Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Hartl on Highsmith: Alles Stümper, diese Männer

Gert Fröbe als Kimmel beim Verhör (c) Pidax Filmverleih

In dem zweiten Teil ihrer Annäherung an Patricia Highsmiths schriftstellerisches Werk beschäftigt sich Sonja Hartl mit dem Roman „Der Stümper“.

Unerwartetes Wiedersehen

Ein Mann steht an einer Kinokasse in der Schlange und schaut sich um, ob er einen Bekannten sieht. Dann kauft er ein Ticket, ist ausgesucht höflich zu der Kassiererin und geht in den Saal. Schon hier dachte ich, dass mir das alles so bekannt vorkommt. Ich sah es regelrecht vor mir – und zwar nicht nur, weil Patricia Highsmith, wie es immer so schön heißt, „filmisch“ schreibt. Es war tatsächlich so als liefe ein Film in meinem Kopf. Ich hatte sogar Eddie Marsan vor Augen. Als sich dann einige Seiten später noch Jessica Biel dazu gesellte, war mir klar: nicht mein Vorstellungsvermögen spinnt, ich habe eine Verfilmung des Romans gesehen. Und tatsächlich: Patricia Highsmiths „Der Stümper“ („The Blunderer“) wurde 2016 unter dem Titel „A Kind of Murder“ verfilmt – und den Film hatte ich damals auf dem Filmfest München gesehen und sogar besprochen.

Zwei Männer, ein Mörder

„Der Stümper“ ist die Geschichte zweier Männer. Der erste Mann, der Kinobesucher, ist der Buchhändler Melchior Kimmel, der sich in dem Kino ein Alibi verschafft, um anschließend seine Frau Helen zu ermorden. Es ist eine nahezu perfekte Tat: Ein Nachbarsjunge hat ihn gesehen, er hat unbemerkt das Kino verlassen, ist zu dem Zwischenhalt des Buses gefahren, mit dem seine Frau unterwegs war, und hat sie dort erschlagen. Von dieser Tat liest nun der zweite Mann, Walter Stackhouse, in der Zeitung und hebt den Artikel auf. Stackhouse ist Anwalt und unglücklich verheiratet mit Clara. Er will sich von ihr trennen, aber sie weigert sich, droht mit Selbstmord, erpresst ihn emotional. Schließlich fasst er den Entschluss, dass die Ehe beendet werden muss – zumal er bereits eine Affäre mit einer netteren Frau angefangen hat.

Stackhouse tut nun eine Reihe wirklich töpelhafter Dinge: Er sucht Kimmel in seiner Buchhandlung auf, weil er ahnt, dass dieser einen Mord begangen hat und ihn aus der Nähe sehen will. Als Clara dann ebenfalls mit dem Bus verreist, um ihre Mutter zu besuchen, folgt er dem Bus aus einem Impuls heraus und beginnt an der Haltestelle, an der Helen Kimmel ermordet wurde, nach seiner Ehefrau zu suchen. Aber er findet sie nicht und kehrt deshalb wieder nach Long Island zurück. Am nächsten Morgen dann erfährt er, dass die Leiche seiner Frau gefunden wurde. Es könnte Selbstmord gewesen sein – Clara hatte zuvor schon versucht, sich das Leben zu nehmen. Doch Stackhouse tut weiterhin alles, um möglichst verdächtig zu wirken: er lügt, verheimlicht und rechtfertigt sich. Also gerät er in das Visier des ruchlosen Ermittlers Corbyn, der nicht sonderlich an der Wahrheit interessiert ist. Er will zwei Mörder überführen, die in seinen Augen schlichtweg schuldig sind: Stackhouse und Kimmel.

Abzeichnende Muster

Die Konstellation zweier Männer, die miteinander in Verbrechen verstrickt werden, erinnert an „Zwei Fremde im Zug“. Insbesondere Stackhouse hat Züge von Guy Haines. Er lebt ein privilegiertes Leben in Long Island und scheut sich davor, tatsächlich die Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen. Er lügt und verheimlicht wichtige Dinge solange selbst vor den einzigen Menschen, die noch zu ihm stehen, dass er am Ende ohne Freunde dasteht. Er sabotiert gewissermaßen sein eigenes Leben. Dagegen hat Kimmel das große Elend seines Lebens – seine Ehefrau – tatkräftig beseitigt und will nur in Ruhe sein Leben leben. Es ist Stackhouse, der ihn wieder ins Visier der Polizei bringt.

Andy Goddard in „A Kind of Murder“ (c) Universum Film Home Entertainment

Als Gegenfiguren sind Stackhouse und Kimmel klug konstruiert, ihre Gegensätzlichkeit wird schon in den ersten beiden Kapiteln deutlich. Das erste Kapitel erzählt von Kimmels Mord an seiner Ehefrau, in dem zweiten Kapitel ist Stackhouse dann mit Clara auf einer Reise in Neuengland. Er sieht die weißen Häuser und erkennt eine Ortschaft, „in der man ein gesundes gutmütiges Mädchen heiratet, mit dem man in einem weißen Haus lebt, samstags angeln geht und die Söhne zum gleichen Lebensstil erzieht.“ Seine Frau Clara hat ein anderes Wort dafür „grauenhaft“ – im Text ebenfalls kursiv hervorgehoben. Mit diesem einzigen Wort wird nicht nur Stackhouses‘ Sentimentalität und kitschige Vorstellung entlarvt, es verweist auch auf Claras dominante, bestimmende Stellung in dieser Beziehung. Sie ist schön, sie ist erfolgreich – und Stackhouse schildert sie als kalt und grausam. Er ist regelrecht ängstlich bemüht, ihr alles recht zu machen, beobachtet jede noch so kleines Anzeichen für Verärgerung in ihrem Gesicht. Dieser Druck führt dazu, dass er darüber nachdenkt, sie zu ermorden – was wiederum zu der Hauptquelle seines schlechten Gewissens wird, nachdem sie tatsächlich stirbt.

Ein „komplexer“ Bösewicht?

Dagegen hat Kimmel das gemacht, was nur wenigen gelingt: Er hat einen Mord begangen und ist dann seelenruhig in sein normales Leben zurückgekehrt. Zwar gibt es Anzeichen für eine Mordlust: „Er empfand nichts als blanke Freude, ein glorreiches Gefühl der Gerechtigkeit, gerächter Kränkungen, Jahre der Beschimpfung und der Schande, der Langeweile, des Stumpfsinns, vor allem des Stumpfsinns, die er ihr heimzahlte“– aber lange Zeit hat er sich unter Kontrolle.

Paul Ingendaay erkennt in seinem Nachwort in Kimmel eine „komplexe Figur“, bei der Highsmith den „pittoresken Wert des Bösewichts“ ausbalanciert habe. „Sie nimmt also dem Ungewöhnlichen das Sensationelle und schützt ihre Figur damit vor einem ästhetisierten Klischee des Bösen, wie es in der populären Kultur – nicht erst seit der seriellen Wiederkehr eines Hannibal Lecter – üblich geworden ist.“ Hinsichtlich des ästhetisierten Klischees würde ich sogar noch einen Schritt weitergehen und in Kimmel bereits Anlagen der späteren Serienmörder im Stile Lecters sehen: Abgesehen von seinem wenig attraktiven Äußeren ist Kimmel kultiviert, er sucht Konversationen mit gebildeten Leuten, kennt sich aus – und hat erstaunliche Essensvorlieben. Sicherlich ist er eine komplexere Figur als manch anderer Bösewicht in Kriminalgeschichten – vergleicht man ihn jedoch beispielsweise mit Dix Steele aus Hughes „In a lonely place“ aus dem Jahr 1946, dann fällt vor allem auf, wie allenfalls zaghaft Highsmith historische oder gesellschaftliche Verstrickungen benennt. Das Böse erwächst bei ihr aus der Figur, weniger aus den Bedingungen, in denen sie lebt. Folgt man diesem Gedanken, tritt noch klarer hervor, wenig zeitgebunden, ja, fast schon ahistorisch das Buch ist. Politische oder gesellschaftliche Veränderungen scheinen die Figuren nicht zu belasten oder zu beeinflussen – das hat Thomas Wörtche bei den Ripley-Romanen bereits konstatiert: „Mit irgendeiner Wirklichkeit nach und jenseits McCarthy haben ihre Romane nichts zu tun, auch wenn sie in den 1960ern, 1970ern oder 1990ern spielen“. Und für die 1950er Jahre, in denen „Der Stümper“ entstanden ist, trifft das ebenfalls zu. Allenfalls der Klassismus wird leicht angesprochen, wenn Kimmel Stackhouse um sein Haus beneidet. Kimmel lebt in Newark, New Jersey, einer Working-Class-Gegend, die ganz anders ist als das mondäne Long Island von Stackhouse.

Krise der Männlichkeiten

Es sind zwei völlig verschiedene Typen von Männlichkeit, die Highsmith hier entwirft: da ist der „amerikanische“ WASP-Mann, dessen Schwäche gegenüber seiner Ehefrau auch seine Maskulinität als schwach markiert. Er schreitet nicht zur Tat, er handelt nicht – vielmehr handelt seine Ehefrau, indem sie sich selbst tötet. Dagegen wird der Einwanderer Kimmel aktiv und tötet seine verhasste Ehefrau. (Die ganze Beschreibung Kimmels erinnert an antisemitische Zeichnungen und Beschreibungen, interessant ist auch, dass er im Film unbenannt wurde – aus Melchior wurde Marty.) Aber auch seine Männlichkeit wurde empfindlich verletzt: Kimmel ist impotent, seine Ehefrau hat darüber nicht nur auf der Straße gesprochen, sondern ihren aktuellen Geliebten mit ins Haus gebracht.

Jessica Biel und Andy Goddard in „A Kind of Murder“ (c) Universum Film Home Entertainment

Die Grausamkeit der Ehefrauen besteht also in der Verletzung der Maskulinität ihrer Ehemänner. Stackhouse erfüllt die dem Klischee nach weiblich konnotierte Passivität in seinem Verhalten, bei Kimmel indes wird alles auf seinen Körper zurückgeführt. Er ist massig, wie ein Elefant, hat fleischige, entzündet wirkenden Lippen – schon diese Beschreibung erinnert zusammen mit seinem „fremdländischen“ Akzent an antisemitische Zeichnungen. Das offensichtliche Versagen seiner Männlichkeit besteht in der Impotenz, dazu kommt aber noch mehr. Als er von dem Polizisten Corby verprügelt wird, empfindet er auf Lust. „Kimmel begriff, daß er sich zutiefst weiblich vorkam, weiblicher, als wenn er die eigenen sinnlichen Kurven im Badezimmerspiegel beäugte oder sich manchmal beim Lesen lustvollen Phantasien hingab“. Diese Lust ist verbunden mit Schmerz, Gewalt und Erniedrigung, die Kimmel wiederum als weiblich ansieht.

Das sind aufschlussreiche Konzeptionen von Weiblichkeit und Männlichkeit: Sind die Ehefrauen kalt und grausam, weil ihre Männer schwach sind und ihre Erwartungen nicht erfüllt haben? Oder wurden die Ehemänner von ihren Frauen erst zu Schwächlingen gemacht? Da der Text perspektivisch bei den Ehemännern bleibt, liegt die zweite Möglichkeit näher. Darüber hinaus wird oftmals Patricia Highsmiths Biografie zur Erklärung dieser Konzeptionen angeführt. Jedoch passen sie zu den zeitgenössischen Vorstellungen von Männlichkeit, die oftmals von der Angst vor Verweichlichung (aka Weiblichkeit) geprägt ist. Eine Sorge, die bis in die Gegenwart nachhallt – in dem USA der 1950er Jahre aber ebenfalls ausgeprägt war. Für Kimmel und Stackhouse nimmt die Krise ihrer Männlichkeit jedenfalls keinen guten Ausgang.

Patricia Highsmith: Der Stümper. Übersetzt von Melanie Walz. 416 Seiten. Diogenes 2015.

Zwei Verfilmungen gibt es von diesem Roman:

„A Kind of Murder“. Regie: Andie Goddard. Drehbuch: Susan Boyd. Mit Eddie Marsan, Patrick Wilson, Jessica Biel, Haley Benett USA 2017. DVD bei Universum Film Home Entertainment.

„Der Mörder“. Regie: Claude Autant-Lara. Drehbuch: Jean Aurenche, Pierre Bost. Mit Gert Fröbe, Paulette Dubost, Maurice Ronet. Frankreich 1963. DVD erhältlich bei Pidaxfilm.

Der ersten Teil der „Hartl-on-Highsmith“-Reihe ist hier zu lesen.

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