
Die USA — Europas Märchenland
... anläßlich eines Artikels von Verena Lueken in der FAZ vom 19.08.2020 (online hier) über eine Rede von Hannah Arendt aus dem Jahr 1975 und ein Briefchen von Joe Biden...
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Seit ich angefangen habe, an meinem Denken zu arbeiten, um nicht auf der Stelle zu treten, gehört zu dieser Arbeit auch ein unerschöpfliches und unermüdliches Interesse an den Vereinigten Staaten und fast im Gleichklang damit die Einsicht in die Notwendigkeit, Hannah Arendt zu lesen.
Ich kenne also die Rede von Arendt, und sie gehört definitiv nicht zu ihren besten Texten sondern zu den mittelmäßigen. Und sie hat es selber gewußt. Ihre Worte: sie habe den Text „in großer Hast und in großer Wut“ verfasst. Noch schlechter steht es um den Artikel von Frau Lueken, der in meinen Augen völlig wert- und belanglos ist. Sie soll hier aber nur als Beispiel behandelt werden, ein weiteres schlechtes Beispiel in einer langen Reihe schlechter Beispiele von Zeitungs- und Internet-Texten, die sich angeblich mit den USA befassen, was nicht zutrifft, denn sie handeln von einem Märchenland, von dem man sich in Europa und speziell in Deutschland angewöhnt hat, es USA zu nennen.
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Arendt war, was die Grunddisposition Amerikas betrifft, durchaus etwas naiv. Unter anderem, weil sie sich nie um das Wirtschafts-System gekümmert hat, von dem das Selbstverständnis / Selbstbildnis der USA weitaus stärker bestimmt wird als von den vielen, zudem einander widersprechenden Freiheits-Ideen in der Bill of Rights oder anderen Selbstbeschreibungs-Dokumenten aus der Frühgeschichte der Nation.
Der Artikel von Lueken ist nicht nur unnötig geheimnistuerisch, so als hätte kaum jemand auf der Welt je Kenntnis von Arendts Rede erlangt, sondern zudem auch noch reichlich oberflächlich in der Parallelisierung von Damals (1975) und Heute.
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Daß der Richard Milhous von 1975 ein Krimineller war, das ist so, wie es ist, bzw. wie es war. Sowas kommt vor, und die Amerikaner wußten es und kannten die Folgen. Er hat seine kriminelle Energie über Jahre hinweg während der McCarthy-Ära und danach deutlich zur Schau getragen. Während der ur-amerikanischen Kommunistenhetze haben unzählige solcher Krimineller für die McCarthy-Kamarilla, folglich auch für die US-Regierung gearbeitet. Nicht der Charakter solcher Leute wie Nixon ist das Problem, sondern daß so ein Politiker-Typus von den herrschenden Eliten eines Landes (einer Nation) für präsidentschaftstauglich gehalten und dann bei den fürs Volk prachtvoll inszenierten Wahl-Shows unterstützt und anschließend, nach dem glanzvollen Sieg, auch noch jahrelang getragen wird – das ist das Problem. Aber auch nur, wenn man immer noch gutgläubig meint, Kriminalität sei bloß die Ausnahme von der ansonsten gesetzestreuen Regel. (Was mich betrifft, vermag ich solche Gutgläubigkeit schon lange nicht mehr aufzubringen.)
Daß Mr. Don T. ein Psycho- und Soziopath ist, auch das ist so, wie es ist. Jeder Amateur kann das erkennen, und wem das nicht reicht, der kann es in zahlreichen Büchern und Artikeln von Fach-Profis auf diesem Feld nachlesen. Es gibt an jeder zweiten Straßenecke überall auf der Welt Psycho- und Soziopathen. Millionen von Fernseh-Konsumenten konnten den Charakter ihres Unterhaltungs-Genies in seinen TV-Sendungen studieren und erkennen. Daß eine so offensichtlich gestörte Gestalt eine mit ausgesuchten Anbiederungs- und Anfeuerungs-Methoden hergestellte und behandelte gigantische Gefolgschaft aufbauen und zugleich die in denselben Wahlkampfauftritten mit Verhöhnung und Verachtung überschütteten Eliten hinter sich versammeln kann, die diesen Performer dann in erstaunlicher Einmütigkeit in Amt und Würden heben – das könnte man unter der Voraussetzung von gewissen, immer noch irgendwie geltenden Kriterien des irgendwie gesunden Menschenverstandes vielleicht als Problem empfinden, wenn überhaupt. (Auch hier kann ich schon lange nicht mehr mithalten. Mein Realismus versorgt mich mit anderen Einsichten in den allgemeinen Stand der gesellschaftlichen Dinge und die allgemeine Verflüchtigung aller Standfestigkeit im privaten und öffentlichen Gebrauch von Vernunft und Verstand. Bevor es dann endlich so weit war, hatte Mr. Don T. sechsmal versucht, von den Republikanern zum Kandidaten gemacht zu werden. Und da soll nie irgend jemand gemerkt haben, was man sich da einhandeln wird? Das glaube, wer’s braucht. Wer übrigens was Grundsätzliches über eben dieses faschistisch-totalitäre Phänomen des halb begeistert, halb widerwillig installierten Bündnisses zwischen Mob und Elite lesen will, ist bei Hannah Arendt genau richtig, allerdings in einem anderen Buch: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Seite 489 bis 507).

Wenn man an der Stelle das Wort Problem partout beibehalten möchte, ist es sicher nicht dasselbe Problem wie bei Milhous Nixon, sondern die verschärfte und höher entwickelte Version einer Tendenz, die man eine Mischung aus Infantilisierung, Verblödung und Brutalisierung der Gesellschaft nennen könnte. Also eine erheblich fortgeschrittene Entwicklungsstufe von Bedrohung, Einschüchterung und Hysterisierung, und deshalb viel gefährlicher als die Ergebnisse, die man mit der in früheren Zeiten bevorzugten kriminellen Energie erzielen konnte. Bei Nixon ging es um Machterhalt, nichts sonst. Und das mit allen Mitteln, wenns sein mußte eben auch solchen, die nicht besonders kompatibel mit den geltenden Gesetzen waren. Ein Hysteriker und Psychopath war er gewiss nicht, er war nicht mal in der Nähe davon. Bei Mr. Don T. dagegen geht es um die höchste Stufe des soziopathischen Daseins: Unfehlbarkeit. Ein Leben in Fehlerlosigkeit und Vollkommenheit. Und Unfehlbarkeit räumt nicht den einmal eroberten Platz, wenn es der höchstmöglich erreichbare ist, was beim amerikanischen Präsidententhron der Fall ist. Unfehlbarkeit kann man nur praktizieren, wenn man auf genau diesem Thron sitzt. Der höchste (amerikanische) Beweis für die ganz persönliche Unfehlbarkeit, den man erbringen kann und muß, ist zunächst die Wiederwahl, eigentlich aber die permanente Wiederwahl auf Lebenszeit, die das amerikanischen System jedoch nicht zuläßt. Den Unfehlbaren abwählen bzw. absetzen: undenkbar. Auf diesem schönen und in die ganze Welt ausstrahlenden Areal der absoluten Makellosigkeiten und Unübertrefflichkeiten und sonstigen Perfektionismen werden wir noch einige höchst unterhaltsame Auftritte erleben. Vielleicht im Weißen Haus, vielleicht aber auch in einem alternativen Weißen Haus. Wenns sein muß, und es sieht ganz danach auch, wird man sowas aufbauen, und es wird leicht zu machen sein, genauso leicht, wie man alternative Fakten erschaffen kann, was in den vergangenen Jahren ja bestens gelungen ist und deshalb auch beibehalten wird. Nichts ist zukunftsträchtiger als alternativlose Alternativen.
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Die in die Sphäre von Alltag und Akzeptanz aufgestiegenen Defekte solcher Figuren sind in ihrer Eindeutigkeit und Allgegenwart weder zu übersehen noch wegzudiskutieren, und genau dadurch hören sie auf, als Defekte wahrgenommen zu werden. Alles ist / wird Normalität.
Darüber herrscht ein bemerkenswert gleichförmiges Schweigen in der Publizistik, denn Wahlen werden als Heiligtum betrachtet. Ihr Ausgang wird nicht mit gesteuerten Interessen in Zusammenhang gebracht, und ihre Gewinner werden nicht in / mit psychoanalytischen Kategorien taxiert.
Alle Demokratien auf dieser Welt haben ein einfältiges Verhältnis zu ihren Wahl-Systemen, aus denen sie ihre Grundlegitimation ableiten. An dieser geistigen Behinderung werden sie zugrunde gehen.
Nicht der GEWÄHLTE ist das Problem, die WÄHLER sind es. Und um diese Wähler und das auf sie zugeschnittene System nicht zu diffamieren, wurde kein noch so übler Murks, der im und vom Weißen Haus angerichtet worden ist und weiterhin angerichtet wird, jemals juristisch verfolgt und wird auch niemals geahndet werden. Noch nie ist ein US- Präsident für irgendwas zur Rechenschaft gezogen worden. Verbrechen haben sie alle begangen. Johnson, Nixon, Ford,
Reagan, Clinton, die Bushs etc. Alle haben sie gelogen, sie haben betrogen, sie haben verschleiert und getäuscht, und niemand hat sie daran gehindert. Auch Obama, der in Europa als unantastbar gilt, sich aber in Sachen Guantanamo und Snowden extrem daneben benommen hat. Wobei das bloß 2 Beispiele sind, da gibt es noch einiges mehr in seinen beiden Amtsperioden. Aber das nur nebenbei.
(Der einzige übrigens, der sich in durchaus bemerkenswerter Sichtbarkeit anständiger verhalten hat als seine Kollegen, war / ist der Erdnußfarmer Carter. Seine Strafe dafür: keine Wiederwahl. Auch das nur nebenbei.)
Die Arroganz der Macht, mit der das Weiße Haus seit den 50er Jahren die ganze Welt überzieht, ist nun wirklich alles andere als eine Neuigkeit. Würde man gewählte Politiker zur Rechenschaft ziehen, müßte man ja das gesamte westliche Auslese-System in Frage stellen, und das wird nicht stattfinden, da es automatisch auch die Grundlegitimation aller Demokratie in Frage stellen würde. Man darf nicht mal von Manipulation reden, denn schon solche Reden zersetzen das Vertrauen ins System. Der gerade noch erlaubte Vorwurf ist die Wahlfälschung. Aber auch das ist genaugenommen verboten, denn in echten wie den westlichen Demokratien gibt es keine Wahlfälschungen, weil es ja keine Wahlfälscher gibt, die sowas tun würden, wie wir alle wissen.
Deshalb erhebt die EU solche Vorwürfe auch nicht gegen Länder aus der eigenen Mitgliederriege, sondern immer nur gegen Länder außerhalb der EU. Dabei hat sie gerade für sich selber Wahlen mit höchst manipulativen Mitteln abgehalten und schließlich sogar gefälscht, indem man nämlich nicht die Gewählten sondern aus irgendwelchen Versenkungen geholte Personen auf die vordersten Posten gesetzt hat, die überhaupt nicht zur Wahl standen und auf keinem Plakat zu sehen waren. Ungewählte, die in Hinterzimmern ausgeschnapst wurden. Aber auch das nur nebenbei.
Der Mr. Don T. President macht genau das jetzt im eigenen Land, und zwar in schlau vorauseilender Tatsachensetzung: falls er verliert, muß die Wahl gefälscht worden sein. Im Unterschied zu allen anderen Politikern des sich selbst frei nennenden Westen weiß dieser Staatsrepräsentant offenbar ganz genau, daß es gefälschte Wahlen und manipulierende Wahlfälscher eben doch auch in den Demokratien gibt. Und zwar auf allen beteiligten Seiten grad so viele, wie man zur Verfolgung der eigenen Ziele eben braucht.
Anders gesagt, ein guter (und eben nicht feiger) Journalismus darf sich nicht darauf beschränken, von den kriminellen und / oder gestörten Amtsinhabern zu sprechen, sondern muß auch den nächsten Schritt tun und von deren Wählern und Wählerinnen sprechen. An der Stelle wird es heikel und mulmig, denn bei einem unangenehmen Wahlausgang müßten die Medien, deren Selbstverständnis ja das von freien Aufpassern und Demokratiekontrolleuren ist, dann zugeben, daß es für solche Ergebnisse nur zwei Erklärungsmöglichkeiten gibt: 1) das Wahlvolk wurde einer totalen Manipulation unterzogen, was jede Idee von freien Wahlen zertrümmert, oder 2) die Wählenden schieben bei vollem staatsbürgerlichem Bewußtsein ihresgleichen in Amt und Würden, also Kriminelle und Gestörte, was ebenfalls jede Idee von freien Wahlen zunichte macht. Ein schweres Dilemma und deshalb ein ganz hoch gehängtes Tabu, dem man nicht zu Leibe rücken darf.
Man braucht Mut, um endlich das halb von Ignoranz, halb von Dummheit geprägte Verhältnis der Demokratien zu ihren Wahl-Systemen zu thematisieren. Um so mehr in Zeiten einer extrem manipulativen Dominanz der beiden größten Massenmedien Fernsehen und Internet in allen Gesellschaften des Planeten gleichermaßen, sowohl den demokratisch verfassten als auch den autoritären.
Weder hatte Arendt diesen Mut für ihre Zeit, noch hat Lueken (oder irgendwer sonst in den Großmedien) den für heute. Daß die Demokratien inzwischen so schwindsüchtig und willenlos geworden sind, ihr eigenes Ende mit und in sogenannten freien Wahlen herbeizuführen, müßte eigentlich alle Demokraten in allerhöchsten Alarmzustand versetzen. Tut es aber nicht.
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Zurück zum Artikel. Was Lueken als professionelle Journalistin wissen und auch sagen muß, dazu aber offensichtlich nicht fähig ist: daß es vonArendts Rede eine deutsche Übersetzung gibt. Die steht in „Zur Zeit“ – Rotbuch Verlag, erschienen 1999 – Erweiterte Neuausgabe, herausgegeben von Marie Luise Knott – Deutsch von Eike Geisel. Deutscher Titel der Bicentennial Rede: „200 Jahre Amerikanische Revolution“. Das Buch ist nicht obskur sondern war ganz normale Buchhandelsware.
Wenn man die ganze Rede dort nachliest und sich den Inhalt klar macht, ist die Art und Weise, wie Lueken die Arendt-Biden Episode darstellt, nichts anderes als läppisch.
In ihrer Rede äußert sich Arendt tatsächlich an einer Stelle ausnahmsweise mal ziemlich klar und deutlich zum amerikanischen Wirtschaftssystem, und sogar mit einem völlig korrekten Hinweis auf die Probleme der Zukunft, die aus diesem System entstehen werden. Aber schon im nächsten Abschnitt relativiert sie ihre klaren Aussagen, indem sie der Wirtschaft als Teil des amerikanischen Selbsbildnisses nur Zweitrangigkeit zubilligt. Für Arendt sind nicht die militärischen-industriellen-ökonomischen Interessen der prinzipielle Antriebsmotor und damit das Problem Amerikas, sondern die Reklame zugunsten dieser Interessen, eine Reklame, die nicht von den destruktiven Nebenwirkungen des Motors spricht sondern nur von den enormen Wegstrecken, die dieser Motor zuverlässig und rasant zu bewältigen vermag. Und diese Reklame setzt sie gleich mit der politischen und regierungsamtlichen Reklame – Lügen, Betrügen, Verschleiern, Vertuschen – für das Selbstbildnis, das die USA auf der ganzen Welt von sich verbreiten.
„Imageaufbau und Imagepflege als Weltpolitik“ – das war für Arendt das größte Problem Amerikas. Ich halte das nicht für gänzlich falsch, aber doch für so unvollständig und ausschnitthaft, daß ich es, wie gesagt, naiv nenne.
Wahlen werden in den USA nicht durch Festreden vor gut betuchten Zuhörern beeinflußt sondern massiv durch die Dominanzmedien Fernsehen und Internet in Verbindung mit dem ungeheuren ökonomisch-existentiellen Druck, unter dem die große Masse der amerikanischen Bervölkerung steht. Dieser Druck stammt aus den sich immer stärker verschärfenden Widersprüchen und Gewalttätigkeiten des Wirtschaftssystems und war in den 70er Jahren bei weitem nicht so einschüchternd wie er heute ist. Allein schon deshalb verbietet sich jede Parallelisierung zwischen den 70er Jahren und heute. Dass Mr. T. die uralten Gespenster Sozialismus und Kommunismus dramatisiert, denen er die Demokraten zuordnet, kommt nicht von ungefähr. Das Unbehagen gegenüber dem eigenen Wirtschaftssystem wächst sogar im super-kapitalistischen Amerika, da braucht man eine stringente Angststrategie, die den Leuten mit gefährlichen Monstern droht, falls sie erwägen sollten, aus dem System auszuscheren. Natürlich ist es absurd, den Demokraten sozialistische Tendenzen zu unterstellen, aber das ist nicht entscheidend. Monster funktionieren auch ohne Realität. Mehr noch: je mehr diese durch Abwesenheit glänzt, desto besser können sie ihre Arbeit leisten. Auch das zeigt an, wie weit die Infantilisierung, Verblödung und Brutalisierung der amerikanischen Gesellschaft bereits vorangeschritten ist.
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Ich weiß nicht, welche Bücher und welche Autorinnen und Autoren aus den USA im deutschen Journalismus zu den Ausbildungsgrundlagen gehören. Vielleicht gibt es auch gar keine Ausbildung in den Schulen und Hochschulen zum Thema USA. Das kommt mir am wahrscheinlichsten vor. Was ich sehe, ist das, was ich am Anfang schon angedeutet habe: über kein anderes Land wird in den deutschen Film- und Druck-Massenmedien soviel Unsinn verbreitet wie über die USA. Und das schon seit Jahrzehnten. Da herrscht ein Unwissen in Kombination mit Ignoranz, die zu einem entweder völlig verzerrten oder völlig simplifizierten Amerika-Bild geführt haben und weiterhin führen werden. Frau Lueken reiht sich hier nahtlos ein.
Während der Berichterstattung im Vorfeld von T.’s erstem Wahlsieg war eben dieser Ignoranz-Pegel in den deutschen Medien so hoch, daß ich mich nur noch kopfschüttelnd abwenden konnte. Anfangs (ca. 9 Monate vor dem November-Wahltermin) bin ich selbst noch teilweise auf die voreingenommene deutsch-europäische Berichterstattung reingefallen. Spätestens 4 Monate vor dem Termin war dann aber klar, daß T. gewinnen würde. (Leute, mit denen ich damals diskutiert habe, konnten sich meine Argumente und Vorhersagen nur damit erklären, daß ich übergeschnappt sei. Mehr noch: allein wegen der bloßen Tatsache, daß ich den Medien-Verlautbarungen widersprochen habe, unterstellten sie mir, ich würde den von mir prognostizierten Wahlsieg von Mr. Don T. insgeheim willkommen heißen.)
Als es dann passiert war, tat man in den Medien Deutschlands (und weiter Teile Europas) so, als sei der Wahlsieg eines solchen Typen vollkommen unerklärlich und machte ein für alle Zeiten unlösbares Rätsel daraus, um die ganze Angelegenheit schnell abhaken zu können. Man hat hier sogar behauptet, selbst die amerikanische Publizistik sei aus allen Wolken gefallen, weil auch in den USA angeblich niemand damit gerechnet habe, daßeiner, der Donald heißt und auch so auftritt, Wahlen gewinnen könnte. Aber das war und ist Bullshit. Wie ich an dem jetzigen Artikel von Lueken sehe, hat sich an diesem Bullshit in der deutschen Medienlandschaft nicht ein Jota geändert.
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Einer der Gründe für diese im deutschen Journalismus grassierende Unkenntnis der amerikanischen Geschichte, die eine Landnahme-, Siedlungs- und Usurpationsgeschichte ist und die entsprechenden Mentalitäten (vor allem Erfolgs- und Siegermentalitäten) erzeugt hat, mit anderen Worten: einer der Gründe für die komplette Unkenntnis des amerikanisch-weißen Selbstbildes und der amerikanisch-weißen Überlegenheitsmentalität (vor allem auf den Gebieten Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft), ist diese schlichte Tatsache, daß man hierzulande nicht die leiseste Ahnung hat von den amerikanischen Gründungs-Mythen bzw. von den ursprünglichen Selbstbildnissen der amerikanischen Nation als alles überragende Alternative zur gesamten Restwelt, womit bis heute alle Hegemonieansprüche legitimiert werden. Solche in tausenden von regierungsamtlichen Statements eingebauten, mehr oder weniger offenen Hinweise, die für Amerikaner selbstverständlich sind, werden in Europa weder verstanden noch überhaupt erkannt, weil man sie aus Mangel an Einsicht in die amerikanische Geschichte eben gar nicht aufspüren kann. Die Quellen werden ignoriert, und gelesen werden bestenfalls Gegenwarts-Interpretationen irgendwelcher Denkschulen und Eliteschmieden, die interessengesteuert sind, nicht erkenntnisgesteuert. Man kennt nicht mal die sogenannten Federalist-Artikel von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, die nun wirklich absolute Pflichtlektüre sein müßten. Man zieht es vor, die europäische Brille nicht abzusetzen. Was übrigens auch dazu führt, daß der deutsche / europäische Journalismus, was das Thema USA betrifft, sich damit begnügt, weitgehend voneinander abzuschreiben.
Ganz allgemein gesprochen, kann man zum Verhältnis von Europa gegenüber den USA sagen, daß da eine beachtliche Feindseligkeit am Wirken ist. Was allerdings auf Gegenseitigkeit beruht, denn die USA sind in ihrem Gründungsselbstverständnis nichts anderes als ein Anti-Europa, und das ist nicht bloß Attitüde sondern fundamentales Konzept. Gegründet wurden die USA von Europa-Flüchtlingen bzw. deren direkten Nachkommen, also von Leuten, die in Europa nicht mehr leben wollten oder nicht mehr leben konnten. Diese teils verdeckte, teils offene Feindseligkeit, die man aus verschiedenen, überwiegend ideologischen und ökonomischen Gründen heutzutage nicht mehr erwähnen darf, ist der eine große Faktor, der die gegenseitig abgegebenen Diagnosen und Meinungen beherrscht. Der andere (inzwischen stark wachsende) Faktor ist die Ignoranz gegenüber den Ursprungs-Bildern aller Beteiligten, Ignoranz plus Inkompetenz. Der Mangel an Qualifikation wird immer deutlicher sichtbar. Um mehr zu verstehen, müßte man sehr tief in den amerikanischen und europäischen Selbstbildnissen und Mentalitäten graben. Daran ist offensichtlich niemand interessiert. Man kann auch sagen: das gegenseitige Desinteresse aneinander wächst. Oder so ausgedrückt: die Europäer kennen sich selbst nicht mehr, und deshalb fehlt ihnen auch jede Grundlage, die Amerikaner genauer zu kennen, und umgekehrt.
Daß die Europäer nicht mehr wissen, wer oder was sie sind, kann man sehr deutlich am Zustand von Großbritannien sehen, das praktisch aufgehört hat zu existieren, und auch am Verhältnis der Europäischen Union zu Großbritannien, denn die EU hört ebenfalls gerade auf zu existieren. Da verhandeln zwei sich auflösende Organismen miteinander. Es kann nur Unfug dabei rauskommen, oder gar nichts, also irgendwas, was in kürzester Zeit einfach im Sande verläuft.
Und daß die Amerikaner sich selber nicht mehr kennen, kann man daran sehen, wie die wichtigsten Zutaten, die durch die Jahrhunderte hindurch zum grundsätzlichen, allgemein anerkannten und teilweise sogar utopisch ausformulierten Selbstbild gehört haben, inzwischen zu gefährlichen Phrasen verkommen sind, die fast nur noch im Befehlston ausgesprochen werden. Wenn amerikanische Politikerinnen und Politiker heute von ökonomischer Gerechtigkeit, von wissenschaftlicher Zusammenarbeit und von globalen Menschenrechten reden, dann bricht nirgendwo mehr Jubel aus, wie in früheren Zeiten, sondern fast alle Länder und Völker gehen in Deckung. Aus dem emanzipatorischen Grund-Impuls der USA sind separierende Totschlagparolen geworden. Ganz besonders im eigenen Land.
Und dann lese ich dieses nichtssagende Zeug in den deutschen Verlautbarungsorganen. Mit fundiertem, gut informiertem oder gar intelligentem Journalismus hat das nichts zu tun. Das nichtssagende Briefchen eines heute fast 80jährigen Greises, der Präsident werden will, in Zusammenhang mit der uralten Rede einer seit 45 Jahren toten Politologin, die ein in weiten Teilen geschöntes Bild von den amerikanischen Gründungsmythen hatte, und diese Konstellation in angeblicher Gegnerschaft zu einem ebenfalls bald 80jährigen anderen Greis, der schon Präsident ist und es bleiben will – was soll das hier und heute für eine Relevanz haben?
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Die US-Präsidentschaft wird ganz sicher nicht inhaltlich entschieden. Mit Inhalten und sachlich aufgearbeiteten Themen können unsere westlichen Bevölkerungen nichts mehr anfangen, dieser Realismus ist ihnen über Jahrzehnte hinweg systematisch ausgetrieben worden. Das wiederum gehört zu den wenigen Gemeinsamkeiten zwischen den USA und Europa. Wahlen werden nicht mehr aufgrund von politischer oder ideologischer Programmatik entschieden sondern von einer massenmedial aufgebauschten und auf Großkotzigkeit ausgelegten Personal-Propaganda. Die Figuren, die da an die Front gestellt werden, sind allesamt aus demselben Pappmaché. Und es gewinnen die Figuren, die auf den Gebieten der Angebotsvielfalt von Selbstbetrugsstrategien und Glücksversprechen über eine höhere Professionalität verfügen als ihre Gegner. Da sind sich Mr. B. und Mr. T. so ähnlich wie Republikaner und Demokraten sich schon immer ähnlich waren. Mr. B. ist zum jetzigen Amtsinhaber bloß der spiegelbildliche Geschäftskonkurrent um den zum Verkauf stehenden Thron, er ist keineswegs die Alternative zum derzeitigen Inhaber der Handelsware Macht. Die kommende Wahl ist also nicht nur völlig offen sondern auch völlig sinnlos. Es ist gar keine. Genau wie vor vier Jahren.
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Einen unbedingt erwähnenswerten Unterschied gibt es im Vergleich zur letzten Wahl. Das sich immer mehr in unauflösbare Widersprüche und Probleme verstrickende US-System, und damit auch die sich immer heftiger gegeneinander aufstellenden und somit immer deutlicher einander ausschließenden Lebensentwürfe und Selbstbestätigungsrituale der US-Bürger haben sich inzwischen so weit verschärft, daß man sich gegenseitig zu Teufeln erklärt, zur Schande der Nation, zur Schande der Menschheit. Jeder ist für den jeweiligen Gegner inzwischen der Todfeind, der gestoppt werden muß. Und zwar mit allen verfügbaren Mitteln, wobei dann die schwer bewaffneten Republikaner klar im Vorteil sind gegen die leichter bewaffneten Demokraten, deren einzige Verbündete aus jener anderen Demokratenfraktion kommen, die sich in stolzem Selbstbewußtsein sogar einer gelegentlichen Waffenabstinenz verschrieben hat.
Ich halte diese Vernichtungsphantasien und die Propaganda der gegenseitigen Erniedrigung zu Abschaum und Mißgeburten nicht für bloße Rhetorik, die aufhört, wenn die Wahl vorbei ist, ich halte das für die Vorstufe zu Strategien einer kommenden bewaffneten Auseinandersetzung zu dem Zweck, die Machtfrage ein für alle Mal zu klären. Diese Ein-für-allemal-Attitüde wäre dem kriminellen Machtmenschen Nixon nie in den Sinn gekommen. Der dachte auf dem Weg zur Machterneuerung in Einzelschritten, einen nach dem anderen. Ein Taktiker und Stratege. Und wie sich gezeigt hat: ein unfähiger Taktiker und schlechter Stratege. Aber immerhin einer, der wußte, wann er log, und auch, wann er einen Fehler gemacht hatte. Also einer, der noch fähig war, zwischen Lüge und Wahrheit und zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden. Bei einem Amtsinhaber aber, in dem sich der Machtanspruch mit einer absoluten Unfehlbarkeitsmentalität vereinigt, ist solche Unterscheidungsfähigkeit nicht mehr vorhanden. Da kann gar kein anderes Verhalten bzw. Agieren herauskommen als eines, das keine Korrekturen zuläßt und auf Ewigkeit abzielt. Oder so ausgedrückt: daß die Republikaner auf allen Ebenen der herrschenden Massenmedien Fernsehen und Internet die Demokraten bezichtigen, den Untergang der Nation herbeizuführen, und daß die Demokraten ihrerseits genau dasselbe über die Republikaner in genau die selben Massenmedienkanäle blasen, das ist nichts anderes als Kriegsrhetorik.
Der Noch-Mr. President und Oberbefehlshaber der Nation hat sein Versprechen gehalten und keinen Krieg im Ausland angefangen. Daß er auch im Inland keinen lostritt, hat er nie versprochen. An der Macht bleibt man nicht durch Kriege im Ausland sondern nur durch den höchsten aller Kriege, den Bürgerkrieg. Und genau das steht den Amerikanern in den kommenden Jahren bevor: ein neuer Bürgerkrieg. Egal, wer die Wahl gewinnt.
Darüberhinaus werden wir in der nächsten Zukunft ohnehin erleben, daß immer mehr Wahlen überall auf dem Planeten von ihren Verlierern für Fälschungen erklärt werden. Autoritäre Herrscher und Regime lassen sich nicht abwählen. Sie waren schlau genug, die Dummheit und Blindheit der Demokratie auszunutzen, um gutgelaunt und unangefochten an die Macht zu kommen. Warum sollten sie sich danach ebenso dumm verhalten wie ihre Vorgänger und sich wie diese einfach abwählen lassen? Das werden sie zu verhindern wissen.
Mr. Don T., der Präsident und Oberbefehlshaber in einer Person, ist ein Gewinner, er ist unwiderlegbar, unübertreffbar, unüberwindbar. Es wird folglich einen Verlierer Don T. nicht geben. Auch hier: egal, wer die Wahl gewinnt. Die Armee, die beweisen wird, daß es einen Verlierer Don T. nicht geben wird, weil nicht geben kann, hat sich bereits aufgestellt. Fehlt nur noch das Initial-Wort des Oberbefehlshabers.
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Der gesamte Planet steht vor selbstgemachten Problemen: Klimazerstörung (= Lebensgrundlagenzerstörung), Naturzerstörung (= Lebensraumzerstörung), Rassismus (= Menschenzerstörung), Anthropozentrismus (= Tierzerstörung), alles in allem ein gigantisches Selbstzerstörungsprogramm, das inzwischen dermaßen harte und brutale Gegensatzpaare (Unfehlbarkeitspositionierungen, Dominanzansprüche, Feind-Feind-Automatismen, Auschließlichkeitsinteressen, Allmachtsmentalitäten) erzeugt, daß es unmöglich geworden ist, dem noch mit den herkömmlichen Mitteln der herkömmlichen Politik beizukommen.
Die Politiker und Politikerinnen, die heute in den westlichen Ländern zur Wahl stehen, sind, ausnahmslos alle, weder willens noch fähig, die anstehende Arbeit zu leisten, was heißen würde, diese Gegensatzpaare zugunsten eines für alle Beteiligten verbindlichen Handelns aufzulösen.
Diese neue Zeit einzurichten, einen neuen Typus der Kombination von Nationalpolitik und Weltpolitik aufzubauen, eine neue Art des Denkens zu entwickeln, in völlig anderen Bahnen und Konstellationen sich zu bewegen – das aufzuzeigen und daran mitzuwirken wäre die heutige, morgige und zukünftige Aufgabe eines heutigen, morgigen und zukünftigen Journalismus. Stattdessen ergehen sich unsere Medien (Fernsehen, Presse und Internet gleichermaßen) immer wieder und immer weiter in personalisierten Duellierungs-Phantasien, so wie sie von einer längst in die Irrelevanz abgestürzten Politik vorgegeben werden. Was nichts anderes heißt, als daß auch der an diese Politik angeklebte Journalismus inzwischen vollkommen irrelevant geworden ist. Man kapiert einfach nicht – und da befindet sich der althergebrachte Journalismus der Edelmedien Presse und Fernsehen auf derselben Stufe wie die Propagandisten, Schwätzer, Hetzer und Selbstdarsteller im Schmuddelmedium Internet, nämlich auf der niedrigsten geistigen Stufe –, daß Probleme, die von Systemen erzeugt werden, nicht von Personen gelöst werden können.
Und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich erneut kopfschüttelnd vom Märchen-Journalismus abzuwenden.
© 2020, Felix Hofmann
Als es sie gab, hat Felix Hofmann für die Zeitschrift Filmkritik gearbeitet und sich im Sommer als Zimmermann Geld verdient, das erlaubte ihm zum Beispiel die Freiheit einer Biographie von Peter Lorre: „Portrait des Schauspielers auf der Flucht„.
Zusammen mit Ingrid Mylo hat er das „100-Tagebuch. Documenta (13)“ geschrieben, tatsächlich einhundert Tage lang jeden Tag auf dieser Kunstausstellung. CulturMag-Besprechung hier.
Sein Essay über die Unfehlbarkeit erschien bei uns im Oktober 2018.
Das Planetenspiel – Eine Intervention erschien im Dezember 2019.