Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

James Anderson, Interview von Hanspeter Eggenberger

»Die einzige Person, der man in der Wüste absolut nicht entkommen kann, ist man selbst«

Im neuen Roman »Lullaby Road« erzählt James Anderson eine neue Geschichte vom Truckdriver Ben Jones, den er bereits in »Desert Moon« durch die Wüste in Utah fahren ließ. Im Gespräch mit Hanspeter Eggenberger erzählt der 64-jährige US-Autor, warum es so lange gedauert hat, bis er seine ersten Romane veröffentlichte, was und wer ihn zu diesen unkonventionellen Kriminalgeschichten inspiriert hat und wieso er das außergewöhnliche Setting der Wüste gewählt hat.

Sie waren 60, als Ihr erster Roman, »The Never-Open Desert Diner« (2016; Deutsch: »Desert Moon«, 2018), erschienWarum hat es so lange gedauert, bis sie Ihr erstes Buch publizierten?

James Anderson: Die kurze Antwort ist: Angst und vielleicht ein Hauch von Bequemlichkeit. Das Schreiben und das Publizieren sind zwei verschiedene Sachen und verlangen ganz unterschiedliche Fähigkeiten. Sie werden zu oft durcheinandergebracht, besonders von Schreibanfängern, die sich mehr mit Publizieren beschäftigen als mit dem Schreiben.

Und die lange Antwort?

Die ist komplizierter. Ich schrieb meine erste Shortstory im Alter von etwa sieben Jahren und beendete meinen ersten Roman mit sechzehn Jahren. Meine ersten Gedichte wurden in nationalen Zeitschriften veröffentlicht, als ich achtzehn oder neunzehn war. Während und direkt nach dem Studium wurde ich Buchverleger und Redakteur. Bis heute habe ich mehr Energie für die Werke anderer als für meine eigene. Zwei Dinge geschahen, als ich meine Karriere im Verlagswesen begann. Erstens sah ich, wie schwierig es für die Autoren war, Verlage zu finden, und wie quälend es für sie war, ihre Erfolgsansprüche durch kritische Bemerkungen und Verkäufe mit dem natürlichen inneren Prozess des Schreibens in Einklang zu bringen und ihren literarischen Imperativen treu zu bleiben. Zweitens veröffentlichte ich Kurzgeschichten, Essays und eigene Gedichte, und ich begann dann Briefe zu erhalten, die etwa so lauteten: »Ich habe Ihr Gedicht/Ihren Essay/Ihre Story in Soundso gesehen und gemocht. Ich weiß, dass Sie meine Arbeit lieben werden, das Manuskript liegt bei.« Ich erkannte, dass es schwierig war, zwei Hüte zu tragen, und zwischen den beiden glaubte ich, dass mein Herausgeberhut, das Umsorgen und Fördern der Arbeit anderer, wichtiger war. 

Und da hörten Sie auf zu schreiben?

Ich schrieb weiter, hörte aber auf, meine Arbeiten zur Veröffentlichung auszusenden. In den folgenden dreißig Jahren vollendete ich sechs Romane. In meinen späten Fünfzigern, mit meiner Buchverlagskarriere hinter mir und dem Tod immer näher, ließ ich die Angst los und sagte: »Was zum Teufel!« Einer der Vorteile des Alters ist eine gewisse Furchtlosigkeit oder vielleicht Mut, wenn man merkt, dass seine Unsterblichkeit ein Verfallsdatum hat. (lacht)

Sie haben schon als Jugendlicher geschrieben?

Die Entwicklung meines Schreibens begann mit dem Geschichtenerzählen im Kindergarten und in der Grundschule. In diesem Sinne also ging das Lügen – als Verteidigung, Ablenkung und zur Unterhaltung –dem effektiven Schreiben voraus. Als Kind gab es keine Trennung zwischen Phantasie und Realität, und ich gebe zu, dass es sie auch heute kaum gibt. (lacht) Aber es gibt die Wahrheit. Ich glaube, es war Picasso der sinngemäß sagte: »Der Künstler lügt, um die Wahrheit zu zeigen.«

James Anderson © privat

Sie haben die Resultate Ihres offensichtlichen Schreibtalents also unter Verschluss gehalten.

Nun ja, »offensichtliches Schreibtalent« … – ohne falsche Bescheidenheit: ich dachte nie, dass ich Talent hätte, ich tat es einfach gerne. Was die Gründe betrifft, warum ich schreibe, so hat mir die Antwort von Larry McMurtry immer gefallen: »Ich erfinde einfach gerne irgendwelches Zeug.«

Was haben Sie sonst gemacht all die Jahre bis zu Ihrer ersten eigenen Buchveröffentlichung?

Um es kurz zu machen: Ich war schon immer ein Leser – alles aus fast allen Disziplinen, von der Physik bis zur östlichen Philosophie –, und ich war immer an kulturellen Aktivitäten der einen oder anderen Art beteiligt, während ich an verschiedenen Jobs arbeitete, meistens im handwerklichen Bereich, etwa als Holzfäller, Fischer, Steinmetz, um nur ein paar Sachen zu nennen. Und, ja, Trucker war ich für kurze Zeit auch. Nach dem Buchverlag war ich eine Weile Dokumentarfilmproduzent. 

Wie kamen Sie vom Film wieder zum Schreiben?

Film ist nicht nur arbeitsintensiv, sondern auch finanziell intensiv und letztlich sehr kollaborativ. Ich hatte auf diesem Gebiet einige Erfolge, erkannte aber, wie Kurosawa sagte, dass die Grundlage des Films das Schreiben ist. Das kann und möchte ich ohne all die Ebenen der Zusammenarbeit tun. Dennis Lehane, der sehr erfolgreiche Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmemacher, hat gesagt, dass es Spaß macht, Romane zu schreiben, weil der Autor in einem Roman jeden Job erledigen kann, vom Kameramann über den Regisseur, Dialogcoach, Bühnenbildner und Location-Manager bis hin zu allen Schauspielern. All das kann ich beim Schreiben erschaffen, und dies nur den Preis von Bleistift und Papier – oder einem preiswerten Computer! 

Sie haben seit vielen Jahren Gedichte veröffentlicht. Warum gibt es kein Buch davon?

Vor allem, weil ich nie die Veröffentlichung einer Sammlung angestrebt habe. Vielleicht, weil ich nur begrenzt Energie für die Suche nach Veröffentlichungsmöglichkeiten habe, und diese Energie wird, wie ich denke zu Recht, von der Suche Veröffentlichungsmöglichkeiten für die Prosa verbraucht. Hinzu kommt, dass ich nicht mehr so viel Poesie schreibe, obwohl ich viel davon lese, viel davon auch in Übersetzungen. Ich glaube, dass die Lyrik die unendlichen Möglichkeiten der Sprache zur Vermittlung von Empathie erweitert und so nicht nur hilft beim Schreiben von Fiktion, sondern wesentlich ist, obwohl es nur wenige Romanautoren gibt, die diese Ansicht teilen. Es gibt jedoch einige, wie Andre Dubus III. und Luis Alberto Urrea, die ich beide persönlich kenne, die das tun. 

Sie hatten einen eigenen Verlag. Welche Art Literatur haben Sie da publiziert? 

Ja, hatte ich, und es scheint eine Million Jahre her zu sein. Wir haben Belletristik, Sachbücher, kreative Sachbücher und Gedichte sowie Biographien, Memoiren und Naturgeschichte veröffentlicht. Es begann als kleines Unternehmen und wuchs im Laufe der Jahre beträchtlich.  

Besteht der Verlag noch, oder was ist daraus geworden?

Ja und nein. Das Unternehmen wurde zusammen mit mehreren anderen außergewöhnlichen Verlagen zahlungsunfähig, als unser gemeinsamer Zwischenhändler Konkurs anmeldete und wir praktisch alle Einnahmen verloren und keinen Zugang zu unserem Bücherbestand mehr hatten, der in den verschiedenen Lagern und Vertriebszentren gelagert war. Ich habe dafür gesorgt, dass alle unsere Autoren ihre Rechte zurückerhielten und dass sie alle Exemplare ihrer Bücher, zu denen wir Zugang hatten, bekamen. Und ich habe ihnen auch geholfen, neue Verlage finden. Ich bin sehr stolz – und kein bisschen überrascht –, dass viele von ihnen eine ziemlich erfolgreiche Karriere gemacht haben und dass eine ganze Reihe dieser frühen Bücher all diese Jahre später noch lieferbar ist. Das Unternehmen ist also längst tot, aber die Werke, sein Herz, das was immer am wichtigsten war, sind noch am Leben, ebenso wie die meisten Autoren.

Hat Ihnen Ihre frühere Tätigkeit als Verleger das Schreiben und das Veröffentlichen eines Romans erleichtert?

In zwei Worten: Verdammt, nein! Einige Leute meinten, meine Kontakte im Verlagswesen hätten mir geholfen. Das ist völliger Blödsinn. Die meisten Leute, die ich kannte, sind tot oder schon lange im Ruhestand, und professionelle Verleger mit Integrität würden sich scheuen, einen Freund oder Kollegen zu veröffentlichen. Vor Jahren hat ein Freund von mir einen sehr, sehr erfolgreichen Roman veröffentlicht, aber er hatte furchtbare Probleme mit seinem zweiten. Er fragte sich, warum, wo er doch so offensichtlich Erfahrung hatte. Ein anderer Freund, ein bekannter Agent, erzählte ihm, dass er zwar schon einen früheren Roman geschrieben habe, aber noch nie »diesen« Roman. Jedes kreative Projekt stellt seine eigenen Anforderungen und Herausforderungen, die den Autor dazu zwingen, ein Anfänger zu sein. Und so sollte es auch sein. Um Suzuki Shunryū zu zitieren: »Im Geist des Experten gibt es wenige Möglichkeiten, im Geist des Anfängers viele.« Auch Leonard Cohen hat darüber geschrieben. Wir müssen bei unserer Arbeit immer ehrlich sein, das heißt, wir müssen nicht nur ständig hinterfragen und entdecken, was wir nicht wissen, sondern auch und vor allem, was wir zu wissen glauben – also »Anfänger« sein. David Bowie sagte kurz vor seinem Tod im Wesentlichen das Gleiche. 

Ihre beiden Romane, zuerst »Desert Moon« und jetzt »Lullaby Road«, haben einen außergewöhnlichen Schauplatz: eine Wüstenregion in Utah bzw. in der Four-Corners-Region, wo die US-Bundesstaaten Utah, Colorado, Arizona und New Mexico aufeinandertreffen. Haben Sie einen persönlichen Bezug zu dieser Region?

Ja und nein. Ich habe nie längere Zeit in der Wüste gelebt, aber ja, ich fühle eine persönliche Verbindung mit der Wüstenlandschaft. 

Die Wüste ist unerbittlich, sie wirft einen zurück auf einen selbst. Sie gilt, vor allem in der Religion als ein Ort der Klärung, der Entscheidung, der Selbstfindung und auch der Neuorientierung. Ich denke, solche Themen haben eine Rolle gespielt bei der Wahl des Schauplatzes?

In der gesamten Menschheitsgeschichte war die Wüste schon immer ein Ort, an dem Suchende, Asketen, Adepten usw. in die Isolation gegangen sind, um durch Einsamkeit Klarheit zu erlangen. Sie ist auch der Ort, wohin manche Menschen gehen, nur um in der Hölle allein gelassen zu werden, um der Zivilisation zu entfliehen, manchmal auch den Strafverfolgungsbehörden. Die einzige Person, der man in der Wüste absolut nicht entkommen kann, ist man selbst – und das ist für meine Romane essenziell. Vor vielen Jahren war ich besonders angetan von einem kleinen Buch, das Thomas Merton übersetzt hatte: »The Wisdom of the Desert«, Aussprüche und Geschichten von christlichen Einsiedlern und Mönchen aus dem zweiten bis vierten Jahrhundert, die in der ägyptischen Wildnis lebten. Es ist immer noch eines meiner Lieblingsbücher und ich habe es immer in meiner Nähe, zusammen mit Büchern von unter anderen Terry Tempest Williams, Barry Lopez und Bruce Berger. Was sich in der Wüste aus dem Sand und Fels erhebt, ist das Wichtigste: die Verbindung sowohl mit dem Menschen als auch mit der Natur – Wasser, Sonnenlicht, reines Dasein und manchmal einfach nur hart erkämpftes Überleben.

Die Wüste als Schauplatz schränkt aber auch die Möglichkeiten der Protagonisten ein.

Die Wüste als Schauplatz ist der Grund, warum in meinen Romanen so wenig Technik vorkommt. Mobiltelefonie funktionieren in der Wüstenregion, in der meine Romane angesiedelt sind, nicht. Die Menschen müssen direkt kommunizieren, miteinander und mit sich selbst, und ich glaube, dass eine solche direkte Kommunikation zur Ehrlichkeit und Authentizität der Figuren beiträgt. Man muss bewusst und selbstständig sein. Die Wüstenumgebung ist weit davon entfernt, leer zu sein, und sie ist den Stimmungen des Himmels und der Erde unterworfen, die gemeinsam das tägliche Leben aller dort lebenden Kreaturen beeinflussen.

Die Wüstenbewohner in Ihren Romanen wirken glaubwürdig. 

Es ist mein vielleicht größtes Erfolgserlebnis, in Briefen und Rezensionen immer wieder zu erfahren, wie angetan die Leser von meinen Figuren sind. Mein ständiges Anliegen bei der Schaffung von Figuren in meinen Romanen ist, mich aufrichtig um sie zu kümmern. Tue ich es nicht, wird es auch der Leser nicht tun. Und sich Kümmern ist eine wesentliche Voraussetzung, um Empathie zu erzielen. In der Wüste gibt es nur wenige Menschen, und obwohl keiner besonders gern Gesellschaft hat und vielleicht nicht jeden anderen mag, ist ihnen klar, dass sie gegenseitig ihr einziges Sicherheitsnetz sind. Egal wie unabhängig sie auch sein mögen, es wird wahrscheinlich der Tag kommen, an dem ein Samariter, sogar ein samaritanischer Feind, den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen könnte. Es gibt ein Einvernehmen darüber, dass, wenn du einem Nachbarn in Not den Rücken kehrst, dieser auch nicht für dich da sein wird. Die Stadtbewohner haben Notdienste und Lebensmittelgeschäfte und einen ständigen Strom von Menschen, von denen jeder einzelne helfen könnte. 

Kennen Sie solche Wüstenbewohner, oder sind sie reine Fiktion?

Meine Figuren sind Fiktion, wenn auch nicht reine Fiktion – nichts ist reine Fiktion, da es auf dem Boden der Erfahrung gewachsen ist, auch wenn die grundlegende Erfahrung vergessen wurde. In vielerlei Hinsicht sind die Figuren in meinen Romanen ein Teil von mir und Teile von Menschen, die ich während meiner Kindheit im amerikanischen Westen kennen gelernt habe. Wie mein Protagonist Ben Jones sagte: »Du wirst die Menschen nie mögen, wenn du das Paradox nicht magst.« Das ist wahr, egal wo du lebst. 

In der Wüste gibt es weniger Ablenkung als in dichter besiedelten Gegenden.

Genau. Was ich an der Wüste als Schauplatz mag, ist die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf die menschliche Interaktion, sowohl die innere wie die äußere, mit Menschen und der Natur zu lenken. Die Wüste ermöglicht es, die menschliche Komplexität in Bezug auf Ursache und Wirkung klarer zu untersuchen, da das menschliche Ökosystem dort eingeschränkt ist. Unkenntnis über sich selbst, seine Nachbarn, die Landschaft, die Ressourcen und das Wetter führt zu Verletzungen oder zum Tod. Wenn es Kommunikation gibt, ist sie in der Regel sparsam und trägt das Gewicht des wahren menschlichen Kontakts, des Guten und des Schlechten. Keine Mobiltelefone. Kein Facebook, Twitter, Instagram. Keine Bevölkerungsdichte. Es gibt sehr wenig Ablenkung. In der Wüste muss man sich bemühen, um zu kommunizieren, den menschlichen Kontakt zu suchen, und so führen diese Möglichkeiten zu einem starken und oft intensiven, wenn auch unaufdringlichen, sinnvollen Engagement.

Ben Jones, Ihre Hauptfigur, ist auf den ersten Blick ein unspektakulärer, eher durchschnittlich wirkender Typ. Er wächst einem aber schnell ans Herz. Dies nicht wegen großen Taten oder Gesten, sondern allein schon durch sein Verhalten in alltäglichen Situationen. Wie sehen Sie die Figur, wie haben Sie sie konzipiert?

Es war von Anfang an mein Ziel, mit Ben Jones einen Protagonisten zu schaffen – auch den Erzähler, denn die Romane sind beide in der ersten Person geschrieben –, der durchschnittlich war. Schon früh fragte mich ein Agent – einer, der es strikte ablehnte, mich oder den Roman zu vertreten –, was die »Super Power« meines Protagonisten sei. Ben Jones hat absichtlich keine »Super Power«. Ben spricht zum Beispiel nicht mehrere Sprachen, war nie Mitglied von militärischen Spezialeinheiten oder der Polizei, hat keine Abschlüsse in theoretischer Physik und italienischer Literatur der Renaissance. Er fährt einen Truck. Er gibt sein Bestes, tagein, tagaus, für wenig Geld. Ich glaube, seine »Super Power« besteht darin, dass er jeden Tag aufsteht und sein Bestes gibt – so wie die meisten von uns auf dieser Welt. Und wenn er Widrigkeiten und Gefahren begegnet, nimmt er das mit einer Art Jedermannsfatalismus und manchmal mit einem dunklen Sinn für Humor. Er versucht, ein besserer Mensch zu sein, und wie bei den meisten von uns, geht es an manchen Tagen ein Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück. Meiner Meinung nach sind Durchschnittsmenschen, die sich weigern, aufzugeben und weiterhin versuchen, anständig zu bleiben – ohne Belobigungen, ohne Paraden, ohne Geld, ohne Macht – die wahrhaftigsten Helden. Zumindest sind sie das für mich.

Außergewöhnlich an Ben Jones ist, dass er offenbar halb Indianer und halb Jude ist, aber bei einer Mormonenfamilie aufgewachsen ist. Wie kamen Sie darauf?

Das Paradoxe ist ein sich wiederholendes Thema in diesen Romanen. Und ich bin immer wieder überrascht, wie oft das Paradox im Gewand der Ironie daherkommt. (lacht) Ben Jones entstand im Lauf der Zeit, Schicht für Schicht, Überarbeitung für Überarbeitung. Ben war ein Waisenkind. Er hat »Probleme«. Er ist spirituell, auch wenn er das wahrscheinlich nicht so sagen würde, aber nicht religiös. Da er sowohl Jude als auch Indianer ist, ist er der ultimative Vertriebene in einem Land der Vertriebenen. Er ist Teil davon, aber Außenseiter. Die Frage, wer Ben Jones ist und wer nicht, zielt direkt in das einsame Herz sowohl des Erzählstils und der Geschichte als auch der Wüste.

Haben Sie schon beim Schreiben von »Desert Moon« geplant, den Truckdriver Ben Jones in einem weiteren Roman auftreten zu lassen?

Vielleicht. Ich war mir nicht sicher, ob »Desert Moon« überhaupt je veröffentlicht würde. Es gab viele Ablehnungen und vernichtende Kommentare. Es wäre etwas lächerlich gewesen, wenn ich zu weit darüber hinaus gedacht hätte. Natürlich hatte ich stille Träume. In diesen Momenten dachte ich, dass es vielleicht einen weiteren Roman mit Ben Jones geben könnte. Was ich damals wusste und heute weiß: es wird keine endlose Reihe von Büchern geben. Es gibt kurze Bögen, die zusammen einen großen Bogen über ein paar andere Bücher bilden.  

Eine zentrale Rolle in »Lullaby Road« spielt ein verlassenes Kind. Sie haben offenbar als Kind eine solche Erfahrung gemacht. Hat Sie das zu diesem Handlungsstrang inspiriert?

Auch hier: ja und nein. Sicherlich hat meine Kindheit, die mit Verlassenheit verbunden war, die Substanz geprägt, ebenso wie die Erfahrung, dass wunderbare Menschen – bei mir was es eine Quäker-Familie – einen Schritt machen und sich um uns kümmern, wie es ein Mormonen-Paar für Ben tat. Mitgefühl ist eine menschliche Qualität und keine religiöse. Wie Ben im ersten Roman sagt, zeigt einem der Blick darauf, wie jemand sein Leben täglich führt, viel mehr, als wenn man nur die Religion der Person kennt. Ich feiere das säkulare Mitgefühl. Religiöser Eifer in all seinen Formen, einschließlich der unaufhörlichen Bekehrung und Gewalt im Namen einer Gottheit, stößt mich ab. Heutzutage betrachte ich unseren Umgang mit Kindern, allen Kindern über geografische, ideologische, religiöse, rassische und ethnische Grenzen hinweg, als entsetzlich, als einen Frontalangriff auf die Zukunft der Menschheit. Die Behandlung – herzlose Missachtung, Unterdrückung, Marginalisierung, Kommerzialisierung und brutale Viktimisierung – von Kindern ist der Kanarienvogel in unserem menschlichen Kohlebergwerk. 

Kanarienvögel dienten im Bergbau als Warnsystem vor geruchslosen Gasen …

Genau. Was ich meine: Unser existenzieller Wert als Spezies wird jeden Tag daran gemessen, was wir unseren Kindern und in gewissem Umfang auch unserer Umwelt antun. Wenn wir ein Kind ignorieren und traumatisieren, kann dieses Kind, wenn es überlebt, durchaus zum Terroristen von morgen werden. Die Tragödie dieses Moments in der Geschichte ist, dass er ein Schandfleck für die Menschheit sein wird und schon ist und für Generationen noch mehr Leid erzeugen wird. Schon früh nahm ich mir Flannery O’Connors Beobachtung zu Herzen, die ich hier paraphrasiere: »Man wird keine große Geschichte schreiben können, wenn man keine kleine schreiben kann.« In »Lullaby Road« habe ich die brutale internationale Marginalisierung von Kindern auf eine kleine Geschichte reduziert, die in der Wüste spielt, um eine globale Geschichte zu erzählen. Wie Ben reagiert, was er und eine Handvoll anderer für ein Kind tun, ohne den Anstoß der Religion und unter großen persönlichen Risiken, macht den Unterschied. Jede Entscheidung, die wir als Individuen treffen, ist wichtig. Dies wird in der Wüste viel offensichtlicher, wo Ursache und Wirkung, Aktion und Konsequenz klarer sichtbar sind.

Ihre Romane werden zwar der Kriminalliteratur zugerechnet, sind aber alles andere als übliche Krimis. Was ist Ihr persönlicher Bezug zur Kriminalliteratur? Lesen Sie Krimis? Welche Autoren mögen Sie besonders?

Es war einer dieser seltsamen Zufälle, dass meine Liebe zu Krimis mit Friedrich Schleiermacher begann, einem deutschen Theologen aus dem 18. Jahrhundert. Lassen Sie mich das erklären. Als Student kämpfte ich mich durch Schleiermachers »Über die Religion«, während ich mir den Collegebesuch mit Nachtarbeit in einem 24-Stunden-Store finanzierte. Spät nachts, als Belohnung für das Überstehen einer Seite von Schleiermacher, griff ich dort zum Taschenbuchregal und las eine Seite aus einem beliebigen Krimi. So entdeckte ich die Travis-McGee-Detektivserie von John D. MacDonald und zahlreiche andere Autoren. Das führte mich zu Raymond Chandler, Dashiell Hammett und immer weiter zu Zeitgenossen, die ich bewundere, wie Robert B. Parker und James Lee Burke, C. J. Box, Sara Paretsky, John LeCarre und natürlich den verstorbenen Janwillem van de Wetering. Ich habe ziemlich viele Übersetzungen gelesen. Es gibt so viele. 

Sie schrieben aber keine Krimis in der Art dieser Autoren.

Bedauerlicherweise sieht es so aus, dass ich nicht fähig bin, einen traditionellen Krimi oder Thriller zu schreiben. Bei Gott, ich habe es versucht! Deshalb wurde ich von Verlegern und Agenten so heftig und regelmäßig abgelehnt. Meine Romane passten nicht. Ich bekam Ablehnungsschreiben mit Aussagen wie, »wir suchen den nächsten Lee Child« oder «wir wollen Mysterys (Krimis), und das einzige Mysterium ist hier, warum Sie uns das geschickt haben«. Ich versuche den besten Roman zu schreiben, den ich schreiben kann, und ich stimme mit Faulkner überein, dass alle belletristischen Werke im Grund Mysterys sind. Ich bin jeden Tag wieder verblüfft über und dankbar für den Erfolg meiner Romane bei den Kritikern, und ich bin sicher, dass es in der Verlagswelt einige gibt, die ebenso überrascht sind. (lacht)

Sie haben schon verschiedene Autoren erwähnt, die Ihnen wichtig sind. Sie sind ja ein Vielleser; gibt es weitere Autoren, die Sie inspiriert haben?

Ich lese viel, ja, und das komplett unabhängig vom Genre. Ich glaube nicht wirklich an Genres. Ich lese, weil ich eine gute Schreibe, eine gute Geschichte mag, und das bedeutet, dass ich mich nicht darum kümmere, ob es sich dabei um Jugendbuch, Horror, Fantasy oder was auch immer handelt. Auf der Literaturliste meines Lebens würden, in keiner bestimmen Reihenfolge, stehen: Twain, Turgenew, Hugo, Márquez, Tschechow, Bulgakow, Pynchon, Terry Southern, Bruce Jay Friedman, Martin Amis, J. P. Donleavy, Colum McCann, Michael Chabon, Luis Alberto Urrea. Einen Autor möchte ich hier besonders erwähnen, den ich in meine Top Ten aufnehmen würde: Goethe, den mein Protagonist Ben Jones gegen Ende meines ersten Romans, »Desert Moon«, paraphrasiert: »Es gibt nur wenige Menschen, die eine Phantasie für die Wahrheit des Realen besitzen.« Dieses Zitat findet sich in Goethes offenbar letztem Buch, das eine Sammlung von Gesprächen mit einem jungen Dichter ist, der ihn im letzten Jahr seines Lebens oder so besucht hat. So seltsam es scheinen mag, in Bezug auf die Inspiration kann ich mir nicht vorstellen, dass meine Romane ohne die Werke von Goethe, Rilke, Twain, Eudora Welty, Willa Cather, Márquez und Bulgakow existieren könnten. Jeder dieser Autoren inspiriert mich jeden Tag auf neue und aufregende Weise.

Wird es einen weiteren Roman mit Ben Jones geben? Oder haben Sie andere Buchprojekte?

Vor kurzem hätte ich wohl noch »vielleicht« gesagt. Jetzt ist die Antwort ein klares Ja. Ich arbeite zurzeit am dritten Ben-Jones-Roman, der den bereits erwähnten überspannenden Handlungsbogen vervollständigt. Diese Romane sind aber nicht als »Fortsetzungen« gedacht, obwohl sie natürlich miteinander zu tun haben. Jedes Buch kann als eigenständiger Roman gelesen werden, wobei sie zusammen eine größere Geschichte bilden, ähnlich wie ein Triptychon, aber nicht wirklich wie eine Trilogie.

Haben Sie auch andere Buchprojekte?

Ja, ich arbeite auch an einem langen Roman, der sich komplett unterscheidet von allem, was ich jemals veröffentlicht habe, sowie an Memoiren und auch an einer Sammlung von Kurzgeschichten. Ob eines dieser Bücher jemals veröffentlicht wird, weiß ich nicht, obwohl ich sie schreiben werde. Meine Hauptaufmerksamkeit gilt jedoch im Moment dem dritten Ben-Jones-Wüstenroman mit dem vorläufigen Titel »The Red Highway Home«. Alle thematischen Fäden und Figuren der vorangegangenen Romane werden zu einer neuen Geschichte verwoben, die, so hoffe ich, schließlich zufriedenstellend sein wird. Zum Glück oder leider, je nach Geschmack des Lesers, ist der Einsatz viel höher und die Gefährdung der Figuren und das Crescendo der Gewalt werden zwangsläufig gesteigert. Wie der Zen-Meister sagt: »Wir werden sehen.«

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