Dinge, die wir alle kennen
Kleiner Einstieg in die Welt von George Simenon – drei Stichproben von Alf Mayer
Simenon bedeutet: Bücher für ein ganzes Leserleben. Mehr als 250 Romane unter seinem Namen hat er uns hinterlassen. Am 12. Februar 1903 in Belgien geboren, durch fast die ganze Welt gereist, zweimal geschieden, 1972 in den Pass „ohne Beruf“ eingetragen und sich zurückgezogen, starb dieser große Menschen-Porträtist und Kriminalschriftsteller im Alter von 86 Jahren am 4. September 1989. Lange Jahre erschienen seine Bücher im Diogenes-Verlag. Jetzt haben sich die Verlage Kampa und Hoffmann und Campe zur ersten deutschsprachigen Gesamtausgabe des erzählerischen Werks zusammengefunden. Die ersten Bände sind jetzt erschienen.
Das Vorhaben:
Alle 177 großen Non-Maigret-Romane in teils neuen oder vollständig revidierten Übersetzungen. Alle Romane mit Nachworten versehen. Pro Halbjahr ca. 10 dieser Romane, alle gebunden und mit Schutzumschlag. Kampa und Hoffmann und Campe teilen sich diese Edition.
Alle 75 Maigret-Romane und 28 Erzählungen mit teils neuen oder vollständig revidierten Übersetzungen, allesamt mit Nachworten versehen. Pro Halbjahr bei Kampa ca. 15 Maigrets, alle als Pappband für 14,90 Euro und ausgestattet mit Paris- oder Frankreichkarte als Vorsatzpapier, später als Taschenbuch im Atlantik Verlag.
Dazu eine Hörbuch-Edition ausgewählter Titel bei DAV Der Audio Verlag.
Außerdem erscheinen in beiden Verlagen ausgewählte autobiographische Schriften und Erstausgaben – etwa ein Bildband mit Simenons Fotografien, zwei Bände mit Gesprächen, darunter etliche deutschsprachige Erstveröffentlichungen, zum ersten Mal alle Texte von Simenon über Maigret, ein Band mit Briefen, der Briefwechsel mit André Gide, sämtliche Erzählungen, viele davon das erste Mal auf Deutsch, dazu Essays und Simenons Reportagen.
Hier eine erste kleine Stichprobe der ersten Lieferung. Beachten Sie auch unseren exklusiven Textauszug: den Anfang von „Das blaue Zimmer“ – hier in dieser CrimeMag-Ausgabe nebenan.
Nicht allein auf der Straße
„Er ging. Er war allein, und vor ihm erstreckten sich mindestens drei Kilometer Landstraße …“ So beginnt Die Witwe Couderc, 1942 zuerst erschienen. Der da geht heißt Jean, hat fünf Jahre im Gefängnis gesessen, jetzt ist er draußen und weiß nicht, wohin. Die 17 Jahre ältere verwitwete Bäuerin Tati lässt den freigekommenen Mörder in ihr Haus, dann auch in ihr Bett. Sie werden ein Paar, es könnte ewig so bleiben, wenn da nicht die andern wären. Die Hölle, das sind die anderen. Oder doch wir selbst?
Paul Theroux weist in seinem ausführlichen und grandiosen Nachwort zu Recht darauf hin, dass 1942 in Frankreich zwei verblüffend ähnliche Romane erschienen, „in ihrem Zentrum jeweils ein gewissenloser, furchteinflößender junger Mann, der bindungs- und haltlos durch die Welt zieht und schließlich einen gänzlich sinnlosen Mord begeht“. Es handelt sich um „Der Fremde“ von Albert Camus und eben um den hier vorgestellten Roman Simenons. Camus’ Roman habe bis heute nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt, attestiert Theroux, Simenons Buch hingegen sei ohne besondere Beachtung geblieben – er hingegen finde es immer noch das bessere. Theroux weiß, dass Simenon sich über die existentialistischen Begrifflichkeiten lustig gemacht hätte, die das Buch von Camus umgeben. In Simenons Romanen gibt es keine philosophischen Reflexionen. Da ist es einfach wie es ist. „Simenon verarbeitet den Fatalismus seiner Gegenwart.“
Es ist (immer wieder) ein Gewinn, Simenon erneut zu begegnen. Das solide ausgestatte Hardcover mit der durchgesehenen Übersetzung von Hanns Grössel gehört zur ersten Lieferung der großen Simenon-Neuausgabe im Kampa Verlag. Guter Anfang!
Übrigens hat mir gut gefallen, dass die Übersetzer im aktuellen Prospekt des Kampa Verlages eine eigene Doppelseite haben – das sollte Schule machen.
Georges Simenon: Die Witwe Couderc (La veuve Couderc, 1942). Aus dem Französischen von Hanns Grössel. Mit einem Nachwort von Paul Theroux. Kampa Verlag, Zürich. Hardcover, 208 Seiten, 19,90 Euro
Die Adjektive loswerden
„Habe ich dir wehgetan?“
„Nein.“
„Bist du mir böse?“
„Nein.“
Das stimmte. In diesem Augenblick stimmte alles. Denn er erlebte die Szene ganz pur, ohne sich Fragen zu stellen, ohne verstehen zu wollen, ohne zu ahnen, dass er eines Tages würde verstehen müssen …
Der Anfang von „Das blaue Zimmer“. (Siehe auch den Textauszug in dieser CrimeMag-Ausgabe.)
Ein Meisterwerk realistischer Literatur nennt John Banville Das blaue Zimmer von Georges Simenon. Wie Kafka zwinge er uns dazu, uns die Nase am Fenster der Welt platt zu drücken. Er habe jene „Nabakov’sche Fähigkeit, die Stofflichkeit der Welt in Worte zu fassen, obwohl die Wörter, die er verwendet, und die Sätze, die er daraus macht, stets unprätentiös und einfach sind. Er war stolz auf sein bescheidenes Vokabular und seine knappe Sprache; wenn er ein Buch fertig hatte – was bei ihm ungefähr zehn Tage dauerte -, kam er aus seinem Arbeitszimmer, hielt das Manuskript am Heftrücken fest und schüttelte es, um, wie er scherzhaft sagte, die letzten noch verbliebenen Adjektive loszuwerden.“
Die Geschichte einer Affäre, einer Obsession. Unvergesslich. Schmerzhaft. Schön.
Georges Simenon: Das blaue Zimmer (La chambre bleue, 1964). Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung. Mit einem Nachwort von John Banville. Kampa Verlag, Zürich. Hardcover, 175 Seiten, 19,90 Euro
Rettung durch Liebe
Und dann eins meiner Lieblingsbücher. Ein namenloses Land, von fremden Truppen besetzt. Ein Winter ohne Ende. Der Schnee war schmutzig. Ein 18-Jähriger, der in einem Bordell aufwächst, nach Erfahrungen hungert, keine Mitte hat. Nächte ohne Ufer. Aus reiner Langeweile wird er zum Mörder, begreift lange nicht, und dann erst zu spät. Der Roman von Georges Simenon erschien 1948, für Daniel Kehlmann ist es ein Roman des Existentialismus wie Sartres „Ekel“ oder Camus’ „Fall“ – da hin gehöre er „gleichwertig, nicht neben die Krimis, zu denen Buchhändler ihn vielleicht stellen mögen“. Kehlmann sieht das Buch mit einem anderen großen Werk der französischen Besatzungszeit verwandt, mit Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Und er sieht auch Anthony Burgess’ „A Clockwork Orange“ (1962) davon beeinflusst.
Georges Simenon Der Schnee war schmutzig (La neige ètait sale, 1948). Aus dem Französischen Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Kampa Verlag, Zürich. Hardcover, 316 Seiten, 22,90 Euro.
Nicht der Gänsehaut, der ganz unpathetischen Menschlichkeit wegen, liest die Menschheit Simenon. Auch noch dreißig Jahre nach seinem Tod. Und sicher noch viel länger. „Mein Erstaunen, meine Zärtlichkeit“ notierte dieser Mensch 1976 über uns Menschen „ wächst gegenüber diesem ungeschützten Tier, das nicht weiß, was es ist, woher es kommt, wohin es geht.“
Alf Mayer
Thomas Wörtche, Auszug aus einem Porträt: „Simenon hat Literatur produziert, die auf die herkömmlichen Parameter von Literatur wenig gibt. Als er anfängt, ernsthafte Romane zu schreiben, sind die großen avantgardistischen Projekte des Jahrhunderts schon geleistet: Kafka, Joyce, Proust, Döblin, Musil – auf dieser Ebene der literarischen Selbstreflexion war alles ausgelotet, die Dominanz der Theorie über das Erzählen festgeschrieben. Hohe Literatur und vor allem ihre Rezeption durch Spezialisten fing an, Drohgebärden, Schwellenängste, Bedeutsamkeiten aufzubauen. Die Schere zwischen Texten und Lesern fing an, aufzugehen – und Simenon war, bewusst oder unbewusst, nicht gewillt, da mit zu schwimmen. Zwar hatte er vor allem in André Gide & Co. mächtige Fürsprecher im Feuilleton, aber damit erzielt man keine 500 Millionen Auflagen.“
„Vielmehr übte Simenon Verzicht und dieser ästhetische Verzicht erwies sich am Ende als mehr. Er verzichtete auf Zitat und Anspielung (die immer ein wissendes Publikum voraussetzen), er verzichtete auf die rhetorischen Schleifen einer nur behaupteten Bedeutsamkeit, er schrieb statt dessen über Dinge, die wir alle kennen: Die Conditio Humana down to the ground eben – und er verzichtete auf eine gewisse Exklusivität der Themenauswahl für besondere »Zielgruppen« – denn mit Sex und Crime, mit Essen und Wetter, damit können wir alle etwas anfangen.“
Der Simenon-Prospekt von Kampa.
Der Simenon-Prospekt von Hoffmann und Campe.
Ein Interview von Daniel Kampa im Börsenblatt.
Thomas Wörtche über Simenon.
Mehr von ihm dazu.
Alf Mayer über Drei Zimmer in Manhattan.