Du warst ein böser Bube, Andrew!
Katja Bohnet sitzt selbst oft an der Schreibmaschine und erfindet bizarre Handlungen und Charaktere – ein CrimeMag-Besuch bei ihr anlässlich ihres letzten Romans „Kerkerkind“ hier. Für diese Besprechung hat sie ihrer Kollegin Joyce Carol Oates über die Schulter geschaut, die einem Autor über die Schulter schaut, der ein Doppelleben führt und seinem Autor über die Schulter …
Andrew J. Rush arbeitet als Schriftsteller, hat drei Kinder und eine entzückende Ehefrau. Er schreibt Thriller, bewundert Stephen King und ist beinahe so erfolgreich wie sein weltbekannter Kollege. Aber der Neid nagt an ihm: Warum andere Schriftsteller berühmter sind, will ihm nicht einleuchten. Schon seit Jahren schreibt Rush unter dem geschlossenen Pseudonym Pik-Bube eine ganz andere Art Kriminalroman: brutaler, direkt und gnadenlos. Diese Auswüchse seiner Phantasie hält er vor seiner Familie geheim. In einer Mischung aus Mystery und Horror werden keine Gefangenen gemacht. Hier lebt der Autor seine dunkle Seite aus. Wenn Pik-Bube Andrew J. Rush die Feder führt, fließen die Worte nur so aus ihm heraus. „Seine“ Romane verkaufen sich erstaunlich gut.
Es verdrängt Ich
Unbegreiflich also, wie eine gerichtliche Klage die gelebte Symbiose von Ich und Es ins Wanken bringt. Jemand verklagt den Schriftsteller wegen Diebstahl und Plagiat. Rush ist am Boden zerstört. Eine erfolglose Autorin und Querulantin behauptet, er stehle ihre Ideen. Rush ist fassungslos. Er arbeitet unermüdlich und ist sich keines Fehltritts bewusst. Aber die Anschuldigungen verfolgen ihn bis in den Schlaf. Pik Bube scheint derweil ein Eigenleben zu entwickeln. Sein Alter Ego hetzt ihn auf. Wider besseres Wissen beginnt Rush, der Klägerin nachzustellen. Rush wähnt seine gesamte Existenz in Gefahr. Er ist sich zwar keiner Schuld bewusst, aber die anstehende Gerichtsverhandlung streßt ihn enorm. Er beginnt zu trinken, entfremdet sich von seiner Familie, besonders von Tochter und Frau. Rush fängt an, wie Pik Bube zu denken: grausam und brutal. Langsam aber sicher übernimmt sein Pseudonym die Macht. Rush, ein eher biederer Zeitgenosse — selbstgefällig und eher passiv veranlagt — schreckt selbst vor Einbruch und Diebstahl nicht zurück. Je mehr das Es nach oben drängt, desto mehr verliert das Ich an Boden. Rush ist von Frauen umgeben, die er langsam aber sicher ruiniert. Doch was passiert tatsächlich? Und was genau hat Rush verdrängt?
Joyce Carol Oates hat die unglaubliche Menge von bereits siebzig Werken veröffentlicht, darunter Romane, Dramen, Gedichte und Kurzgeschichten. In ihrem Roman „Pik-Bube“ rechnet sie subtil mit männlicher Hybris ab. Egal ob Konkurrentin (Klägerin), Wegbereiterin (Ehefrau), feministische Nachfolgerin (Tochter) des Schriftstellers, sie alle leiden unter dem männlichen Wahn. Aber auch Männer kommen zu Schaden. Rush (oder Pik-Bube) schreckt nicht vor tatsächlichen Verbrechen zurück. Die selbst erdachte Fiktion dringt in das Leben des Schriftstellers ein, bis sie es schließlich völlig übernimmt. Die Grenzen sind fließend, verschwimmen schließlich ganz.
Der Roman als Experimentierkasten
Das Experiment ist interessant: Werden wir früher oder später zu dem Geschöpf, das wir erfunden haben? Können Schreibtischtäter zu echten Verbrechern werden? Was muss geschehen, damit eine bürgerliche Existenz ins Wanken gerät? Was sind wir bereit zu tun, um uns das zu beschaffen, was wir begehren? Und: Ist Sublimierung möglich oder nur ein psychologischer Verdrängungskniff auf Zeit? Frauen, die mit Rush in Kontakt kommen, sind zunächst die Verliererinnen in diesem perfiden, männlich egomanen Spiel. Sie sind gleichzeitig diejenigen, die erkennen, warnen, einschreiten.
Wenn man etwas an diesem Roman kritisieren will, dann höchstens, dass diese Geschichte sich in einem zutiefst langweiligen, gut bürgerlichen Milieu bewegt. In einem Umfeld, in dem Erstausgaben von Romanen noch das höchste der Gefühle sind. In dem große Gärten und Bibliotheken eine Rolle spielen. Sogar die Räumlichkeiten sind angestaubt. Die Figuren entspringen ihrer Welt. Der Welt der Besserverdienenden, Sorgenfreien. Beinahe wirkt diese Erzählung wie aus der Zeit gefallen, leicht entrückt. Oft meint man zu bemerken, wie sich die Geschichte in schwarz-weiß abspielt. Vorbild vielleicht: ein alter Edgar-Wallace-Film. Nicht umsonst geistert Edgar Allen Poe in Frack und Halstuch durch den Roman. Das Grauen in der Oberschicht anzusiedeln, wirkt jedoch nachvollziehbar und intelligent.
Geschickt bindet die Autorin in ihre Geschichte zahlreiche literarische Referenzen ein. Ihr Protagonist, sein Alter Ego, Stephen King, Poe, Bram Stoker, vielleicht sogar die Autorin selbst: Alle spiegeln sich. Auf dem Cover von „Pik Bube“ steht „Roman“. Wie austauschbar und den Moden des Marktes unterworfen diese Begriffe doch sind. Es könnte tatsächlich „Psychothriller“ auf der ersten Seite stehen, denn das Spiel mit Wahrheit oder Einbildung, Realität und Wahn ist zentral. Die größte Relevanz dieses Buches besteht jedoch in der subtilen und entlarvenden Beleuchtung der Geschlechterrollen. Darauf versteht sich eine erfolgreiche Schriftstellerin wie Joyce Carol Oates nach unzähligen Jahren im Literaturbetrieb.
Katja Bohnet
Joyce Carol Oates: Pik Bube (Jack of Spades, 2015). Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frauke Czwikla. Droemer Verlag, München 2018. 208 Seiten, Hardcover, 19,99 Euro.
Katja Bohnets aktuelles Buch hat den Titel „Kerkerkind“.
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