Geschrieben am 1. November 2023 von für Crimemag, CrimeMag November 2023

Leigh Brackett „Das lange Morgen“

Vierzehn Jahre alt ist Len Colter, der Held von „Das lange Morgen“, als er mit seinem Vetter Esau auf die Reise geht. Seine Welt ist ein ländliches, religiös geprägtes Amerika, sämtliche Städte nach einem Atomkrieg zerstört. 1955, mitten im Kalten Krieg geschrieben, gilt „The Long Tomorrow“ als Leigh Bracketts schönster Roman. Von Verlagsgründer Hannes Riffel neu und erstmals vollständig übersetzt, liegt er nun als einer der ersten Auftritte des Carcosa Verlags in einer schönen Ausgabe vor.

Mit freundlicher Gegehmigung des Verlags präsentieren wir Ihnen daraus einen Textauszug. Ein Porträt von Leigh Brackett – auch als Drehbuchautorin einiger Noir-Filme bekannt – und einen Hinweis auf den neuen Verlag finden Sie in dieser Ausgabe nebenan.

Leigh Brackett: Das lange Morgen (The Long Tomorrow, 1955). Aus dem amerikanischen Englisch neu übersetzt von Hannes Riffel. Carcosa Verlag, Wittenberge 2023. Klappenbroschur, 284 Seiten, 22 Euro.

Seine Großmutter hatte das Taschentuch gefunden und wischte sich damit übers Gesicht, schniefte und steckte es wieder weg. Len wartete geduldig.
»Als ich ein kleines Mädchen war«, sagte sie schließlich, »war Krieg.« 
Len nickte. Davon hatte ihnen Mr. Nordholt erzählt, der Schulmeister, und in seiner Vorstellung hatte sich das mit dem Buch der Offenbarung verknüpft und war zu einer erhabenen, furchterregenden Sache geworden. 
»Dieser Krieg hatte sich schon seit einiger Zeit angekündigt«, fuhr seine Großmutter fort. »Ich weiß noch, dass sie im Fernsehen ständig darüber redeten und Bilder von Bomben zeigten, die Wolken wie Pilze aufsteigen ließen, und jede einzelne konnte eine ganze Stadt auslöschen. Ach Lennie, es regnete Feuer vom Himmel, und viele wurden davon verzehrt! Der Allmächtige hat diese Geißel für einen Tag in die Hände unseres Feindes gegeben, um uns zu strafen.« 
»Aber wir haben gewonnen.«
»O ja, am Ende haben wir gewonnen.«
»Haben sie damals Bartorstown gebaut?«
»Das war vor dem Krieg. Die Regierung hat es gebaut. Da war die Regierung noch in Washington, und es war ganz anders als heute. Größer, irgendwie. Genau weiß ich das nicht, als kleines Mädchen hat mich das nicht interessiert. Aber es gab viele geheime Einrichtungen, und Bartorstown war die geheimste von allen, irgendwo weit draußen im Westen.« 
»Wenn das alles so geheim war, woher wusstest du dann davon?« 
»Sie haben im Fernsehen darüber berichtet. Natürlich haben sie nicht gesagt, wo es war oder wozu es gut sein sollte, und es hieß, dass es vielleicht nur ein Gerücht ist. Aber an den Namen kann ich mich erinnern.« 
»Dann gab es diesen Ort wirklich«, sagte Len leise, 
»Was nicht heißt, dass es ihn heute noch gibt. Das ist alles lange her. Vielleicht ist den Leuten nur etwas im Gedächtnis geblieben, und jetzt glauben, wie dein Pa sagt, nur noch Kinder und Fanatiker daran.« Im Flüsterton fügte sie hinzu, dass sie selbst nicht dazu gehöre. »Gib dich damit nicht weiter ab, Lennie. Das ist Teufelszeug. Du willst doch nicht, dass dir das Gleiche passiert wie dem Mann bei der Predigt.« 
Als Len das hörte, durchlief es ihn wieder heiß und kalt. Doch seine Neugier war so groß, dass er doch noch eine Frage stellte. »Ist Bartorstown denn so ein schrecklicher Ort?« 
»Das ist es«, erwiderte seine Großmutter unwirsch, »schließlich sagen das alle. Ach, ich weiß! Mein ganzes Leben lang musste ich meine Zunge im Zaum halten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Welt früher war. Ich war nur ein kleines Mädchen, aber ich war alt genug, fast so alt wie du. Und ich weiß noch genau, wie wir zu Mennoniten wurden, obwohl wir es vorher nicht waren. Manchmal wünschte ich mir …« 

Sie verstummte und blickte wieder zu den flammenden Bäumen hinüber. »Ich habe das rote Kleid sehr geliebt.« 
Wieder herrschte Schweigen. 
»Grandma.«
»Ja, was ist?«
»Wie waren die Städte wirklich?« 
»Frag besser deinen Pa.« 
»Du weißt doch, was er dann immer sagt. Außerdem hat er sie nicht selbst gesehen. Du dagegen schon, Grandma. Du kannst dich an sie erinnern.« 
»Der Herr hat sie in seiner grenzenlosen Weisheit vernichtet. Es steht dir nicht zu, an ihm zu zweifeln. Und mir ebenso wenig.« 
»Ich zweifle ja gar nicht – ich frage nur. Wie waren sie wirk­lich?«
»Sie waren riesig. Wäre Piper’s Run hundertmal so groß, würde es nicht die Hälfte einer kleinen Stadt ausmachen. Es gab breite Straßen für die Autos und gepflasterte Wege für die Fußgänger, und die Häuser ragten bis in den Himmel hinauf. Überall herrschte gewaltiger Lärm, und die Luft roch anders, und haufenweise Leute hasteten umher. Ich habe die Städte immer gerne besucht. Damals dachte niemand, dass sie sündhaft sind.« 
Lens Augen waren groß und rund. 
»Es gab riesige Kinos mit gepolsterten Sitzen, und Supermärkte, die doppelt so groß waren wie unsere Scheune, und dort konntest du alles Mögliche zu essen kaufen – lauter in Glanzpapier verpackte Sachen, Lennie, von denen du noch nie gehört hast! Weißer Zucker, und wir dachten uns nichts dabei. Und Gewürze, und den ganzen Winter über frisches Gemüse, zu kleinen Backsteinen gefroren. Und was es alles in den Läden gab! Ach, so viel, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll – Kleider und Spielzeug und Waschmaschinen und Bücher, Radios und Fernseher …« 

Sie wiegte sich vor und zurück, und ihre alten Augen glänzten. 
»Und Weihnachten!«, sagte sie. »An Weihnachten waren alle Fenster geschmückt, und ach, die Lichter und die Lieder! Alles war hell und bunt, und die Leute lachten. Das war nicht sündhaft. Es war wundervoll!« 
Len stockte der Atem. Während er mit offenem Mund dasaß, ließen im Haus schwere Schritte die Dielen erzittern. Er versuchte, seiner Großmutter zu bedeuten, sie möge still sein, aber sie hatte vergessen, dass er da war. 
»Die Cowboys im Fernsehen!«, murmelte sie, und ihre Gedanken schweiften weit zurück, ließen die sorgenvollen Jahrzehnte hinter sich. »Die Musik, und Damen in wunderschönen Kleidern, die ihre Schultern entblößten. So wollte ich aussehen, wenn ich erst mal groß war. Die Bilderbücher, und Mr. Bloomer’s Drugstore, wo es Eiscreme gab und an Ostern Schokoladenhasen …« 

Pa trat aus der Tür. Len stand auf und ging zum Fuß der Treppe hinunter. Pa sah ihn an, und irgendetwas in Len zerbrach. Die letzten drei Wochen waren eine einzige Qual gewesen. 
»Wasser«, sagte seine Großmutter, »das aus einem funkelnden Hahn floss, wenn man daran drehte. Und ein Badezimmer im Haus, und elektrisches Licht …« 
»Na«, sagte Pa zu Len, »hast du sie zum Reden gebracht?« 
»Nein, ehrlich nicht«, erwiderte er. »Sie hat von selbst angefangen, mit einem roten Kleid.« 
»Leicht«, sagte seine Großmutter. »So leicht und hell und komfortabel. Das war die Welt. Und dann war sie weg. Von einem Moment auf den nächsten.« 
Pa sagte: »Mutter.« 
Sie blickte zu ihm auf, sah ihn von der Seite an. Ihre Augen waren wie zwei Funken, die verblasst waren und ein letztes Mal aufloderten. »Flachhut«, sagte sie. 
»Mutter, ich bitte dich …« 
»Wenn nur alles wieder so sein könnte«, sagte sie. »Ich wünschte, ich hätte ein rotes Kleid und einen Fernseher und eine hübsche weiße Porzellantoilette und all die anderen Dinge. Es war eine gute Welt! Ich wünschte, sie wäre nicht untergegangen.« 
»Aber sie ist untergegangen«, sagte Pa, »und du bist eine törichte alte Frau, die Gottes Barmherzigkeit anzweifelt.«

Seine Worte galten nicht weniger ihr als Len, und er war äußerst wütend. »Hat dir irgendetwas davon geholfen, am Leben zu bleiben? Haben sie den Leuten in den Städten geholfen? Haben sie das?« 
Großmutter wandte das Gesicht ab und antwortete nicht. 
Pa stieg die Stufen herab und blieb vor ihr stehen. »Du verstehst mich nur zu gut, Mutter. Antworte mir. Haben sie das?« 
Tränen traten ihr in die Augen, und das Feuer in ihnen erlosch. »Ich bin eine alte Frau«, sagte sie. »Es ist nicht recht, dass du mich so anschreist.« 
»Mutter. Haben diese Dinge irgendjemandem geholfen, am Leben zu bleiben?« 
Sie ließ den Kopf sinken und bewegte ihn langsam hin und her. 
»Nein«, sagte Pa. »Und das weiß ich, weil du mir erzählt hast, dass es auf den Märkten nichts mehr zu essen gab und dass auf den Farmen nichts mehr funktionierte, weil es keinen Strom und keinen Treibstoff mehr gab. Und nur diejenigen, die schon immer ohne diese Luxusgüter gelebt hatten, sich von ihrer eigenen Hände Arbeit ernährten und mit den Städten nichts zu schaffen hatten, überstanden die Krise, und sie führten uns auf den Pfad des Friedens, und seither leben wir in Demut vor Gott. Und du wagst es, die Mennoniten zu verspotten!

»Schokoladenhasen«, sagte Pa und stampfte mit den Stiefeln auf. »Schokoladenhasen! Kein Wunder, dass die Welt untergegangen ist.«

Tags : ,