, zumindest versuchsweise, verstehende Rekonstruktionsleistung, als ob Puzzles oder Fragmente zusammengesetzt werden müssten, die sich aber alles andere als stabil erweisen. Die reale Isabelle Huppert? Privat scheint wenig von ihr bekannt, das hat auch keine Bedeutung, denn sie schuf ein Gesamtkunstwerk – eine implizite Isabelle Huppert, – sie ist das (nicht). Hupperts Figuren werden geschlagen, und sie schlägt buchstäblich zurück, unvermittelt, motiviert. Selbst ihre Ausbrüche und Ekstasen werden dirigiert von der Illusion einer absoluten Kontrolle, die vom Un(ter)bewußten immer wieder ad absurdum geführt wird. Sie erhält nie, wonach sich ihr Herz sehnt, zumindest nicht in den Tragödien. In „ma mère“ spielt sie eine alternde Prostituierte, die ihr Begehren und Begehrtwerden verliert und kurz vor der Katastrophe Erde isst. Adam, hebräisch der vom Ackerboden genommene Mensch. Staub zu Staub. 

„As a performer, you don’t habe any shame because you make things into metaphors in order to give shape to whatever it is you are playing. As a performer, shame doesn’t exist.“[7]

„Stephen Colbert: You’ve done other bold roles where you played an incestuous mother, you played a piano teacher who’s into S&M and selfmutilation … Have you ever wanted to do a-

Isabelle Huppert: A normal film?

Stephen Colbert: A pure, what we would call ‚a popcorn film.‘

Isabelle Huppert: Why not?

Stephen Colbert: That is- just like a special effects action film, like one oft he Transformer films or something like that.

Isabelle Huppert: Yes, ah- oui oui, sure.

Stephen Colbert: Would you like to play a car that transforms into a robot that fights?

Isabelle Huppert: Yes!“[8]

Doch in „Ein Chanson für dich“ erlebt sie, eine alternde Sängerin, ein Comeback – mit Hilfe eines jungen Mannes, der sie niemals aufgibt, der sie aus ihrem öden, sich wiederholenden Alltag erlöst: trostloser wurde kaum je die Arbeit in einer Pasteten-Fabrik dargestellt. Sie versucht eine Wiederholung ihrer Vergangenheit, steht wieder auf dem Gipfel ihres alten Ruhms. Doch der, der immer wieder den Reißverschluss ihres Kleides schloss, weil sie es nicht konnte, dieser unverbesserliche Idealist, ihn stößt sie weg; und stürzt von der Bühne, stürzt ab; stößt ihn im Krankenhaus wieder von sich. Aber dieser Kerl geht einfach nicht. Altersunterschied? Bedeutungslos. Die Liebe kann alles – frei nach Vergil und Ovid. Rührend, einfach nur berührend der Schluss.

Als weitere Komödie schier unglaublich: „Mein liebster Alptraum“ – Isabelle Huppert eine Dame der hohen Gesellschaft (Klischee J), verklemmt, arrogant, gnadenlos; er, freischaffender Handwerker (Klischee J), totaler Versager und Prolet ersten Ranges, nach eigenem Bekenntnis Kenner von Nutten. Wie diese Welten aufeinander prallen: Er steht plötzlich baumaßnahmenmäßig in ihrer Wohnung, reißt fast alles ein, besetzt ihre Welt und ihr elitäres, blödes Kunstmuseum; sie kollidieren rhetorisch wie Eisberge und Kontinentalplatten in Höchstgeschwindigkeit; Wortgefechte und peinliche Situationen ohne Ende; beide landen miteinander im Bett und in einer Scheinehe. Er hat einen genialen Sohn, sie attestiert ihm schonungslos seinen Beitrag dazu, er habe ja nur ejakuliert. So viel zum Thema Patriarchat. Und da gibt es eine Szene, wo sie ihn dringend sucht und schließlich in der Waschanlage seines Bruders strandet. Lautstarke Bummbämm-Musik fängt an zu hämmern und leicht-bekleidete Damen beginnen, aufreizend ihr Auto zu waschen. Und sie? Unbeweglich, versteinert: eine griechische Statue, eine Nemesis, eine Göttin des Todes und des Zornes, drohend wie die Apokalypse über ihren Geliebten hereinzubrechen. Das Publikum befürchtete bangend und lachend das Schlimmste … Die Ehe hält nicht. Trennung.

Und in dieser Zeit der Entfernung ändern sich beide; auch wenn der andere, die andere nicht da sind, fangen sie an, aufeinander zu hören, sich zu verstehen, ihr Leben zu ändern, ohne dass es das Gegenüber schon weiß, und so finden sie sich wieder. In einem dunklen Raum ihres Kunstmuseums, sehr intim, wo ein wertvolles Kunstwerk hängt, das sie ihm zur Hochzeit schenkte und das er aber dann im Suff komplett versaut hat. Also, ich meine wirklich ‚versaut‘. (Ganz, ganz böser Kommentar zur sog. modernen sog. Kunst.) Nun, in diesem dunklen Raum nur sie beide, keine Welt mehr, keine Gesellschaft mehr, nur sie beide, und hier der letzte Dialog, wobei Huppert, schon die ganze Zeit super frech, ihr Lächeln, ihre Ironie, ihre Überlegenheit kaum noch bremsen kann …

ER: „Ich weiß nicht, ob ich Sie besser fand, als Sie etwas verklemmter waren.“
SIE: „He Sie, halt deine Schnauze!“ (Kuß.)

PS
Das ist nicht mehr nötig ■■■■■■■■■■■■■■■■. Oder?

Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte und Gedichte bei uns hier.


[1] Siehe dazu Isabelle Huppert: La femme aux portraits. Elfriede Jelinek, Patrice Chéreau, Susan Sontag. Préfcace de Serge Toubiana, Paris 2005.

[2] Alle direkten und indirekten Zitate aus den DVDs „Mein liebster Alptraum“ © 2012 CONCORDE und ALLES WAS KOMMT © 2017 WELTKINO.

[3] K. Flasch: Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron, München 2002, 232.

[4] Flasch: Vernunft (s. Anm. 3), 239.

[5] Flasch: Vernunft (s. Anm. 3), 249.

[6] Ein ambiger Satz: „das“ und „sie“ können sowohl Subjekt als auch Akkusativobjekt sein.

[7] I. Huppert, in: Hugo Huerta Martin: Portrait of an Artist. Conversations with Trailblazing Creative Women, München – London – New York 2021, 362.

[8] N. Rees-Roberts – D. Waldron: Isabelle Huppert. Stardom, Performance, Authorship, Bloomsbury Academic 2022, 207.

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