Ach, Italien … Giancarlo de Cataldo, Romancier, Drehbuchautor (u. a. „Romanzo Criminale“) und Richter umkreist nicht nur in seiner Fiction, sondern auch in seinen Essays immer wieder die Gründe und historischen Ursachen für den Zustand der italienischen Gesellschaft, um darin sowohl das Landesspezifische wie auch das Grundsätzliche und Analogisierbare herauszuarbeiten … Lesen Sie heute den von Dorothee Calvillo übersetzten zweiten Teil (hier geht’s zu Teil 1) über bemerkenswerte Parallelen zweier Vorgänge im 19. und im 20. Jahrhundert, exakt 100 Jahre voneinander getrennt, die um die notorische „Banca Romana“ kreisen.
Malitalia, Teil 2
Während sich also die Voruntersuchung im Mordfall Notarbartolo hinzieht, legt man in Rom in aller Eile der Bankenskandal zu den Akten.
Der Abgeordnete De Zerbi, der wegen einer geringfügigen Straftat angeklagt ist, stirbt an einem Infarkt oder nimmt sich das Leben, nachdem das Untersuchungsverfahren gegen ihn genehmigt wurde. Wäre er ruhig geblieben, hätte er sich ebenso wie die anderen aus der Affäre ziehen können: Mit der Generalbegnadigung am 28. Juli 1894 löst sich nämlich der gesamte „aufsehenerregende Prozess“ in Luft auf. In der Zwischenzeit tritt Giolitti zurück, Crispi wird sein Nachfolger. Nach nicht allzu langer Zeit wird er als Sieger aus der Affäre hervorgehen, und zwar mit einem, zumindest politisch gesehen, blitzsauberen Führungszeugnis. Die Presse schreibt über einen „traurigen Epilog“, aber auch – ganz realistisch und sehr italienisch – über ein „vorhersehbares Urteil“. Bei der Anhörung kommen alle möglichen Ungereimtheiten ans Licht. Zwei Episoden sorgen in der Öffentlichkeit für Entsetzen: Just an jenem Abend, als der Bankenskandal ans Licht kam, hatte offenbar ein Treffen zwischen dem Generalstaatsanwalt, dem Staatsanwalt des Königs und dem Untersuchungsrichter stattgefunden. Der Zweck dieses Treffens zwischen den wichtigsten Köpfen der Ermittlungen und dem zuständigen Richter wird nie aufgeklärt.
Allerdings ist der Zusammenhang zwischen dieser und der folgenden Episode deutlich erkennbar: Als Polizisten das Haus des Bankiers Terlongo durchsuchen, schaffen sie – noch bevor sie überhaupt einen Untersuchungsbericht verfassen – eine Reihe von Dokumenten beiseite, die in besagtem Bericht nicht auftauchen sollen. Das Gericht, so sehr es auch um seine begrenzten Möglichkeiten weiß, ermittelt und geht der Sache halbwegs auf den Grund, bis es schließlich zu der Erkenntnis kommt, dass Giolitti die treibende Kraft hinter der Unterschlagung von entscheidenden Beweismitteln gewesen sein muss. Als Giolittis Anhörung stattfinden soll, zeigt dieser keinerlei Interesse daran, sich im Sinne der Sache zu äußern und weist auf die angeblich mangelnde Befugnis der Richter hin. Da er nämlich zum Zeitpunkt der Ereignisse Minister gewesen sei, hätte nur der Senat ihn zur Rechenschaft ziehen dürfen, vorausgesetzt, die Abgeordnetenkammer hätte ihn angeklagt. Das Gericht geht darauf nicht ein. Giolitti wiederum strengt ein Berufungsverfahren an und gewinnt: Minister sind an die parlamentarische Gesetzgebung gebunden, auch wenn sie nicht mehr im Amt sind. Und wenn es darum geht, einen möglichen Amtsmissbrauch zu prüfen, ist die „vorherige politische Bewertung der Sachlage der Abgeordnetenkammer vorbehalten“. Im Klartext: Die Demokratie hat ihren Preis, und über den Beigeschmack gewisser Gelder sollte man lieber Stillschweigen bewahren. So wird der Mantel des Schweigens über den Skandal der Banca Romana gebreitet, dem archetypischen und emblematischen Beispiel für ein politisches und soziales Sittengemälde, das von einem zeitgenössischen Juristen verewigt wurde als „Die Unmoral dessen, der sich überfressen hat und, wie Dantes Wölfin, nach dem Mahl gieriger tut als zuvor“. Und der interessierte Tribun Coccapieller zieht sich kurz darauf, von der Öffentlichkeit vergessen, in sein bescheidenes Haus an der Piazza Vittorio zurück.
Aber was wird nun aus der Affäre Notarbartolo?
Sechs Jahre dauert es, bis die Hauptverhandlung endlich stattfindet, und zwar in Mailand, damit die öffentliche Ordnung nicht gestört wird (wegen der berüchtigten „Befangenheit“). Der mutmaßliche Killer Filipello steht bereits nicht mehr zur Debatte; Fontana und Palizzolo, beide mehr als nur ein wenig verdächtig und von der Familie des Opfers klar beschuldigt, werden unerklärlicherweise vollkommen ignoriert. Auf der Anklagebank sitzen zwei Randfiguren, die Bahnbeamten Garufi und Carollo, die als Komplizen der Mörder fungiert haben sollen. Im Gerichtssaal spielen sich bizarre Szenen ab. Die Zeugen, beinahe allesamt Sizilianer, sagen mithilfe eines Übersetzers aus: Nahezu vierzig Jahre nach der Einigung Italiens behandelt man sie wie ausländische Einwanderer. Polizeiinspektor Di Blasi wird auf der Stelle verhaftet, weil er die Untersuchungen zu Palizzolos Mandat in die Irre geleitet haben soll. Er kontert, indem er seinerseits den palermitanischen Polizeipräsidenten Ballabio beschuldigt. General Mirri, höchster Chef der sizilianischen Polizei, beschuldigt die Justizbehörde offen der „Schludrigkeit, Mitwisserschaft und Mitschuld“. Der Ex-Bulle Lucchesi äußert einen Satz, dessen Echo bis heute nachklingt: „Eine magische, ebenso geheimnisvolle wie mächtige Hand hat diesen Prozess beeinflusst …“
Wie oft haben wir in Italien schon von „Händchen“ oder „Pranken“ gehört, die mitmischen, vorgaukeln, umlenken können? Dass es in diesem Fall um die Hand der Mafia geht, oder, genauer gesagt, der „höchsten Kreise der Mafia“, wird von niemandem bezweifelt. Die Lösung des Falles sieht allzu willfährig aus, und die gegnerischen Lager toben: auf der einen Seite der Belagerungszustand und General Pelloux, der mit Maschinengewehrsalven gegen das hungernde Volk kämpft, auf der anderen Seite die Mafia, die tut, als wäre sie dessen Herrscherin. Auf der einen Seite die sozialistischen Abgeordneten, die zwar frei sind, aber unter Beobachtung stehen wie gewöhnliche Verbrecher, auf der anderen Seite Palizzolo, der einen unerklärlichen Schutz genießt und sich rühmt, „ein Mann des Volkes“ zu sein, „ den das Volk liebt“. Notgedrungen nimmt man die Ermittlungen wieder auf. Ein neuer Prozess beginnt, diesmal in Bologna (wieder einmal wegen Befangenheit!). Unter anderem sagt der Industrielle Florio aus, Eigentümer der Tageszeitung L’Ora und glühender Anhänger Palizzolos. Die Maffia? Davon habe ich nie etwas gehört. Die Maffia und die Wahlen? Nein, niemals! Und auf die Frage des Staatsanwaltes, ob er denn ausschließen könne, dass auf Sizilien die Wahlen von Maffia und Mammon entschieden würden, antwortet er: „Nun ja, wenn wir es ganz genau nehmen wollen, muss ich sagen, dass kürzlich einmal die Sozialisten 100.000 Franken ausgegeben haben, um die Monarchisten zu schlagen, aber gelungen ist ihnen das nicht.“
Genug ist genug: Am 31. Juli 1902 verurteilt das Schwurgericht in Bologna Palizzolo als Auftraggeber des Mordes und Fontana als Ausführenden zu jeweils dreißig Jahren Haft. Wegen eines Formfehlers muss das Kassationsgericht die Urteile aufheben. Der dritte und letzte Prozess findet in Florenz statt. Der wichtigste Zeuge der Anklage, der Ex-Verdächtige Filipello, wird ein paar Tage vor seiner entscheidenden Aussage erhängt aufgefunden. Natürlich Selbstmord. Dasselbe Schicksal wird 1993 den Bankier Cagliari ereilen (der bereits im Gefängnis sitzt, als er in einer Zellophantüte erstickt) sowie den Industriellen Raoul Gardini (ein Pistolenschuss in die Schläfe, am Vorabend der wichtigsten Vernehmung).
Schauen wir noch mal zurück in die Vergangenheit. Am 23. Juli 1904 wird Palizzolo freigesprochen und darf endlich nach Sizilien zurückkehren, wo eine Art selbsternanntes Gerechtigkeitskomitee ihn derart mit Ehrenbekundungen und Ovationen überschüttet, dass der alte Liberale Gaetano Mosca in seinem Missmut von einer: „Verherrlichung, die den Sinn für Moral beleidigt“ spricht. Palizzolo selbst wird, nachdem die erste Euphorie verflogen ist, von den ehemaligen Verbündeten seiner Ämter entbunden und fallengelassen, denn er ist zu einer Belastung geworden oder, ganz einfach, zu nichts mehr nutze.
Aber warum musste Notarbartolo sterben? Salvatore Lupo liefert in seiner „Geschichte der Mafia“ eine überzeugende Lesart der Zusammenhänge. Im Zentrum des Geschehens steht die NGI, die Navigazione Generale Italiana, eine Transportgesellschaft, die das Monopol für die Verbindungen zwischen Sizilien und den wichtigsten europäischen Häfen hält. In seiner Eigenschaft als Generaldirektor der Banco di Sicilia scheint Notarbartolo im Sinne einer besonnenen Buchführung die dauernden Anfragen der NGI nach Bereitstellung finanzieller Mittel zu boykottieren. Als Folge des von der NGI-Lobby ausgeübten und von Palizzolo verstärkten Drucks wird Notarbartolo aus der Bank entfernt. Doch er hinterlässt dort eine ganze Reihe treuer Angestellter, die sofort auf die Unregelmäßigkeiten unter der neuen Geschäftsführung hinweisen: Zuallererst werden die Geschäfte der NGI eingehend überprüft (wegen der damals unglaublichen Summe von einer Million Achthunderttausend Lire) die sich schließlich als Geschenk für einen gewissen Salvatore Anfossi erweisen, eine zwielichtige Figur, die laut Auskunft der damaligen Polizei „sämtliche Arten von anrüchigen Geschäften tätigt“. Es folgt eine offenbar von Notarbartolo angeregte Untersuchung durch das Ministerium, im Zuge derer er sich bemüht, die Leitung der Bank wieder in seine Hände zu bekommen. Jetzt bleibt seinen Gegnern nur eine Möglichkeit: der Auftrag an die Killer.
Wie auch immer die Wahrheit aussieht, das Verbrechen an Notarbartolo markiert einen Wendepunkt in der Geschichte – nicht nur in der Kriminalgeschichte, sondern in der Italiens. Zum allerersten Mal kommen die Knotenpunkte jener Connection zwischen Mafia und Politik ans Licht, die sich als ständiger Fluch über dem politischen und wirtschaftlichen Leben des Landes erweisen wird, ganz egal, was uns die heutigen Revisionisten darüber glauben machen wollen. Zum ersten Mal haben die Banden ein höheres Ziel ins Visier genommen und vollkommen unerwartet eine wichtige Persönlichkeit, einen wirklich Mächtigen eliminiert: Ein Verbrechen dieses Kalibers wird erst wieder 1971 geschehen, als man den Staatsanwalt der Stadt Palermo, Pietro Scaglione, ermordet.
Post Scriptum: Vor ein paar Jahren hat der Schriftsteller Sebastiano Vassalli in „Der Schwan“, einem seiner polemischsten Romane, die Geschichte Palizzolos auf rigoros dokumentarische Art rekonstruiert. Sie ist zu einer unerbittlichen Abrechnung mit den Italienern geraten, mit allen, ohne Ausnahme. Zu einer Art unentrinnbarer Resignation gegenüber der endemischen Hartnäckigkeit des ewigen „Malitalia“. Damals stritt ich darüber mit Vassalli. Der Roman war punktgenau im Zuge des Massenprozesses gegen die Mafia und den Attentaten auf Giovanni Falcone und Paolo Borsellino erschienen. Zu dieser Zeit schien Palermo, Sizilien, ganz Italien aus dem Schock der Attentatswelle neue Kraft geschöpft zu haben. Man sah junge Leute aus Empörung auf die Straße gehen, man hoffte, die politische Klasse werde sich nun endlich einmal zusammenreißen, neue Ermittlungen wurden angestrengt, um rätselhaften staatlichen Verflechtungen auf den Grund zu gehen … Tatsächlich schien ein neues Zeitalter angebrochen zu sein. Die Bitterkeit und der Pessimismus Vassallis kamen mir ungerechtfertigt, ja sogar defätistisch vor.
Gelegentlich habe ich daran gedacht, ihn um Verzeihung zu bitten.
Ich habe es nicht getan, denn ich will einfach die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich doch noch etwas ändern könnte.
Giancarlo de Cataldo
Malitalia Teil 1.
Die Übersetzung ins Deutsche ist von Dorothee Calvillo. Sie verbrachte ihre Kindheit zwischen Spanien und Deutschland, studierte Romanistik und arbeitet seither als Fachübersetzerin. Seit 2005 studiert Dorothee Calvillo Literaturübersetzen in Düsseldorf und bereitet sich gerade auf ihr Diplom vor.
Zu de Cataldo bei CULTurMAG. Thomas Wörtche über „Zeit der Wut“ im Deutschlandradio Kultur, „Schmutzige Hände“ bei CULTurMAG und „Romanzo Criminale“ bei kaliber38. Verlagsinformationen.
Giancarlo de Cataldo: Zeit der Wut. Thriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag 2012. 247 Seiten. 22,90 Euro.
Giancarlo de Cataldo: Schmutzige Hände. Politthriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag. 376 Seiten. 22,90 Euro.
Giancarlo de Cataldo: Romanzo Criminale. Politthriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag. 575 Seiten. 24,90 Euro.