Abgrund und Schönheit
I
Welche Strafe steht auf
Falschparken?
Auf nicht-richtiges Gendern?
Auf anonymen Denunziation?
Darauf, Frauen Bildungswege zu verweigern?
Auf Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit?
Auf Massenmord?
Darauf, ein Land völkerrechtswidrig zu überfallen?
Welche Strafe steht auf
Den Abwurf von Atombomben,
Auf vertuschten klerikalen
Missbrauch an Abertausenden von Jugendlichen –
Global und historisch?
Auf milliardenschwere Steuerhinterziehungen?
Auf Vernichtung des Klimas oder von Arten?
Was für eine Strafe für das Zerstören
Des Lebens der eigenen Kinder
Oder das der Ehefrau
Oder das des Ehemanns?
Was mit all den Ungeheuern und Monstern,
Die sich berufen fühlen von Nation, Gott oder sich
Selbst, zu bestimmen, mein
Leben, wie ich es leben möchte,
Oder das von Millionen Anderen wäre so wertlos,
Um es dann zu demütigen und zu vernichten.
Welche Strafe steht noch einmal auf
Falschparken?
II
CO² verschwinde, geschwinde.
Ein Reim, und schwupps ist der Dreck weg.
Mensch, fühle ich mich jetzt so richtig
Moralisch gut.
Putin verschwinde, geschwinde.
Nun ja, die Massengräber irgendwo …
Und irgendwo dürfen Frauen
Keine Universitäten besuchen …
Verschwinde, geschwinde,
Aber wenn wer wie was mich
Kritisiert, sag’ ich einfach:
Der die das mag keine
CO²-Reduktion. Moralisch
Ganz, ganz verwerflich.
Und genüsslich
Lehne ich mich zurück und
Fühle die Macht meines Laptops.
Oh diese unschuldige Sprache,
Wie sie wird
Zu formbarem Lehm in
Meinen Händen …
Ach, und es wäre zudem wichtiger,
die richtige Meinung zu haben …
Also wichtiger als Wissenschaft, Lesen, Schreiben,
Rechnen …? Na gut.

III
Die Schlange das klügste Tier,
Darum warnte sie Eva vor Adam,
Der brach der Schlange die Beine,
Wasser drang vor Schmerz aus ihrer Seite,
Und er log einen anderen Mythos herbei,
Seitdem kriechen Schlange und Frau.
IV
Sich durchsetzende
Moleküle, die sich replizieren
Immer weiter.
Es setzten sich durch
Religionen und
Ideologien, die sich replizieren
Immer weiter.
Der Mensch? .. nur die
Allerfürchterlichste Konsequenz
Eines natürlichen Prinzips:
Das, indem es alles zerstört
Und auffrisst,
Sich selbst zerstört.
Es könnte auch
Macht oder Profit
Genannt werden. Es.
V
Wir sind von unserer DNA,
Und sind doch so viel mehr als sie.
Vielleicht wird es einst auch den KIs
So ergehen: unendlich mehr als
Wir zu sein. Und dann erzählen sie sich
Mythen – in denen wir Erfundenen genauso
Keine Antworten geben können
Wie unsere fingierten Götter.
Was mag nach
Den KIs kommen?
Nur Menschen würden Menschen
Lieben können. Also nicht: Mann
Liebt Androidin oder KI liebt Frau?
Und doch sagen sie über das
Ganz Andere: Gott liebe uns.
Und wir liebten Gott.

VI
(nach Wilhelm Schapp)
Abends
Ein Sternbild geht im Meer unter.
Taucht ein in das Dunkel.
Funkelt es in der Tiefe weiter?
Wo und wer bewahrt es auf?
Wer bringt es zurück?
Nixen? Sirenen? Ovid?
Einstein?
Die Sonnen, aus denen es
Besteht, sind vielleicht schon
Lange erloschen. Ich sehe, was in
Der Ferne schon längst
Verschwunden. Und die Sterne
Könnten im tiefen Raum
Unvorstellbar weit auseinander
Liegen. Und ich tue so, als
Passten sie auf das zweidimensionale
Blatt meiner Phantasie.
Ich schenke ihnen
Eine, meine Geschichten,
Aus dem einfachen Grund, weil
Sie eben da sind. Und sie geben mir
Eine, meine Geschichte, weil es ich
Sonst nicht verstehen könnte:
Dass ich hier bin und auch dort, und
Dieses: was ich Meer und abends
Und Sternbild nenne, auch wenn
All das etwas anderes sein mag,
Wie ich lernen musste. Und wir
Sind nur in diesen Geschichten:
Der Abend, die Sterne,
Das Meer und ich.
VII
Die Zeit verwandelte
Deine blauen trauernden Augen
In Glas. Ich schaue hindurch –
Und
Ich sah dich nachts
Einsam in deiner Küche sitzen
Zigarette rauchend
Du musst alleine schlafen denn
Deine Zukunft ist gegangen
Jahre später werde ich dir begegnet sein,
Und wenn ich deine Küche betreten würde, möchte
Ich rufen: Leg’ die Zigaretten und die Trauer weg.
Doch da ist niemand mehr.
VIII

Für Isabelle Huppert
Die Welt ist mir dank ihr noch unvertrauter. Und das ist gut so.
Sie ist ein bisschen wie Gott –
Über Medien (Text, Buch, Film) habe ich
Von beiden gehört. Ich kenne auch den einen
Oder anderen Menschen, der glaubt,
Ihnen begegnet zu sein. Sie sind so
Unwirklich da, weil sie nicht wie alle anderen
Wirklich da sind. Unerreichbar wäre
Wiederum ein ziemlich falsches
Wort für etwas, das so meine Seele bestimmt
Und durchdringt. Mein Geist versagt, hilf mir, mein
Herz. Ihr Träume, leitet mich. O Muse, gib mir
Immer das Wort, den Vers, der vor Staunen
Auf die Knie fällt und trotzdem so weitersucht,
Und nicht zu den Sternen sagt: im Himmel aufgehängte
Lämpchen oder Lagerfeuer, weil das zu bequem, zu
Vertraut scheint. Aus Sternenstaub gemacht, sind
Wir Sterne, die sich selbst verstehen wollen. In der
Materie ist vielmehr Geist, als wir ahnen. Doch ich
Schweife ab. Und Muse, gibt mir eine gute
Portion Selbstironie. So dass auch Pathos ein
Wenig lächeln kann. Aber, ich habe Angst vor solcher Schönheit,
Die mich anschaut – durch Feuer und Bild und Kunst und Film –
Ohne dass ich davor fliehen könnte. Verdrängen, das
Fällt immer schwerer. Dieser unendliche leere Raum, in dem
Ein Dornenbusch brennt und nie verbrennt. Und
Dieses Feuer der Kunst, dessen Schein sich wie ein Gewand
Über die Urfluten breitet, ein Schleier, der
Meine Armut umhüllt, mich vor dem Sturm
Schützt und mir Trost gibt.
IX
Alter Friedhof
März 2023
Ein violett weißes Meer, mit Flüssen,
Teichen und Tümpeln: aus unzähligen
Krokussen, die mäandern auch unter
Den Trauerbäumen und der Verwitterung
Alter Gräber. Im Christiansenpark
Violett und Weiß wie Teppiche über die
Hänge gebreitet. Fließend-stehend. Abends
Die mausgraue Hauswand ein wenig
X
Die Wiedervereinigung war da
Und alle politische Metaphysik
Verschwunden,
Es gab auch keine Zukunft mehr,
Nur noch ewige Gegenwart,
Die – kontrolliert, evaluiert,
Quantifiziert und abkassiert –
Doch bisweilen durch die Störfälle
Trotzdem vergehende Zeit und Tod
Empfindlich irritiert wird.
XI
Orpheus
O Muse, sage mir …
Wo bist du mein ganzes Leben lang gewesen?
Eurydice
Auf dem Rückweg
Aus der Welt der Toten.
Ich zögerte für einen Augenblick,
Dir zu folgen.
Ich stand still,
Weil ich es nicht glauben konnte.
Ich sah, wie du weitergingst,
Du hörtest mich nicht mehr,
Sah deine
Angst, mich nicht mehr zu sehen.
Fühlen zu können. Der
Zweifel kam, du schautest
Dich um. Zurück.
Vergib mir.
Ich bin nur noch ein Schatten,
Der weint.
Ich bestehe nur noch aus
Tod
Und Liebe und
Aus Erinnerung an Erde
Und an deinen
Kuß
Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte und Gedichte bei uns hier.