Geschrieben am 1. November 2020 von für Crimemag, CrimeMag November 2020

„Im Augenblick der Freiheit“

„Lebe Grösser!“

Alf Mayer über Burghard Schlichts monumentalen Film- & Liebesroman „Im Augenblick der Freiheit“

Gleich im ersten Kapitel sinniert eine der Hauptfiguren über das kleine Kino, das er bald aufmachen will, und über den Film an sich. Als Leser weiß man das zu Beginn der Lektüre noch nicht, aber die hier zitierte Stelle auf Seite 14 verrät auch so etwas wie das Programm des Buches. „Im Augenblick der Freiheit“ des Frankfurters Burghard Schlicht ist tatsächlich ein Roman wie ein Film im Kino. Die Buchdeckel sind seine Wände, der Himmel darüber grenzenlos, die Ambitionen gewaltig.

„Das Kino zeigt dir die vergängliche Welt, in der wir leben. Deswegen geht von ihm diese unwiderstehliche Melancholie aus, weil der Augenblick, den die Bilder des Kinos zeigen, zwar präsent, aber schon vergangen ist. Du spürst die Gegenwart unmittelbar und weißt zugleich, es ist schon vorbei. Das ist nicht traurig, sondern auf rührende Art melancholisch, das ist der Atem des Lebens, der Natur und ihrer Bewegungen in der Welt, die dich auf merkwürdige Weise verzaubern, weil sich der Blick öffnet auf Plätze, auf denen es von Menschen wimmelt, auf überfüllte Straßen, auf Gesichter, die alle schon nicht mehr so sind. Momente, in denen du endlich das Zittern der im Wind sich regenden Blätter wahrnehmen kannst.“

Gottfried, 55 und Augenarzt – das ganze Buch hat mit Sehen zu tun, auf einer zweiten Ebene mit Sprache, auf einer dritten mit Liebe und der vierten mit den Irrwegen der Weltverbesserung und Revolution – ist der Protagonist dieses ersten Kapitels. Es ist Mittag und er geht in seine Stammkneipe, unterhält sich mit dem Wirt. Das Gespräch kommt schnell auf einen gerade gestorbenen gemeinsamen Bekannten, einen Filmregisseur. Schon wieder einer, der den Löffel abgegeben hat. Unvermeidlich, dabei an den ersten zu denken, den es erwischt hat, an den überproduktiven Kantlehner. Mit 28 gestorben, 24 Filme gedreht, vielleicht auch nur 18, mehr aber auf jeden Fall, als es Sterblichen sonst möglich ist. 

Gottfrieds Stammlokal liegt in der Osmanenstraße. Wir befinden uns „in der Landeshaupt“. Burghard Schlicht setzt viele Namen und Orte seines Romans eine knappe Handbreit neben die Realität, natürlich ist es München und ist die Osmanen- die Türkenstraße. Für weite Teile des Romans sind wir in der Schwabinger Filmszene von 1970. Deren irrwitziges Kraftzentrum war Rainer Werner Fassbinder. Dennoch ist das Buch, ganz anders als etwa Oskar Roehlers aktueller Film „Enfant terrible“, kein Schlüsselroman, kein weiterer Exegese-Versuch, keine Fassbinder-Hommage. (Eines der besten Bücher dazu übrigens: „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“ von Harry Baer, 1983.)

In einem informativen Gespräch mit Daniela Baumgartner im „Kulturcafé“ von HR 2 erklärte Burghard Schlicht, wie er auf den Namen für „seinen“ Regisseur kam: „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, für ihn einer der besten Filme Fassbinders, daraus den Namen und Peter als Vorname entlehnt, zu Hans-Peter gemacht, ergibt Kantlehner, den Großen Kantlehner. Über den sei viel gesagt, geschrieben und interpretriert worden, heißt es im Roman. „Seine Feinde – und davon gab es anfänglich mehr als Freunde – meinten, er brauche dringend ein Deodorant, andere dachten, seine Filme könnten mehr Handlung vertragen. Was ihm fehle, glaubten wiederum andere, sei der revolutionäre Schwung, da sei zu viel kleinbürgerliche Sehnsucht, rein persönlich empfundenes Unglück. Andere dagegen versicherten, er sei ein Berserker, berühmt für seine produktive Schlaflosigkeit. Seine Verehrer – und die wurden rasch immer mehr – hielten ihn für einen großen Künstler, für einen unersättlichen Macher, ja, sogar für ein Genie.“

Einen Teil des Vergnügens an diesem mit weitem Atem angelegten Buch macht seine Nähe zu tatsächlichen Begebenheiten und Personen und Filmen aus. Hat es so etwas wie die „Nordbadkommune“ tatsächlich gegeben? An wen erinnern die Regisseure Fürstenau und Franz Regler? Könnte der Ausstatter Carl Maria Geyer, genannt Carlchen, an Kurt Raab angelegt sein? Wer war die Inspiration für Sonny Finn, den „Belmondo von Milbertshofen“, der eigentlich Joseph Lechner heißt und Apothekersohn ist? Burghard Schlicht hat damals, 1970, ein halbes Jahr in der Antitheater-Kommune gelebt, war bei drei der sieben Filme, die Fassbinder in diesem Jahr drehte, dabei. Er wollte immer schon zum Film, fand sich dann schon schnell als Schauspieler, sogar als Hauptdarsteller, liebte es, Ausstattung zu machen. Es waren lange Tage und Nächte, oft bis 4 Uhr. Aber, wie es im Roman heißt: „Wir waren jung und unsterblich damals – als wir ‚Schmutzige Stadt’ drehten.“ (Weiteres zu Schlichts Biographie im PS.)

Das Buch verliert sich jedoch nicht in Nostalgie und im Schwelgen von der guten alten Zeit, als die Weltrevolution zum Greifen nah und alles möglich schien. Schlichts Haupterzählstrang ist der einer Nachgeborenen, nämlich der jungen Amerikanerin Rebecca, die in Erfahrung bringen will, wer ihre verschollene Mutter Jenny war, damals Mitglied der Filmkommune. Zusammen mit ihr begegnen wir den Protagonisten von damals, setzt sich das Puzzle einer halb verlorenen, halb arrivierten Generation zusammen, wird zu Teilen zu einem etwas anderen 68er-Roman, stellt sich aber die eigenen, die immer großen Fragen: die nach der besseren Welt, die nach der Liebe und was sie eigentlich ist. Hier passt die Fassbinder-Allegorie ganz hervorragend. Der nämlich sah Liebe als Schwäche – wer liebt, verliert, nur den Raubtieren gehört die Welt –, der Roman aber zeigt uns: Wer liebt, ist stark.

Eigentlich gehört zu dem manchmal barock-prallen Roman ein Soundtrack. Lou Reeds „Walk on the Wild Side“ ebenso dabei wie die Chansons von Yves Montand. Und mit breiter Präsenz im Buch, Jamaica. Hierzu natürlich Bob Marleys „Is this love, is this love, is this love, is this love that I’m feeling?“ Schlicht ist ein Drehbuchautor und Filmemacher, schreibt filmisch. Wie sein Protagonist Gottfried ist er es gewohnt, „in Kameraeinstellungen zu blicken“. Kapitel 5 zum Beispiel, mit „Ein weißer Cadillac“ betitelt, beginnt so: „Schnelle Aufblende aus dem Schwarz – außen Tag, steil von oben gesehen (Flugaufnahme) blicken wir auf eine sonnenbeschienene Stadtlandschaft. Ein großes weißes Cabriolet fährt über eine Allee in die Landeshauptstadt hinein …“

Ein Buch also, das einen fortträgt wie die Filme im Kino. Ein Buch, in dem wir auch über das Licht im Film lernen, den richtigen Gang und das Küssen vor der Kamera, über bessere Weltentwürfe, Städte der Zukunft und Revolutionäre, über die Rasta-Kultur oder die Sprache eines indigenen Volkes in Alaska, die nur noch von 700 Menschen gesprochen wird, über Marrakesch und die bayerische Provinz, über die Fabeln der Maroons auf Jamaica und indianische Schöpfungsmythen, über Liebesunordnung und wirkliche Freiheit. Zu den Szenen des Buches gehört Sex im Schlafzimmer der Eltern ebenso wie die Fahrt mit einem Facel Vega, „dem damals schnellsten und schönsten Auto der Welt“.  Zwischendurch profitieren wir von der Erfahrung des Autors als Weinkenner, begegnen etwa dem süffigen Lagrein Kretzer. Überhaupt ist dies ein pralles Buch der Sinne und der Lebenslust, dramaturgisch an die Kante einer Zeit gesetzt, die der heutigen gespenstisch ähnelt. Burghard Schlicht begann seinen Roman 2012 und siedelte die Haupterzähl-Linie im unmittelbaren Nachbeben des Terrorschlags von 9/11, dem Einsturz der beiden Türme des Word Trade Centers am 11. September 2001 an. Es war eine Zeit, in der die Flugzeuge nicht mehr flogen und das Reisen eingeschränkt, in der die Welt bis ins Mark erschüttert war.

„Im Augenblick der Freiheit“ blickt den Abgründen unserer Zivilisation und dem, was uns Menschen miteinander verbindet, ins Auge. Nimmt den Puls. Das macht es zu einem starken Stück Literatur.

Alf Mayer

Burghard Schlicht: Im Augenblick der Freiheit. Ein Roman wie ein Film. Verlag Olga Grueber, Frankfurt 2020. 528 Seiten, 26 Euro. – Internetseite des Autors: www.burghard-schlicht.de

P.S. Burghard Schlicht, Jahrgang 1946, lebt in Frankfurt und  Céret/ Südfrankreich, er hatte die meiste Zeit seines Lebens mit Filmen zu tun: als Darsteller, Drehbuchautor, Fernsehjournalist und Regisseur. Er lernte bei Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders und anderen Regisseuren des Neuen Deutschen Films – als Darsteller (auch Hauptrollen) und als Ausstatter, studierte dann Soziologie in Frankfurt. Seine Abschlussarbeit hatte den „Loser als Antiheld“ im amerikanischen Film zum Thema. Seine Artikel und Essays erschienen in „medium“ und dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Transatlantik“, in epd-Film, Pflasterstrand, Spiegel und stern. Sein Spielfilm „Der „Schönste“ von 1989 ist einer der besten Filme über Frankfurter Bahnhofsviertel. Ab 1990 arbeitete er regelmäßige für Kulturmagazine und Philosophiereihen im Fernsehen. Es entstanden mehr als vierhundert Beiträge, darunter Interviews mit fast dem gesamten Weltgeist. 
Legendär: seine große Reportage „Armer deutscher Film“ über den Neuen Deutschen Film, im Januar 1981 unter dem Pseudonym „Olga Grüber“ in „Transatlantik“ erschienen.

Burghard Schlicht

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