Geschrieben am 15. April 2017 von für Comic, Crimemag

Graphic Novel: Guy Delisle: Geisel

41v+6zKsEkL._SX356_BO1,204,203,200_Licht, das über Wände kriecht

von Katrin Doerksen

Wer wie ich vor allem ein bisschen in das gezeichnete Alter Ego von Guy Delisle verliebt ist, muss sich in Geisel gleich auf der ersten Seite von ihm verabschieden. In seinen bisherigen Comics verarbeitete der Frankokanadier seine Eindrücke auf Reisen und als Begleiter der Ärzte ohne Grenzen, seine Erfahrungen als frisch gebackener Vater, seine Arbeit als Zeichner. Objektivität ist wohl generell nicht möglich im Fach des zeichnenden Dokumentierens, aber Guy Delisle treibt die Subjektivität für gewöhnlich zum alles bestimmenden Element. In beinahe jedem Einzelbild zeichnet er sich selbst, hält dabei durchaus uneitel seine Gedankengänge, seinen Blick auf die Welt fest, seine ironischen Kommentare, manchmal seine Albernheiten. Geisel beginnt mit ihm und Christophe André an einem Tisch. Zigarrenrauch kräuselt sich, ein Mikrofon steht bereit. Eine Aufnahmesituation: André erzählt, Delisle schreibt mit. Diese erste Seite funktioniert wie ein Disclaimer: die hier erzählte Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen. Das Äquivalent zum „Based on a true story“ vor Filmen, das oft nichts Gutes verheißt, weil manche Regisseure vor lauter Erzählen zu vergessen neigen, dass sie mit einem audiovisuellen Medium hantieren.

Geisel_9Zum ersten Mal fremdes Material

Zum ersten Mal also Delisle als Zeichner eines fremden Materials. Ab der zweiten Seite gibt es seine charakteristisch zugespitzte Hakennase nicht mehr zu sehen, nicht seinen runden Rücken, den knubbeligen Bauch, die Augen, die eigentlich nur zwei Punkte sind, aber doch rund genug, um die kindliche Neugier anzudeuten, mit denen sie in die Welt schauen. Dafür beginnt Geisel actionreich – mit einer Entführung nämlich. Christophe André wurde in der Nacht vom 01. auf den 02. Juli gekidnappt, als er sich 1997 auf seinem ersten Auslandseinsatz als Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen in Inguschetien aufhielt. Für 111 Tage blieb er in der Gewalt tschetschenischer Separatisten, saß in einem leeren Zimmer auf einer Matratze, einen Arm an die Heizung gefesselt.

Seinem beobachtenden Gestus bleibt Guy Delisle selbst bei einem derart düsteren Stoff treu. Kaum holt er Details heran, kaum umwirbt er seine Leser mit Effekten, stattdessen zeichnet er Totalen. Manchmal dreifach den gleichen Ausschnitt, nur das jedes Mal das Licht anders fällt. Die Entführungsszene ist nicht auf actionfilmhafte Überwältigung ausgelegt, nicht hard-boiled, vielmehr schafft Delisle die zeichnerische Grundlage für Beobachtungen aus einer distanzierten Warte heraus – trotzdem mit beklemmender Wirkung. Den Moment, als die Tschetschenen Christophe brutal aus dem Bett zerren, hält er aus einer Perspektive wie von einer Fliege in der obersten Zimmerecke fest.

Geisel_30Bericht aus dem Arbeitsprozess

Auf seiner Lesereise zu Geisel kommt Guy Delisle in Begleitung Christophe Andrés auch in Berlin vorbei. Gemeinsam zeichnen die beiden an diesem Märzabend in der verglasten Kantine des Ex-Rotaprint-Geländes im Gesundbrunnen viele Autogramme, kleine Guys und Christophes in mitgebrachte Bücher. Hier sitzt auch der Comicverlag Reprodukt, der Delisles Werke den deutschsprachigen Lesern zugänglich macht.

Nach einer kurzen Lesung berichtet der Zeichner von seinem Arbeitsprozess: Er wollte der Wahrheit nahekommen, deswegen ließ er sich alle Seiten einzeln von Christophe André abnehmen. Ein bisschen, was man eben sagt, wenn die Person daneben sitzt, die die Entführung wirklich erlebt hat. Das erklärt auch, warum es vom ersten Interview bis zum fertigen Buch fünfzehn Jahre gedauert hat. Geisel funktioniert trotzdem – und das ist das Schöne – nicht nur als Dokumentation eines tatsächlichen Ereignisses, based on a true story. Sondern auch losgelöst von der Verpflichtung gegenüber den Tatsachen – als Geschichte, als Comic. Streng genommen könnte man die Aussagen des Entführten mangels Zeugen ohnehin nicht bis ins kleinste Detail auf ihre Richtigkeit überprüfen.

Wie quälend langsam die Zeit verstreichen kann …

Wer weiterliest, wird den typischen Guy Delisle in Geisel auf jeder Seite entdecken, auch ohne die Figur mit der großen Nase. In Berlin spricht er davon, dass er sich während der Zeichenarbeit am Buch ähnlich Geisel_69an den Schreibtisch gefesselt fühlte wie Christophe André an seine Heizung – die eingesunkene Körperhaltung, protestierende Gelenke. Es sind aber nicht nur die physischen Konstitutionen der beiden Männer, die die Ähnlichkeiten ausmachen: schon in seinen vorherigen Comics beschäftigten Guy Delisle Themen wie Einsamkeit, Freiheit, Unfreiheit. Er irrlichterte allein durch Länder, in denen er kein Wort verstand. Rieb sich an der Konformität seiner regimetreuen Aufpasser in Nordkorea, kämpfte mit Langeweile in kargen Hotelzimmern. Geisel ist in kurze Kapitel aufgeteilt, die jeweils einem Tag in Gefangenschaft entsprechen. Nicht jeder Tag ist vertreten, aber auf über vierhundert Seiten ist Platz für Viele. Morgens und abends bringt jemand Suppe und Tee, ab und zu wird Christophe ins Bad geführt, viel mehr passiert eigentlich nicht. Zu Beginn zeichnet Delisle noch Sonnenflecken, die mit der verstreichenden Zeit die Wand entlang kriechen – später fällt bei vernagelten Fenstern sogar dieser Reiz weg, liegt alles in bläulichem Dämmerlicht. Faszinierend ist dann, was sich in Christophes erstaunlich rationalem Kopf abspielt: er verpasst seinen Kidnappern Spitznamen, konstruiert in Gedanken den Grundriss der Wohnung, ruft sich die Abläufe historischer Schlachten in Erinnerung. Dann greift erneut das Wiederholungsprinzip: das aktuelle Datum ins Gedächtnis rufen, Suppe, Tee, Badezimmer, Heizung. Es ist nicht immer leicht, bei Geisel dranzubleiben. Aber indem sich beim Lesen tatsächlich ein Gefühl dafür einstellt, wie quälend langsam die Zeit verstreichen, wie sich die Wahrnehmung verschieben kann, hat Guy Delisle nicht nur Christophe André einen Dienst erwiesen, sondern auch jedem, der das Buch aufschlägt und es bis zur letzten Seite schafft.

Katrin Doerksen

Guy Delisle: Geisel. Graphic Novel. Übersetzung: Heike Drescher. Reprodukt Verlag, Berlin 2017. 432 Seiten, 29 Euro.

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