Daddy, bitte komm und hol mich nach Hause
Eine Erzählung von Joyce Carol Oates nach einem Gemäde von Balthus – Textauszug.
Lawrence „Larry“ Block hat es wieder getan. Seine letzte Anthologie „Nighthawks“ mit Stories von 17 Autoren zu Bildern von Edward Hopper war ein internationaler Erfolg, die deutsche Ausgabe dabei schöner und besser ausgestattet als das Original. (CrimeMag-Besprechung hier, Larry Blocks Shortstory daraus hier.) Auch jetzt beim Folgeband „Das Mädchen mit dem Fächer. Stories nach berühmten Kunstwerken“ überzeugt der Verlag Droemer mit einer schönen Ausstattung. Wer Kriminalliteratur auch in Kurzgeschichtenform mag, kann sich hier ein prächtiges Weihnachtsgeschenk wünschen – oder es selbst verschenken. So geht Werbung für gute Kriminalliteratur.
Wir haben uns als Textauszug die riskanteste Geschichte eines riskanten, aber hochgelungenen Buches ausgesucht. Joyce Carol Oates hat sich das Gemälde „Die schönen Tage“ von Balthus als Anstoß für ihre Erzählung gewählt. Sie ist die Autorin des vor Kurzem erschienenen Romans „A Book of American Martyrs“ und der Kurzgeschichtensammlung „The Doll-Master“. Ihr Beitrag zur Anthologie „Nighthawks“, The Woman in the Window (dt. Die Frau am Fenster), wurde für „The Best American Mystery Stories 2017“ ausgewählt. Gegenwärtig ist sie Gastautorin des Graduate Writing Program der New York University. Katja Bohnet über „Pik Bube“ bei CrimeMag hier.
Daddy, bitte komm und hol mich nach Hause. Es tut mir so leid, Daddy.
Es ist deine Schuld, Daddy. Ich hasse dich, Daddy.
Nein, Daddy! Ich liebe dich, Daddy, was immer du getan hast.
Daddy, ich stehe hier unter einem Bann. Ich bin nicht ich selbst hier.
Dieser Ort, an dem ich gefangen gehalten werde – ich glaube, er liegt irgendwo in den Alpen. Es ist ein großes altes Gebäude aus Felsgestein, wie ein Schloss. Durch die hohen Fenster kann man die Moore sehen, die sich bis zu den Bergen am Horizont erstrecken. Überall struppiges Graugrün wie unter der Meeresoberfläche. Es herrscht ewiges Zwielicht.
Bei Anbruch der Abenddämmerung kommt Meister. Ich bin in Meister verliebt.
Daddy, nein! Ich liebe Meister kein bisschen, ich habe Angst vor Meister.
Er ist nicht wie du, Daddy. Meister lacht mich aus, verhöhnt mich, schlingt seine dünnen, eisigen Finger um meine und grinst verächtlich, wenn ich vor Schmerz wimmere.
Warum kamst du zu uns gekrochen,ma chère, wenn du dich jetzt so fürchtest?
Daddy, bitte vergib mir. Daddy, verlass mich nicht.
Auch wenn es deine Schuld war, Daddy.
Auch wenn ich dir niemals vergeben kann.
Es trägt zwei Namen. Le grand chalet ist der offizielle.
Le grand chalet des âmes perdues der inoffizielle, der nur im Flüsterton genannt wird.
Es ist wirklich très grand, Daddy. Der älteste Teil von Le chalet datiert aus 1563 (so heißt es: Ich kann mir eine so lange Zeit nicht vorstellen), und das verlassene windgepeitschte Land umgibt es wie ein Burggraben, so unermesslich weit, dass, selbst wenn ich mich so klein machen könnte wie ein verängstigtes Kätzchen, mich durch eines der schlecht schließenden Fenster quetschen könnte, um über das Moor zu entkommen, Meisters Diener seine Wolfshunde auf mich hetzen würden, um mich zu jagen und mit ihren scharfen raubgierigen Zähnen in Stücke zu reißen.
Sollte Meister gnädiger Stimmung sein und nicht auf Vergeltung aus, würden mich die Diener vielleicht in einem Netz, in dem ich zapple, zurückschleifen und auf den Steinboden zu Meisters Füßen werfen.
So haben mich die anderen gefangenen Mädchen gewarnt.
So bin ich von Meister persönlich gewarnt worden, nicht mit Worten, sondern indem Meister einen Finger auf die ängstliche kleine Arterie legte, die so heftig in meiner Kehle pulsiert, mit gerade genug Druck, um klarzumachen – Verrat ist diejenige aller Sünden, ma chère, die nicht vergeben wird.
Ich bin nicht sicher, wo Le grand chalet des âmes perdues steht, aber ich glaube, irgendwo in Osteuropa.
Ein weit entlegener Ort, an dem es keinen Strom gibt – nur Kerzen – hohe, eindrucksvolle Kerzen vom Umfang junger Bäume, umschlossen von solchen Mengen zerflossenen und erstarrten Wachses, dass sie antiken Skulpturen ähneln, gebrochen aus geschmolzenem Stein. Was für Schatten diese Kerzen werfen, die zur vier Meter hohen Decke springen, ihre Schwingen spreizen wie verhungernde Geier, stell dir das vor, Daddy – Le chalet ist nicht im Mindesten wie das Apartment, in dem wir lebten, an der Ecke Fifth Avenue und Seventy-Sixth Street mit Blick aus dem zweiundzwanzigsten Stockwerk auf den Central Park, obgleich (wie Mutter sagte) es auch in diesen Räumen spukte und die Seelen, die dort weilten, sich verirrt hatten.
Hier gibt es zwei Meter breite Feuerstellen und große, rußverschmierte Kamine, in denen (wie geflüstert wird) zu Mumien vertrocknete gefangene Mädchen stecken, in die Falle geraten bei ihrem verzweifelten Versuch, Meister zu entkommen. Weshalb Meister zornig wird, wenn Rauch in den Raum quillt und ein schön geschürtes Feuer gelöscht werden muss, damit man den Kamin reinigen kann.
Ein weit entlegener Ort, Daddy. Wo die Automobile alt, doch äußerst elegant sind, vornehm und schimmernd schwarz wie Leichenwagen.
Es gibt kein Fernsehen in Le chalet. Es sei denn, in Meisters Zimmerflucht – in die keine von uns jemals einen Blick werfen durfte und in die keine von uns jemals gebracht worden ist – steht ein kleines Gerät, doch das ist unwahrscheinlich, da Meister die effete moderne Welt verachtet und selbst das zwanzigste Jahrhundert so vulgär findet wie ein schniefendes, niesendes Mädchen.
Doch gibt es ein altes Radio – ein »Standgerät«. Die Diener nennen es den »Apparat« – in Meisters Wohnzimmer im Erdgeschoss, in das wir manchmal gebracht werden, wenn wir Meister an diesem Tag in seinem Atelier zufriedengestellt haben.
In Meisters Atelier ist es oft sehr zugig. Wind bohrt sich wie kalte, bösartige Finger durch die Ritzen der hohen Fenster, streichelt und kitzelt uns, bringt uns zum Zittern und lässt uns mit den Zähnen klappern, denn wir müssen uns rasch entkleiden, ohne zu murren, und unsere zitternden nackten Körper mit Kimonos bedecken, die uns zu groß sind und aufklaffen, egal wie eng wir die Gürtel binden.
Im Le grand chalet laufen wir häufig barfuß, da Meister ein Bewunderer (wie er sagt) des kindlichen Mädchenfußes ist.
Außerdem kann der nackte kindliche Mädchenfuß nicht einfach über Gestrüpp, Dornen und Kies jenseits der Chalet-Mauern laufen.
In Meisters Atelier müssen wir Modell stehen, stundenlang sehr aufrecht und sehr reglos sitzen, stundenlang sehr aufrecht und sehr reglos stehen oder (einige von uns, die Favoritinnen) mit gespreizten Beinen oder drapiert auf chaises longues liegen, unsere Köpfe in schmerzhaften Winkeln zurückgeworfen. Einige von uns, den Gerüchten zufolge die Favoritinnen, müssen reglos auf dem eiskalten Marmorboden liegen und la mort nachahmen (wie Meister sagt).
Es ist verboten, Meister an seiner Staffelei zu beobachten. Selbst ein flüchtiger Blick auf Meister ist verboten, wenn sich sein Gesicht in Anfällen von Qual, Verlangen, Ekstase verzieht, während er sich zur Staffelei beugt, nur wenige Meter entfernt von uns, außer Atem, mit weichen Knien. Denn Kunst ist ein grausamer Meister, selbst für Meister.
Manchmal verflucht Meister, das Inbild des vornehmen Herrn, seine Pinsel in einer Sprache, die die meisten von uns nicht verstehen. Manchmal wirft Meister einen Pinsel oder eine Farbtube zu Boden wie ein zorniges Kind, das weiß, dass jemand (ein Erwachsener, ein Diener) sie später für ihn aufheben wird.
Zum Glück bedeckt ein fleckiges Leintuch den Marmorboden unter Meisters Staffelei.
Der Anblick von Meisters unzähligen Farbtuben, die willkürlich auf den Tisch neben seiner Staffelei geschleudert scheinen, schockiert uns; Myriaden von Farbtuben, die meisten verschmiert, einige skelettartig und fast trocken, wenige voll und neu erworben; denn der Rest von Le grand chalet ist so nüchtern und ordentlich wie eine geometrische Figur.
Man sagt, Meisters Atelier mit der hohen Decke und den weißen Wänden sei eines der berühmtesten Künstlerateliers der Welt. Lange bevor die Älteste von uns geboren wurde, existierte bereits das Atelier im Le grand chalet des âmes perdues, und noch lange nachdem die Jüngste von uns verschieden ist, wird das Atelier Meisters bestehen, da es von Legenden umwoben ist wie Meister selbst, der (so sagt man) zu den wenigen lebenden Künstlern zählt, deren Arbeiten im Louvre ausgestellt sind.
Meister hat den Ruhm gescheut, wie Meister auch den kommerziellen Erfolg gescheut hat, und doch ist Meister ironischerweise berühmt geworden, und Meister ist einer der erfolgreichsten Maler der sogenannten »Moderne«; seine Gemälde sind ungewöhnlich groß, penibel gemalt und übermalt, förmlich, ziemlich streng, »klassisch« – selbst wenn ihre Modelle nackte oder nur dürftig bekleidete junge Mädchen in lässigen Posen sind.
Meister beharrt auf der Unpersönlichkeit der Kunst. Meister hat sich für ein Leben abseits des Lärms der großen Städte entschieden – Paris, Berlin, Prag, Rom. Meister verachtet die elitäre Kunstwelt ebenso, wie er die Medien verachtet, deren paparazzi ihn nichtsdestotrotz verfolgen. Meister wird für den Ernst seiner Kunst und für seinen Perfektionismus verehrt: Meister arbeitet jahrelang an einem einzelnen Bild, ehe er es seiner (Pariser) Galerie überlässt. Jeder seiner seltenen Ausstellungen hat Meister eine Erklärung vorangestellt:
Leben ist nicht Kunst
Kunst ist das Leben, über das nichts bekannt ist
Richten Sie Ihren Blick auf die Bilder
»Der Rest ist Schweigen«
Dennoch, die Medien bewundern Meister als Nobelmann und Künstler, der in einsiedlerischem Exil in einer romantischen, abgelegenen Ecke Europas lebt.
In Meisters Atelier hört die Zeit auf zu existieren. In Meisters Atelier umwabert mich der Bann wie Äther. Meine Arme und Beine, mein träges Wesen auf dem grünen Sofa – so schwer, dass ich mich nicht rühren kann.
Meister hat meinen Arm im engen Ärmel drapiert, Meister hat das enge Mieder geöffnet, sodass meine sehr kleine rechte Brust entblößt ist; Meister hat meine nackten Beine arrangiert, und Meister hat Pantoffeln aus zartestem Satin über meine exquisiten kindlichen Mädchenfüße gestreift, in denen man nicht einmal quer durch ein Zimmer laufen könnte; Meister hat eine Kette um meinen Hals gelegt, aus kleinen Edelsteinen, die eine erwachsene Schönheit schmücken würden (wie Meister gesagt hat: Die Kette hätte einer von Meisters Frauen gehören können).
Und Meister hat mir einen kleinen Handspiegel gegeben, in den ich schauen soll, hypnotisiert von dem, was ich sehe: das hübsche Puppengesicht, die kecke kleine Nase und die schmollenden Lippen, die ich sind.
Wie bin ich in diese Gefangenschaft geraten? – Ich denke an nichts anderes.
Daddy, ich bin vor dir weggelaufen. Ich bin vor ihr weggelaufen.
Zu Beginn war ich mit Mutter dort, verbrachte ruhelose Stunden in dem großen Museum, das man von unseren Fifth-Avenue-Fenstern sehen konnte. Mutter mit dunkler Brille, damit man ihre geröteten Augen nicht sah und niemand, der sie kannte (oder dich kannte), sie erkannte. Mutter, die meine Schwester und mich am Arm hinter sich herzerrte, uns die Freitreppe hinaufdrängte, auf der Suche nach etwas, das sie nicht hätte benennen können – dem Trost der Kunst, der Unpersönlichkeit der Kunst, der Flucht der Kunst.
Das Rätsel der Kunst, das uns mit der Macht, unsere Wunden zu heilen oder noch größere Wunden zu reißen, verwirrt.
Schon bald schlüpfte ich davon, um allein hinzugehen. Eine Neuheit in diesem Museum, ein Kind, so jung, allein …
Doch ich war reif für meine Jahre und meine Größe. Es fiel mir nicht schwer, Besucher zu erkennen, denen ich mich in der gewöhnlich vollen Eingangshalle nähern und sie bitten konnte, mir eine Eintrittskarte zu kaufen und mich mit hineinzunehmen, als würde ich zu ihnen gehören … Selbstverständlich gab ich ihnen das Geld für meine Eintrittskarte. Sehr gerissen borgte ich ihnen sogar Mutters Mitgliedskarte (für diesen Zweck entwendet), um die Sache zu erleichtern.
In der Regel wählte ich Frauen aus. Nicht jung, nicht alt, in Mutters Alter, nicht glamourös (wie Mutter), sondern mütterlich wirkend. Anfangs waren sie von meiner Frage überrascht, doch freundlich und kooperativ. Es war nicht schwer, diesen Frauen vorzumachen, du oder Mutter würdet im Café im amerikanischen Flügel auf mich warten, und ihrer Aufsicht zu entfliehen, sobald wir drin waren.
Sehr bald begann ich in diesem großartigen Museum vor einer Reihe von Gemälden von einem europäischen Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts zu verweilen, den ich als Meister kennenlernen sollte.
Wie mich diese Bilder bannten! Ich konnte nicht wissen, dass es der Bann der Verzauberung und Verstrickung war, der Trägheit, die eines Tages meine Glieder erschlaffen lassen würde wie ein bösartiges Beruhigungsmittel.
Es waren große traumähnliche Gemälde, ausgeführt in der formellen, ruhigen und gedämpften Schönheit der älteren klassischen europäischen Schule, die Mutter zu bewundern bekannt hatte, doch ihre Motive waren weder biblische noch mythologische Gestalten, sondern Mädchen – einige davon jünger als ich. Trotz der Umgebung, die sehr verschieden von der Umgebung in meinem Leben war, schienen die Mädchen mir vertraut, mehr Schwestern als meine eigene Schwester, die zu jung und zu albern für mich war und mit ihrem Geplapper ständig meine Gedanken störte.
Besonders hatte es mir das Gemälde eines Mädchens angetan, das mir ähnlich sah. Es lag auf einem kleinen Sofa in einem altmodischen Salon. (Noch kannte ich das Wort für diese Art von Möbel nicht – chaise longue.) Das Mädchen war wie ich, nur älter und klüger. Seine Augenbrauen waren dünn wie kunstvoll gestrichelte Bleistiftlinien, während meine dicker waren, doch nicht so fest umrissen. Seine Augen waren meine Augen! – doch klüger und gedankenverloren. Sein kupferfarbenes welliges Haar ähnelte dem meinen, doch in altmodischem Stil. Seine puppenhaften Züge, die zartknochige Nase und die traurig geschürzten Lippen – wie meine, aber es war wesentlich hübscher als ich und ätherischer. Und es betrachtete sich mit einem Ausdruck gelassener Selbstversonnenheit in einem kleinen Handspiegel – unmöglich für mich, die ich mein Gesicht zu verabscheuen gelernt hatte.
Seltsam an dem Bild war, dass das Mädchen auf dem Sofa sich einer anderen Gegenwart in dem Zimmer, nur wenige Meter entfernt von ihm, nicht bewusst zu sein schien: Ein gebeugter junger Mann schürte ein loderndes Feuer im Kamin, dessen pulsierende Hitze und Licht man vor dem Gemälde stehend beinah spüren konnte.
Wenn man sich dem Bild aus einiger Entfernung nähert, sieht man tatsächlich als Erstes dieses »lodernde« Feuer, das direkt ins Auge springt, ehe man die kleine, auf dem Sofa liegende Gestalt wahrnimmt, die verträumt ihr Spiegelbild betrachtet.
Ist das nicht seltsam, Daddy? Und doch, falls das Mädchen auf dem Sofa das Mädchen in einem Traum ist und der Traum des Mädchens wiederum ihr hübsches Puppengesicht, ist es nur folgerichtig, dass es sich einer anderen Gegenwart nicht bewusst ist, obwohl sie so nah ist; die gebeugte Gestalt ist männlich, aber sie ist gebückt, sicher ein Diener, nicht Meister.
Jeden Tag nach der Schule besuchte ich das Museum. Jeden Tag verweilte ich länger vor diesem Bild – Les beaux jours. Anfangs dachte ich, der Titel würde »Die schönen Augen« bedeuten – aber jours heißt Tage, Augen heißt yeux.
Und so lautet der Titel – Die schönen Tage.
Tage der Verzauberung, Verzückung. Noch nicht der Verstrickung.
Schöne Tage vollkommenen, gelassenen Friedens. Vollkommen genug, um nur in den kleinen Handspiegel zu schauen und keinen Gedanken auf die hauchdünnen Satinschuhe zu verschwenden, die an der Flucht hindern würden, versuchte man zu entkommen, und auf das warme, hell lodernde Feuer, das wenige Meter entfernt von einem gebeugten gesichtslosen Diener geschürt wird.
Andere Gemälde des Künstlers, dessen Namen ich nicht aussprechen darf – (denn Meister auf diese Weise zu nennen ist uns verboten, ebenso wie den Dienern des Le grand chalet) –, faszinierten mich genauso, und jedes davon hätte mich gefangen nehmen können: Thérèse rêvant – Jeune fille à sa toilette – Nu jouant avec un chat – La victime – La chambre.
Schwach konnte ich ihre Schreie vernehmen. Der gefangenen Mädchen in den Bildern, die (noch nicht) ich waren.
So schwach, dass ich vorgeben konnte, sie nicht zu hören. Während ich mich umschaute, die anderen Besucher des Museums betrachtete, die uniformierten Wärter, die kaum Notiz von mir nahmen, einem elfjährigen Kind, scheinbar allein im Saal, das vorahnungsvoll bebte – in welcher Vorahnung genau hätte ich nicht sagen können.
(Und was wäre über die Museumswärter zu sagen? Haben auch sie nichts gehört? Waren sie gleichgültig geworden, gelangweilt von Schönheit wie Leid, als wäre es nur Farbe und Leinwand, nur Fassade ohne Tiefe? Werden sie auch mich nicht hören, wenn ich um Hilfe rufe?)
Draußen vor dem Museum der Lärm der New Yorker Straßen. Hohe Laubbäume, der riesige grüne Park. Am Bordstein vor dem Museum an der Fifth Avenue reihen sich die Taxis am Fuß der großen Pyramide aus steinernen Stufen.
Straßenverkäufer den ganzen Block entlang. Es sind ausschließlich US-Veteranen, das ist vorgeschrieben. Der Geruch von heißem Fleisch ist für uns von Mangelernährung Geschwächte beinah überwältigend.
Unser Apartment an der Ecke Fifth Avenue und Seventy-Sixth Street. Mit Blick über den Park aus dem zweiundzwanzigsten Stock. So hoch, dass wir nichts hörten. Kein Ton drang von den Straßen an unsere Ohren. Wenn ich die Hände auf die Ohren drückte, vernahm ich kein Schluchzen. Ich hörte nicht einmal mein eigenes Schluchzen, noch das wilde Pochen meines Herzens.
Elf an meinem letzten Geburtstag. Als du noch bei uns gewohnt hast, Daddy, obwohl du häufig über Nacht weggeblieben bist. Und du hattest versprochen – Natürlich werde ich dich und deine Schwester und deine Mutter nicht verlassen; und selbst wenn ich mich von deiner Mutter trenne – vorübergehend! –, bedeutet das nicht, dass ich dich und deine Schwester verlasse. Nein.
Doch als du gingst, mussten wir in ein anderes Apartment in einem niedrigeren Stockwerk ziehen. Du hattest uns für ein anderes Leben verlassen, sagte Mutter. Sie weinte bitterlich. Sie kam tagelang nicht aus ihrem (durchsichtigen) Nachthemd heraus.
Männer tauchten auf, um Mutter zu besuchen, aber sie blieben nie lang. Wir hörten ihr lautes, bellendes Gelächter. Wir hörten das Klirren von Gläsern, Flaschen. Wir hörten unsere Mutter kreischen.
Wir hörten den hastigen Aufbruch der Männer in den frühen Morgenstunden: stolpernd, fluchend. Drohungen. Gelächter.
Jenny flüsterte mit weit aufgerissenen Augen – Einer von ihnen wird sie umbringen. Sie erwürgen.
(Du hältst es für unwahrscheinlich, dass ein acht- oder neunjähriges Kind so etwas sagt? Nicht einmal flüsternd zu seiner elf Jahre alten Schwester? Glaubst du wirklich, Daddy? Wolltest du das glauben?)
(Ein Daddy ist jemand, der glauben will, was ihn schützt. Nicht, was seine Kinder beschützt.)
Wir wussten nichts über das Erwachsensein. Gleichzeitig wussten wir alles über das Erwachsensein…
Auszug aus: Joyce Carol Oates „Die schönen Tage“ – die Erzählung geht noch viel weiter, viel weiter. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages – und Grüßen von Larry Block an die deutschen Leserinnen und Leser seiner Anthologie.
Lawrence Block (Hrsg.): Das Mädchen mit dem Fächer. Stories nach berühmten Kunstwerken. (Alive in Shape and Color, 2017). Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Czwikla. Geschichten von Lee Child, Michael Connelly, Jeffery Deaver, Joyce Carol Oates, Joe R. Lansdale, Thomas Pluck, Sarah Weinman, Jonathan Santlofer, S. J. Rozan u.a., nach Kunstwerken von Auguste Renoir, Paul Gauguin, Hieronymus Bosch, Norman Rockwell, Georgia O`Keeffe, Salvador Dalí, Vincent van Gogh, Hokusai, René Magritte, Auguste Rodin, Michelangelo Buonarroti u. a. Droemer Verlag, München 2018. 352 Seiten, farbige Abb., 29,99 Euro. Verlagsinformationen.
Und siehe auch:
Lawrence Block: Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper (In Sunlight and Shadow. Stories Inspired by the Paintings of Edward Hopper, 2016). Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Czwikla. Hardcover, mit Farbabbildungen. Droemer Verlag, München 2917. 320 Seiten, 29,99 Euro. Verlagsinformationen.