Warum?
Am letzten Montag brachte die FAZ einen seltsamen Text der Lektorin Lisa Kuppler über den Krimi, wie er halt so ist. Anfangs herrschte Erstaunen, dann Verblüffung und nach genauerem Studium blieb dann eher Verwirrung. Ein Versuch durchzublicken – von Thomas Wörtche.
Ach ja, die FAZ. Ich wusste nicht, dass sie sich zu einem Fachblatt für Zeitreisen entwickelt hat oder eine Plattform sich ausprobierender Autorinnen ist, aber vielleicht möchte die FAZ auch ihre Ronja von Rönne haben. Auf solche Ideen kommt man, wenn man Lisa Kupplers Analyse, nein, Polemik, nein, Zustandsbeschreibung oder besser Meinung, neee, ich hab’s gleich – ja: Gefühle, ja, genau Gefühle über „Das U und E des deutschen Krimis“ liest. Und bekanntlich ist ja jedes Gefühl zu respektieren, religiöse Gefühle und so …
Ach, sorry wir reden ja von einem Text in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und nicht auf einem unbedarften Krimi-Hobby-Blog. Je länger ich auf die halbe Zeitungsseite starre, desto weniger weiß ich, ob man sich argumentativ überhaupt darauf einlassen kann, ohne der Verfasserin einen ca. 2-jährigen Grundkurs „Kriminalliteratur in Theorie und Praxis“ zu empfehlen. Bevor man mit ihr streitet. So konturlos, second hand, ahnungslos, verspätet, unpräzise.
Marktanalyse für Dummies: Schlichtere Kunst verkauft sich besser als komplexere. Ach! Das gilt für alle Texte, für Musik (wer ist Glenn Gould gegen André Rieu, DJ Ötzi gegen Billie Holiday) und halt auch für Kriminalromane – das ist historisch so. Wer war auflagenmäßig Ross Thomas gegen Frederick Forsyth? Chester Himes gegen Mickey Spillane? Liza Cody gegen Elizabeth George? Regionalkrimis – arbeitet Frau Kuppler nicht für den Branchenführer für Regionales, für den Emons Verlag? – und Schlitzerkrimis sind die Pest unserer Tage wie vor Jahrzehnten der Soziokrimi und der Frauenkrimi und weiß der Teufel welche Moden.
Deutschkrimi: Eine Diskussion, über die man sich nur noch lustig machen kann, wenn sie geführt wird wie in der FAZ. Denn die nationalliterarische Ausrichtung ist schon der Sündenfall, kleistert andere Diskussionen zu und folgt dem Dogma „ständischer“ Lobbyisten „deutschen Krimiwesens“. Aber wen interessiert das?
Natürlich gibt es eine Menge sehr guter deutschsprachiger Krimiautoren, einen davon, Rob Alef, betreut Frau Kuppler selbst. Ich hoffe, sie zählt ihn zu den „Ausnahmen“. Pieke Biermann hat in Klagenfurt gelesen und einen Preis gewonnen, und es gibt eine Reihe exzellenter Agenturen, die alle Sorten von Kriminalliteratur anbieten. Für schöne Gefühle auf dem Hobby-Blog muss man Business-Interna nicht wissen, in der FAZ wär es nett, wenn die Redaktion mal schnell geschaut hätte.
Und wenn man schon „Marktanalyse“ mit Aussagen über die Existenz von ästhetisch satisfaktionsfähigen Texten vermengt: Die Tsunami-Produktion von Krimis jeder Couleur ermöglicht eben auch Max Annas, Zoë Beck, Friedrich Ani, Frank Göhre, Merle Kröger usw. usw. und so fort. Und so minoritär sind die mit ihren Auflagen auch nicht unbedingt. Im Fall von Beck und Ani et al au contraire, und Max Annas ist ein Beispiel unter anderen, wie durchlässig die Grenzen zwischen Kleinverlag und Industrieverlag geworden sind. Vernünftig kalkuliert können sie sogar für Verlage mehr Geld verdienen als manche money mover. Auch das gehört eigentlich zum Handwerkswissen.
Kritik-Kritik, ja, die wird auch noch drangeklebt, bisschen Fuchs und Trauben halt. Das Jammern, dass das Feuilleton „Krimis“ am Katzentisch verhungern lässt, ist genauso uralt und inzwischen falsch und zudem auf eine irrelevante Identifikation mit dem Aggressor gebaut. Keinen Menschen interessieren Sprüche wie die von Frau Radisch (Sie erinnern sich, das mit der Meßlatte, mon dieu), auch wenn die in der ZEIT stehen, die damit nichts als Radischs eigene Ungebildetheit beweist, aber die man ernsthaft nur als Watschen-Dummy braucht. Und wer glaubt daran, dass eine Feuilleton-Debatte in den alten „Leitmedien“ unter Kulturverwesern des alten Schlages die Krimiwelt verbessern könnte? Vor allem, wenn sie auf dem Niveau stattfindet, die die FAZ mit dem Abdruck besagten Artikels vorlegt? Eben.
Wenn Frau Kuppler die verschiedenen Diskurse über Wertung, Feuilleton, Kritik nicht kennt, könnte sie sich vielleicht Nele Hoffmanns Studie „A Taste for Crime“ anschauen, die vollgepackt ist mit Material aus der publizistischen Realität. Besser wär’s gewesen, so was vor dem Abfassen eines Artikels zu machen.
Und jetzt wird’s richtig wirr: Frau Kuppler weiß, was „Literatur eigentlich soll“, das ist natürlich beeindruckend. Literatur – hätten Sie’s gewusst? – soll „eine Erfahrung vermitteln, die komplex ist, faszinierend und widersprüchlich“ – ah, die Erfahrung soll komplex sein, nicht die Vermittlung? Das ginge aber in einer Selbsterfahrungsgruppe besser, od’r? – und sie soll „etwas von der Welt zeigen, das über einen Zeitungsartikel oder regionalen Reiseführer hinausgeht“. Das soll also Literatur? Hat’se, Frau Kuppler, doch doch, echt, spätestens seit Homer sich vom regionalen Kleinasienreiseführerbusiness verabschiedet hat … Aber Frau Kuppler redet ja vom formatierten Deutschgrimmi, aber gerade bei dem darf man vermuten, dass er dem gemeinen Zeitungsartikel („Perlen des Lokaljournalismus“) nicht in die Quere kommt … Gut, also mit Literatur an und für sich muss man auch nicht argumentieren, wenn man von Krimis spricht, das ist auch okay – neee, sorry, jetzt gerate ich echt durcheinander …
Deswegen wendet sich der Text jetzt – noch ’n Faß zum Aufmachen – der Verständnislosigkeit der üblichen Verdächtigen zu: „Was fehlt – bei Kritikern wie Lesern – ist ein Verständnis für die Kriterien, formale wie inhaltliche, nach denen man Literatur beurteilt.“ Geht’s noch, echt?
Was ist denn so in letzten dreißig Jahren kritisch-diskursiv passiert? Keine Sammelbände, Lexikonartikel, Symposien, Tagungen, literaturwissenschaftliche Arbeiten, keine zigzehntausende sehr wohl mit Kriterien argumentierende Rezensionen, Interviews, Porträts, auf allen möglichen Ebenen und für jeden intellektuellen Zuschnitt (na ja, wie ich gerade merke, doch nicht für jeden) – sogar in den guten alten Leitmedien, in Akademien, spezialisierten Internetportalen, in ein paar sehr guten Blogs, verschiedenen Jurys, via KrimiZeit-Bestenliste, in der auch ein FAZ-Mensch sitzt (der dann vermutlich auch kein „Verständnis für Kriterien“ hat?) und vielen, vielen anderen Medien und Plattformen? Man muss das nicht alles gut finden, aber so wie es hier rüberkommt, kennt Frau Kuppler das also alles nicht, weil sie sich sonst sicher mit Namen und Fakten auseinandergesetzt hätte. Das qualifiziert natürlich dringend.
Und für die Leser gilt eisern: Vor den dummen Leser hat der liebe Gott den dummen Lektor/Redaktor oder sonst wen gesetzt.
Aber die richtigen Hämmer hat sie sich für den Schluss aufgehoben, was ziemlich mutig ist, denn so weit wäre ich fast bei der Lektüre wegen Erschöpfung nicht gekommen: „Inhalte“ verkündet sie, „sind (…) das schlechteste aller Kriterien, wenn es um die Frage von Qualität geht“. Puuuuh … Inhalt als Kriterium für Qualität hängt vermutlich von der Qualität des Inhalts ab. Ein Kriminalroman ohne nennenswerten einschlägigen „Inhalt“ ist keiner. Einer, der einen solchen „Inhalt“ ästhetisch defizitär inszeniert, ist wegen dieser Inszenierung ein schlechter Kriminalroman und einer, der gleißnerisch brillant nichts Belangvolles zu erzählen hat, ist trotzdem ein schlechter Kriminalroman. Wo ist das Problem? Ah, allmählich kapier ich’s: Frau Kuppler hält „Kriminalroman“ für eine Form und nicht für ein über Erzählinhalte definiertes Genre. Als ob die verschiedene Anordnung von Handlungselementen (darin begründen sich die verschiedenen Sub-Genres) eine Aussage über die „meaning of structure“ wäre. Das ist Germanistik der 1950er Jahre und hat von Gattungstheorie seit Klaus W. Hempfer und Adena Rosmarin (etc., etc., etc., bitte bibliographieren Sie selbst) nichts gehört. Muss man aber auch nicht, wenn man in der FAZ über „Krimis“ schreibt. Es ist schon ziemlich fahl, wenn man auch noch grübeln muss, wo der ganze Unfug herkommt …
Aber einer geht noch. Der ist sogar besonders lustig: Die Perspektive, findet Lisa Kuppler, kommt zu kurz. Gerade mal bei Wolf Haas (sein erster Brenner-Krimi stammt aus dem Jahr 1996) und Zoran Drvenkar wird „über die Erzählstimme gesprochen“ – ach! Nicht seit Jahrzehnten über die Ich-Perspektive bei Chandler, nicht über die Polyphonie bei Jerry Oster, nicht über nichtlineares Erzählen bei Chester Himes, nicht über Intertextualität bei Patrícia Melo, nicht über Montage bei Paco Ignacio Taibo … ach, was setz ich hier offensichtlichem Unfug irgendwelche schönen Beispiele entgegen, die bewusst international sind, weil gerade an solchen Feldern die nationalliterarische Verengung deutlich wird, die Frau Kuppler aus nicht nachvollziehbaren Gründen (Distinktionsgewinn? Aber gegenüber wem?) exekutiert.
Und wenn man den Kopf wieder klar hat, bleibt eigentlich nur eine Frage übrig: Warum druckt die FAZ das?
Thomas Wörtche