Geschrieben am 14. März 2018 von für Crimemag, CrimeMag März 2018, Interview

Interview: Tobias Gohlis spricht mit Marcie Rendon

1229_Cover_Rendon_Fluss_TB.inddHintergründe

von Tobias Gohlis

Am Roten Fluss ist ein großartiger Kriminalroman mit einer Heldin, die meines Wissens einzigartig in der Kriminalliteratur ist: eine junge indianische Frau. Und die Autorin Marcie Rendon ist eine Native American. Am Roten Fluss ist ihr erster Roman. Heldin ist die 19jährige Cash, der es gelungen ist, mit Hilfe von Sheriff Wheaton ein selbständiges Leben als Landarbeiterin zu führen, nachdem sie von ihrer Mutter getrennt und in die Pflegschaft weißer Farmerfamilien gegeben wurde. Dieses Pflegschaftssystem ist das „wahre Verbrechen“, von dem der Roman handelt, obwohl es auch zwei Morde gibt, zu deren Aufklärung Cashs spezielle Fähigkeiten und local knowledgede gebraucht werden. Das Interview über diese Hintergründe haben wir per Mail geführt.

Dear Marcie,
Am Roten Fluss scheint auf persönlichen und kollektiven Erfahrungen zu beruhen. Wie viel von dem, was die 19-jährige Cash erlebt, ist autobiographisch? Sowohl Cash als auch Sie haben beispielsweise 1971 begonnen, an der Moorhead State University in Minnesota zu studieren.

Am Roten Fluss ist Fiktion, aber wie die meisten anderen Autoren habe ich auf etwas zurückgegriffen, was ich kenne. Die Geschichte einer Jugendlichen, die unter Pflegschaft aufwuchs, ist nur allzu häufig geschehen und bei fast allen ähnlich verlaufen.

Ich stamme aus der White Earth Reservation im nördlichen Minnesota und wuchs auf Farmen im Red River Valley auf (wie Cash, die nach einem Autounfall im Alter von drei Jahren von ihrer Mutter getrennt wurde). Ich kenne das Land und die Verhältnisse. Ich spiele auch Poolbillard, leider nicht so gut wie Cash. Ich kann nur davon träumen, ein Pool-Hai zu sein wie sie.

Wie aus den biographischen Angaben der University of Minnesota zu erfahren ist, haben Sie in zwei Fächern einen Bachelor gemacht, in Criminal Justice (polizeiliche Verwaltungswissenschaft) und in American Indian Studies. Nachdem Sie jetzt, nach einem erfahrungsreichen Leben, Ihren ersten Kriminalroman geschrieben haben, können Sie mir vielleicht noch besser als früher den Zusammenhang zwischen den beiden Disziplinen erklären.

Marcie Rendon by Rebecca McDonald

Ich habe einen Kriminalroman geschrieben, weil das die Bücher waren, die ich gelesen habe. Meine Lieblingsautoren sind John Sandford aus Minnesota mit seiner Prey-Serie und Lee Child mit seiner Jack-Reacher-Serie. Ich bin auch ein großer Fan von Stephen King und von Henning Mankell. Ich war immer schon fasziniert von Geist und Seele derer, die ohne weiteres ihre Menschlichkeit aufgegeben haben. 
Als ich in Moorhead State studierte, wurde von einem Native student wie mir erwartet, a) Lehrer b) Anwalt oder c) Sozialarbeiter zu werden, nach Hause zurückzukehren und unseren Leuten zu helfen. Meine Abschlüsse sollten mich darauf vorbereiten, als Anwalt nach White Earth zurückzugehen. Wie auch immer: ich nahm einen anderen Weg, gründete eine Familie und ging nicht an eine weiterführende Law School. Ich arbeitete als ausgebildete Therapeutin mit Sexualstraftätern und Opfern von sexuellem Missbrauch, und bereitete später im staatlichen Gefängnissystem Gefangene auf ihre Entlassung vor.
Obwohl der Mord an Tony O in Am Roten Fluss das Ereignis ist, das die Handlung vorantreibt, ist meiner Ansicht nach das wahre Verbrechen im Roman die Misshandlung Cashs im System der staatlichen Pflegschaft. Misshandelt von Leuten, denen sie anvertraut worden war, um für sie zu sorgen, sie zu beschützen und zu ernähren.

Wussten Sie von Beginn an, dass Am Roten Fluss ein Kriminalroman werden würde?

Meine ursprüngliche Intention war, eine Geschichte über eine junge Frau zu verfassen, die Gedichte schrieb und Lust hatte, Country Western zu singen. Deshalb dachte ich, ich würde von einer Reise nach Nashville, Tennessee, erzählen. Aber da tauchte Cash auf und sagte: No, erzähl die Story auf meine Weise.
Ich hatte vorher schon zwei vollständige Kriminalromane verfasst. Sie waren so schlecht, dass sie wohl nie veröffentlicht werden, es sei denn, ich mache mich noch ernsthaft an ihre Überarbeitung. Daher hatte ich eine Ahnung, wie ich Cashs Mordgeschichte handhaben könnte, als sie sich mir aufdrängte.

Sheriff Wheaton scheint ein Weißer zu sein, seine Geschichte wird aber nicht erzählt. Er ist Cashs Mentor und Beschützer, er behandelt sie wie ein Vater. Hatten Sie selbst einen solchen väterlichen Beschützer? Oder entspricht die Figur Wheatons eher einem Idealbild,  wie gute weiße Leute Native Americans behandeln sollten?

Im zweiten Band der Serie mit Cash, dessen ersten Rohentwurf ich gerade fertiggestellt habe, wird mehr über Sheriff Wheatons Identität verraten. Als ich jung war, gab es niemanden dieser Art in meinem Leben. Alle Kinder, die in gewalttätigen und Missbrauchsfamilien aufwachsen, hoffen auf jemanden wie Wheaton. Ja, er ist die Wunschprojektion einer Person, die kommen wird, um den Missbrauch zu beenden.
Aber ich habe Wheatons Verhalten nie als Vorbild für den wünschenswerten Umgang von Weißen mit Native Americans gesehen. Meine viel weitreichendere Intention war zu zeigen, dass alle Erwachsenen auf das Wohl derer achten sollten, die schwächer oder verletzlicher sind als sie selbst.

In einem Porträt von Ihnen heißt es, sie wollten mit Ihrer Kunst (Lyrik, Songs, Theaterstücke, Kinderbücher und jetzt auch Kriminalromane)  „Spiegel für American Indians und andere schaffen, in denen sie neue Bilder von sich selbst entdecken können.“ Was haben Native Americans, Ihr Hauptpublikum, von Am Roten Fluss, mal abgesehen vom Unterhaltungswert? Die Unterdrückung und das Leid, das Cash erfährt, kennen sie ja zur Genüge.

am1aSehr viel von unserer Geschichte und Identität ist aufs Engste mit dem Generationentrauma verknüpft, das wir erlitten haben. (Gemeint ist die systematische Zerreißung der indianischen Familien durch das Pflegschaftswesen.) Dieser Roman, hoffe ich, zeigt am Beispiel Cashs die Widerstandskraft und Stärke, die unsereins als Native People entwickeln kann.

Und haben Sie den Eindruck, dass ihr weißes Publikum in den USA versteht, was Sie ihm erzählen?

Ich hoffe, das die Weißen USers  die unterhaltende und spannende Seite des Plots genießen und außerdem Cash als widerstandsfähige und tapfere junge Frau erkennen, die aller Feindseligkeit trotzt, mit der sie aufgewachsen ist. Das ist eine Einsicht, die allen Lesern möglich ist: Wenn man am Leben teilhat, auf eine sinnvolle Weise, kann man vom Trauma der Vergangenheit geheilt werden. Und dass jeder von uns jemanden (wie Wheaton) an seiner Seite braucht.

Als Linker würde man argumentieren, dass die weißen Landarbeiter besser mit ihren indianischen Kollegen gemeinsam kämpfen sollten anstatt sie zu hassen und sich in eingebildeter Überlegenheit zu sonnen. Würden Sie diese Ansicht teilen oder eher denken, dass die realen Umstände die Solidarität der Arbeiter verhindern?

Hier in den US haben die Native People die Rolle des Kanarienvogels in der Mine. Kennen Sie den Ausdruck? Bergarbeiter testeten die Luft unter Tage mit Kanarienvögeln. Wenn der Kanarienvogel starb, war die Mine nicht für Menschen geeignet.
Es ist anerkannt, dass alle die Strategien, die in den USA gegen die Native People entwickelt wurden, ebenso auch gegen andere Leute angewendet werden können. Beispielsweise die Gesetzgebung, die das übergeordnete Zugriffsrecht des Staates an Grund und Boden (eminent domain) regelt. Mit Berufung darauf hat die Bundesregierung uns unser Land genommen. Besonders die Farmer sagten, dass ihnen so etwas niemals passieren wird. Aber man muss nur auf den Tagebau und das Bakken Ölfeld in North Dakota (gewaltiges Fracking-Programm, TG) schauen, um zu sehen, wie die Regierung dieses Recht sogar gegen Non-Natives anwendet.
Ich bin davon überzeugt, dass es die Ureinwohner und indigenen Völker auf der ganzen Welt sind, die tatsächlich eine Antwort auf die globale Erwärmung haben. Wir wissen seit undenklichen Zeiten, wie man in Balance mit der Erde lebt. Der Rest der Menschheit hat eine Menge von uns zu lernen.

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Im Nachwort zur deutschen Ausgabe von Am Roten Fluss loben Sie den Indian Child Welfare Act von 1978, der den Kindern indianischer Nationen einen besonderen Schutzstatus verleiht. Ein Gesetz, das es 1970 noch nicht gab. Halten sie das Gesetz für ausreichend? Was müsste noch getan werden, um den indianischen Kindern eine gute Kindheit zu erlauben?

Der Indian Child Welfare Act ist aus schierer Notwendigkeit entstanden. Er muss strikt eingehalten werden. Das ist bis heute leider nicht immer der Fall. Und was muss sonst getan werden? Gebt uns unser Land zurück. Finanziert die Programme zum Lernen unserer ursprünglichen Sprachen. Stoppt die massenhafte Inhaftierung von Natives.
Ich bin sehr dankbar, dass Leute außerhalb der USA mein Buch mögen.

Marcie Rendon: Am Roten Fluss. Aus dem Amerikanischen Englisch von Laudan&Szelinski. Ariadne Verlag, Hamburg 2018. 226 Seiten, 13 Euro, ebook 8,99 Euro.

(Dieses Interview erschien zuerst auf dem Blog von Tobias Gohlis, der Sprecher der Krimibestenliste – mit freundlicher Erlaubnis des Autors.)

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