
Seelenlandschaft – oder Tage der Erinnerung
Bei den Navajos wird nicht viel Aufhebens um einen Toten gemacht. Der Tod nimmt dem Körper seinen Wert. Selbst die Identität geht mit dem letzten Lebenshauch verloren. Und was vom Geist zurückbleibt, muß so gründlich wie eben möglich ausgemerzt werden, damit die Lebenden nicht Gefahr laufen, sich mit dem Übel des Bösen zu identifizieren. Denn das Böse hat jeder Mensch in sich, egal ob nun Navajo oder sonstwer.
Selbstverständlich ist es für die Navajos auch, daß man nicht über einen Toten hinweg steigt und überhaupt geziemende Distanz zu ihm hält.
Das sind natürlich denkbar schlechte Voraussetzungen für einen Officer oder einen Lieutenant, der zwangsläufig immer wieder einmal mit gewaltsam zu Tode gekommenen Personen konfrontiert wird.
Doch Jim Chee und Joe Leaphorn sind Navajos und zugleich ermittelnde Beamte im semidokumentarischen „Hillerman Country“, einer kargen Landschaft im Südwesten der USA.
Dort geht der Blick mal über Laguna und die Acoma-Indianerreservation hinweg nach Süden und Osten, südlich auf ein sechzig Kilometer langes Meer aus erkalteter Lava, das malpais genannt wird, bis zu den Zuni-Bergen, und ostwärts über die Canoncito-Reservation bis zum gewaltigen blauen Buckel der Sandia-Berge hinter Albuquerque. Die Gipfel der Berge liegen im Glanz der allmählich sinkenden Sonne. Oder es sieht auch mal so aus, als schwimme ein zerklüfteter „heiliger“ Berg im Himmel – ein Streifen Nebel trennt ihn vom Talboden ab.
Zumeist aber vermittelt sich frühgeschichtliche Ödnis, zeichnen sich ausgetrocknete Flussläufe im steinigen Boden ab, ragen tote Baumstämme kahl empor und ein kalter, beißender Wind peitscht zerfaserte Wolken vor sich her. „Hillerman´s Country“ ist keine allzu anheimelnde Gegend.
Es ist der Bezirk, in dem die fiktiven Navajo-Polizisten des in Albuquerque, New Mexico, langjährig ansässigen und im Oktober 2008 verstorbenen Kriminalromanautors Tony Hillerman ihren im Grunde genommen gar nicht so spektakulären Job verrichten.
Der eine hat viele Jahre unter Weißen gelebt, zuerst in einem Internat und dann an der Universität. Er hat amerikanische Literatur, Soziologie und Anthropologie studiert und im letzteren Fach seine Diplomarbeit vorgelegt. Das ist Jim Chee.
Sein indianischer Kriegername aber ist „Tiefer Denker“. Tief verwurzelt in der Tradition seines Volkes trägt er ständig einen Medizinbeutel aus gegerbter Hirschhaut innen am Hosenbund, der Gallensteine gegen Hexerei, Blütenstaub, etwas Maismehl und ein Amulett enthält. Das Amulett ist das Abbild eines Dachses, geschnitzt aus Speckstein.
Jim Chee, der „Tiefe Denker“, möchte gern ein vataalii werden, ein Schamane, ein Sänger seines in der Reservation lebenden Volkes. Wann immer es ihm möglich ist übt er die seit Generationen überlieferten Verse, erinnert dabei die rauchige Stimme seines Onkels und sieht dessen Finger auf den tönernen Trommeln den Rhythmus schlagen. Anrufungen, Beschwörungen, Gesänge gegen Angst und Tod. Aber auch Lieder der Besinnung, dem Wunsch nach innerer Harmonie, dem Einklang von Körper und Seele. Hat er diesen Zustand erreicht, ist er ein wahrhaft guter Jäger und wird er eins mit dem, auf dessen Spur er ist. So versteht er plötzlich die Motivation eines Täters und die hin und wieder recht komplizierten Zusammenhänge. Dann sagt der andere anerkennend: „Ein heller Kopf, dieser Officer Chee.“
Der nämlich, Lieutenant Joe Leaphorn von der Navajo Tribal Police und formal Vorgesetzter des „smarten Burschen“ Jim Chee, hält gemeinhin wenig von den Riten seiner Landsleute. Aberglaube, schnaubt er des öfteren abfällig: Firlefanz, Hokuspokus. Er orientiert sich lieber an Fakten.

Hinter seinem Büroschreibtisch hängt eine große, auf eine Korkplatte gezogene „Indian Country“-Karte des südkalifornischen Automobilclubs, die besonders detailgetreu ist. Leaphorn hat sie mit hunderten bunter Nadeln gespickt. Und es gibt ebenso viele handschriftliche Vermerke, die vom Lieutenant stammen und allein ihm Aufschluss über die verschiedensten Vorkommnisse geben.
Ein winziges t markiert Treibsand, ein e Erdrutsche, ein c die Sommercamps der Schafherden. Das h steht für Orte, an denen Hexerei stattfindet, und s ist das Zeichen für Schwarzbrennerei. Blaue Nadelköpfe bedeuten Viehdiebstahl, pinkfarbene die Straftaten im Zusammenhang mit Alkohol und rote stehen für Kapitalverbrechen. Die Nadeln wandern „mit der Ebbe und Flut menschlichen Fehlverhaltens.“ So jedenfalls sieht es der kühl einordnende und analysierende Joe Leaphorn, der sich immer erst einmal über alles umfassend informiert.
Was Jim Chee bei der rituellen Erkundung seiner Seelenlandschaft herausfindet, muß Leaphorn quasi schwarz auf weiß vor Augen haben.
So zieht er denn auch ein Handbuch über die Alzheimersche Krankheit zu Rate, als sich bei seiner Frau Emma erste Anzeichen dieses unheilvollen und letztlich tödlichen Leidens zeigen. Er will genau wissen, was Emma und auch ihm bevorsteht. Leaphorn horcht nicht nach innen. Er trägt Verfügbares zusammen und hält es nebeneinander, überprüft, vergleicht und zieht seine Schlüsse.

Lieutenant Joe Leaphorn und Officer Jim Chee sind so gesehen die zwei Seiten des Autors Anthony Grove Hillerman, der aus Oklahoma stammt und als Reporter, Herausgeber und Universitätsprofessor tätig war, bevor er 1970 seinen ersten Navajo-Kriminalroman „The Blessing Way“ (dt. “Wolf ohne Fährte“, 1972) an eine New Yorker Agentin schickte. Ihr Urteil bestand aus einem Satz: „Wenn Sie meinen, daß sich eine Überarbeitung überhaupt lohnt, dann schmeißen Sie wenigsten das ganze Indianerzeug raus.“ Das „Indianerzeug“ aber war die Installation der Joe Leaphorn-Figur und deren Aktivitäten in der Welt der im Reservat lebenden Navajos.
Hillerman, der unter Pottawatomies und Seminolen aufgewachsen war, hatte nach seiner Übersiedlung nach New Mexico gesehen, „daß hier die indianische Kultur noch lebendig war … die ersten amerikanischen Ureinwohner auf die ich stieß, waren Navajos, und je mehr ich kennenlernte, desto mehr interessierte ich mich für sie.“ Und so war er der Meinung, daß sich auch andere Leute für sie, für ihre von Generation zu Generation überlieferten Sitten und Gebräuche, ihre Mythologie, interessieren sollten.
Hillerman´s Haltung beim Schreiben war anfangs zwangsläufig die des Joe Leaphorn. Er registrierte unzählige Vorkommnisse im Reservat, sammelte zudem Pressemeldungen und Berichte, vertiefte sich in die Geschichte der Navajos, ließ sich ihre Geschichten erzählen, hörte zu und fragte nach.

Er fuhr tage- und oft wochenlang durch die Gegend, nahm Stimmungen auf und notierte seine Eindrücke: „Im Scheinwerferlicht das Gerippe eines alten Ford, völlig verrostet, durchsiebt von Hunderten von Einschusslöchern. Dahinter das Wrack eines anderen Autos, ebenfalls voller Einschußspuren. Frustrierte Jäger schienen seit Jahren ihren Zorn über fehlendes Jagdglück an den Blechhaufen auszulassen. Überall Schrott und Müll. Eine verrottete Matratze, ein Kühlschrankgehäuse, Dosen, Flaschen, Pappkartons, alte Lumpen, zerrissene Dachpappe, dazwischen wucherte Gestrüpp.“ Gestochen scharfe Nachtbilder unter einem reingefegten Himmel. Sternenlicht funkelt.
Angefüllt mit diesen und vielen anderen Momentaufnahmen verdichten sich Handlungsorte, kristallisieren sich Tatorte heraus. Da gibt es Felsenhöhlen und bizarre, tiefschwarze „Höllenlandschaften“, staubige Wüstenstraßen und verlassene Pueblos, mit Flechten bedeckte Landstriche, wild wuchernden Wacholder, Salbei und nachts das heisere Bellen der Kojoten.
Intensiv wie kaum ein anderer Autor des Genres Kriminalroman vermittelt Hillerman die Atmosphäre von abgelegenen und oft geheimnisvollen Regionen, verweist aber auch auf die nach wie vor anhaltende Zerstörung durch die „Zivilisation“. Und wenn er seinen Lieutenant Joe Leaphorn mit Blick auf die bespickte Karte feststellen läßt, daß Gewalt dem Navajo ziemlich fremd ist, liegt es auf der Hand, wer für die meisten Tötungsdelikte und vor allem für Umweltverbrechen, das brutale Ausbeuten der Bodenschätze und Plünderungen von Kultstätten und Gräbern, zur Rechenschaft zu ziehen ist. Dennoch aber findet in Tony Hillermann´s Ethno-Romanen keine Pauschalisierung statt. Der „Weiße Mann“ ist nicht grundsätzlich böse und Leaphorn skeptische Haltung gegenüber seinen Landsleuten trägt nicht unerheblich dazu bei, in dem Navajo nicht nur den „Guten Indianer“ zu sehen.

In drei aufeinanderfolgenden Fällen – „The Blessing War“, „Dance Hall of the Dead“ und „Listening Woman“ – ermittelt Lieutenant Joe Leaphorn weitgehend allein, zeichnet Hillerman ihn als Beamten, der einerseits viel über die Tradition seines Volkes weiß, sich anderseits aber von seinem „gesunden Menschenverstand“ leiten läßt und angeblicher Hexerei nicht auf den Leim geht.
Er ist ein „gestandener“ Mann, abgeklärt und mitunter auch ein wenig zynisch.
Was Officer Jim Chee auszeichnet, der erstmals in „People of Darkness“ (dem vierten Hillerman-Krimi) aktiv wird, ist ihm fremd, oder besser: fremd geworden.
Jim Chee führt ein gänzlich anderes Leben. Er ist wesentlich jünger als Leaphorn, nicht verheiratet und wohnt allein in einem alten Wohnwagen. Mit seinem Auftritt während der Zeit „Wenn-der-Donner-schläft“ muß er sich zwischen weiterführender FBI-Ausbildung und Schamanentum entscheiden. Durchgängig verkörpert er die immer noch lebendige Vergangenheit. Jeden neuen Tag beginnt er mit einem Gebet, und er hält sich strikt an die traditionellen Umgangsformen seines Stammes. Er wartet vor dem Haus eines zu Befragenden, damit derjenige sich auf seinen Besuch gebührend vorbereiten kann. Er fällt ihm nicht ins Wort und zeigt nicht mit dem Finger auf ihn. „Man lernt mit den Ohren, nicht mit der Zunge“, erklärt er einmal. Und man stellt sich durch die Beschreibung der Familienordnung vor – wo die Vorfahren ansässig waren und welche Verästlungen sich im Verlauf der Jahre ergeben haben. Das ist gemeinhin langwierig und wird von Weißen als nervig empfunden. In Chee´s Augen haben diese Menschen keine Geduld, leben bestenfalls im Heute und sind nirgendwo verwurzelt.
Das und noch manches andere muß er im Verlauf seiner ersten größeren Ermittlung der jungen Mary Landon erklären, in die er sich auf Anhieb verliebt hat. Gemeinsam mit ihr löst er das Rätsel der Geheimsekte der „Maulwürfe“ – ein Fall, der alte Navajobräuche mit dem Fluch des 20sten Jahrhunderts, der Radioaktivität, mischt. Für Jim Chee sind die einzelnen Schritte zur Aufdeckung „Tage der Erinnerung“. Er muß weit zurück denken, um aktuelle Ereignisse einordnen zu können.

Mit Jim Chee hat Tony Hillerman seine zweite Seite präsentiert, die Entwicklung vom aufmerksam Beobachtenden zum „Bruder“, der nicht nur Hochachtung und Respekt für die Geschichte und Religion der Navajos empfindet, sondern darüber sein eigenes Leben definiert: „Ich mag Leute, die an etwas glauben. Ich mag keine Leute, deren einziges Interesse darin besteht, nach ihrem Vergnügen zu streben … Man kann sich mit ihnen nicht über ein religiöses oder metaphysisches Thema unterhalten, weil sie nie darüber nachgedacht haben … Ich war schon immer interessiert an Kulturen, die sich auf metaphysische Grundlagen stützen.“
So kommt es dann auch im siebten Buch seiner Krimi-Serie, „Skinwalkers“, zu einer ersten Begegnung der beiden Navajo-Polizisten Joe Leaphorn und Jim Chee. Es ist eine behutsame Annäherung, getragen von gegenseitigem Verständnis und Wohlwollen.
Fortan sind sie öfter zusammen und lernen voneinander das „Außen“ und „Innen“ in Einklang zu bringen: „Unsere Stimmen verschmelzen in Harmonie, sein Rufen wird mein Rufen, und beide sind eins.“ Tony Hillerman erzählt von ihren Wegen und den oft auch skurrilen Vorfällen im Reservat, einem Gebiet, das er „meine Pfarrei“ nannte: „Das ist mein territorialer Imperativ, offensichtlich nicht dazu geschaffen, daß Menschen von ihm Besitz ergreifen. Land, von dem man nicht leben, in dem man aber ganz sicher sterben kann.“
Frank Göhre © Nachwort zu Tony Hillerman „Tod der Maulwürfe“, Rowohlt Verlag, Reinbek, 1997
Im Zürcher Unionsverlag erscheinen derzeit wiederaufgelegt die Romane von Tony Hillerman.