Geschrieben am 15. Juni 2016 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Essay: Markus Pohlmeyer: theopoesis: wie echnaton und thomas mann gott (er)fanden

Echnaton

Markus Pohlmeyer hat sich Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“, der Entstehung des Monotheismus in der Enität Echnaton – Aton und der menschlichen Individuationsgeschichte gewidmet. Hochaktuell, weil:

„Echnaton war vielleicht der erste Fundamentalist der Geschichte und ist deshalb gerade heute wieder eine sehr aktuelle Gestalt, der man in aller Kritik Respekt und Sympathie schwer versagen kann.“ Aber Monotheismus und Gewalt stehen in einem prekären Verhältnis.

Einleitung

Echnaton verfasste ungefähr 1345 v. Chr. den kleinen und großen Sonnenhymnus.[1] 1933 erschien der erste Band der Josephs-Tetralogie, der vierte und letzte Band 1943.[2] Dazwischen liegen fast 3300 Jahre. Thomas Mann hatte Ägypten 1925 und 1930 bereist. Echnaton ist im Roman Pharao der Josephs-Ära. Und Textanspielungen auf die Sonnenhymnen stehen an zentraler Stelle, wie z.B. in der berühmten Traumdeutung.[3] Peter Sloterdijk bezeichnet Thomas Manns Tetralogie als „[…] das heimliche Hauptwerk der modernen Theologie […].“[4] So eine Gotteserfindung scheint aber nicht unproblematisch: Sloterdijk merkt an, Joseph sei „[…] dank einer erneuten List der »Entstellung« außerhalb der theologischen Fakultäten […] entstanden“[5]. Echnaton verfiel einer damnatio memoriae. Und der platonische Sokrates z.B. hat sich mit dem für ihn tödlich ausgehenden Vorwurf auseinanderzusetzen, er fingiere/mache neue Götter;[6] und implizit schwingt da mit, er zerstöre – anachronistisch gesprochen – die athenische Ehe von Altar und Thron.

1. Im Lichte Echnatons

1.1 Auf dem Weg zu Aton

Im letzten Satz des Romans bezeichnet Joseph das Geschehen als „schöne Geschichte und Gotteserfindung“[7]. Auch Pharao bezeichnet Joseph bisweilen als einen Propheten, der jedoch nicht schäume oder tot umfalle. Navid Kermani unterscheidet in seinem Buch „Gott ist schön“ „[…] zwischen dem Seher, der vermöge einer erlernten Technik das Verborgene entdeckt, und dem Propheten[8], dessen prophetisches Talent angeboren ist […].“[9] In einer gewissen Weise wäre dann Th. Mann der Seher, hochgebildet, hochstilisiert, hoch ironisch, der einem vorhandenen Stoff eine neue Lesart entlockt, hervorzaubert. Echnaton wäre der Prophet, enthusiastisch, Mund und Sohn seines Gottes; in der Praxis ging er sogar weiter: „Schon zu Lebzeiten erhielt der König in Amarna einen eigenen Kult […]. Im offiziellen dogmatischen System von Amarna bedurfte es keiner weiteren Götter mehr, denn das Königspaar hatte deren Funktionen vollständig assimiliert.“[10]

Echnaton/Wohlgefällig-dem-Aton ist der erste, historisch (archäologisch und literarisch) fassbare Begründer eines Monotheismus: „Wir können sogar die ‚Biographie‘ des Gottes Aton nachvollziehen, wenn es zunächst heißt, es gäbe ‚keinen wie ihn‘ und später, es gäbe ‚keinen außer ihm‘. Einmalig in der Religionsgeschichte kann man den Phasenübergang vom Polytheismus über Henotheismus zum Monotheismus nachzeichnen.“[11] Folgende ausgewählte theologische Konturen Atons lassen sich im Großen und Kleinen Sonnenhymnus[12] ausmachen: Aton ist ein Schöpfungsgott: „Du schaffst Millionen von Gestalten aus dir allein: / Städte, Dörfer und Felder, Straßen und Flüsse.“[13] Neben dem üblichen Topos der Erschaffung alles Lebendigen und Physikalischen kommen hier noch ursprünglich menschliche Organisationsformen hinzu. Und aus dem Kleinen Hymnus: „[… D]u bist Mutter und Vater für all dein Geschaffenes!“[14] Und das heißt auch in der Konsequenz, dass ein Modell von Inklusion entsteht: „Sogar alle Fremdlandbewohner, die fern sind, erhältst du am Leben […].“[15] Aton ist singulär: „O alleiniger Gott, von dessen Art es keinen anderen gibt! / Du erschaffst die Erde nach deinem Wunsch, / und zwar ganz allein […].“[16] Zwar wirkt Aton als Grund von allem; aber ob er sich vom Schicksal seiner Schöpfung: ihrer Vergänglichkeit, ihres Leides, dem menschlichen Sterben affizieren lässt, bleibt offen.

Echnaton ist – exklusiv – der einzige Prophet seines Gottes, gewissermaßen die politisch-institutionelle wie poetisch-theologische Verbalinkarnation Atons: „Es gibt keinen anderen, der dich kennt / außer deinem Sohn […], den du über deine Absichten / und über deine Macht im Klaren sein lässt.“[17] Eine Geburtsmetapher verbindet die Gottessohnschaft Echnatons mit der Autogenese Atons, wie es  der kleine Hymnus ausdrückt: „Möge er (= Aton) seinen erhabenen Sohn gebären, / […] genau wie sich (selbst) ohne Unterlass […].“[18]

1.2 Revolution und Provokation im Bild-Programm der Amarna-Kunst

Amun

Amun

Auf der ikonographischen Ebene hatte Echnatons monotheistische Revolution provokative Folgen, die auch oft Widersprüche in ihrer Deutung auch heute noch hervorrufen. Grund dafür könnte nach Christian Bayer „[…] die vom König beabsichtigte Monopolisierung des theologischen Systems auf den Sonnengott und auf seine eigene Person sein, was dem Konzept eines universalen »Götterkönigs« Amun zuwiderlief.“[19] Der Bruch war radikal: „Zeigten traditionelle Bildwerke die Pharaonen stets mit athletischem Körperbau und idealisierten Gesichtszügen, so erscheinen König und Königin jetzt mit schmalen Schultern, dünnen Armen, dicklichem Bauch und breiten Hüften. Auch die Gesichter wirken durch ein überlanges Kinn, aufgeworfene Lippen und schlitzförmige Augen äußerst expressiv.“[20] Anders gewendet: mag dies nun ein Realismus sein als Reaktion auf vermutete körperliche Merkmale Echnatons oder expressive Androgynität, weil Aton jenseits von Mann und Frau steht, es handelt sich auf jeden Fall um Formen eines Ikonoklasmus, die mit den traditionellen Bildprogrammen brechen. Aton selbst wird als Scheibe bzw. Kugel dargestellt, von der Strahlen ausgehen, manchmal auslaufend in der Hierogplyhe anch. „Mehrere erhaltene Altarstelen zeigen das Königspaar unter dem Ikon des Strahlenaton als die ‚Heilige Trinität‘ von Amarna nach dem Vorbild der traditionellen Götterfamilien […].“[21] Neben dem theologischen Programm – Echnaton als einziger Sohn seines Gottes – überrascht auch die Beobachtung, dass Nofretete in einer berühmten Familienszene auf einer Höhe und somit auf gleichen Bedeutungsniveau wie der Pharao dargestellt wird!

1.3 Kritik

Nach 9/11 verschärfte Diskussion um die strukturell bedingte Gewaltbereitschaft der monotheistischen Religionen; und im Kontext der folgenden Debatten gewann Echnaton immer mehr an Bedeutung. „Echnaton war vielleicht der erste Fundamentalist der Geschichte und ist deshalb gerade heute wieder eine sehr aktuelle Gestalt, der man in aller Kritik Respekt und Sympathie schwer versagen kann.“[22] Nach Echnatons Tod wurden die alten (polytheistischen) Kulte wieder hergestellt, Kulte, die einst durch politische Macht Aton weichen mussten. Ein monotheistischer Tiefenstrom ist geblieben; Teile des Sonnenhymnus fanden z.B. Eingang in Psalm 104. Jan Assmann fasst die Bedeutung dieses Pharaos zusammen: Echnaton „[…] war es, der als Erster die religiöse Tradition verworfen, die Namen und Bilder der Götter ausgelöscht, die Tempel geschlossen und die Kulte der als inexistent erklärten Götter verboten hat. Wenn man einmal von allen inhaltlichen Unterschieden ihrer religiösen Lehre absieht, hat Echnaton dieselbe revolutionäre Tat vollbracht, die die Bibel Mose zuschreibt. […] Echnaton ist […] eine Figur der Geschichte, die vergessen wurde und aus der Tradition verschwand. Mose dagegen ist eine Figur der Tradition, von der es keine geschichtlichen Spuren gibt.“[23]

Bilanz I

Echnatons Theopoetik ist prophetisch und eine Theo-Doctrina, eine Lehre von Gott. (1. Bestandteil des Komposition als genitivus subiectivus: Echnaton ist Prophet seines Gottes!)

2. Die Fiktion des „Ganzen“ in der Joseph-Tetralogie

2.1 Abraham und Gott

Der Abraham dieses Romans deduziert Gott gewissermaßen über ein Reduktionsverfahren. Aus dem logisch über Dependenzen begründeten Ausschlussverfahren sinnlicher Phänomene (auch die Sonne wird darunter fallen!) entsteht gewissermaßen ein quasi transzendentallogisches a priori, als Bedingung der  Möglichkeit, Gott zu denken. Dabei durchläuft Abraham narrativ – bzw. es wird erzählt, wie Abraham verschiedene Religionstypen narrativ durchläuft: Pantheismus/Polytheismus, Henotheismus und Monotheismus. Am Ende steht eine stabile Fiktion Gottes: die causa sui, aber mit einer provokativen ethischen Konsequenz: „Er war nicht das Gute, sondern das Ganze.“[24]

echnaton78-3-10-048333-1Wenn man die schier unglaubliche Länge mancher Sätze im Roman berücksichtigt,[25] wirken die minimalistischen Kurzsätze manchmal wie ein Schock: Es ist so, als fände man in einer byzantinischen Kirche plötzlich ein Schwarzes Quadrat an der Ikonenwand! Das Durchstreichen der Fixierung auf ein Prädikat gut in der Gottesbeschreibung geht meiner Meinung auch über die bekannte, gefährlich dualistische Alternative hinaus:  Gut contra Böse. Die Umwandlung aber in Gut und Böse stellt der Theodizee-Problematik eine nicht minder leichte Aufgabe. Und ich favorisiere eine weitere Lesart, nämlich im Sinne des Cusaners: Gott steht jenseits aller Attribute, auch jenseits der Zuschreibung von Sein oder Nicht-Sein,[26] eine Lesart, welche die semantische Drift im dem Wort „das Ganze“ erlauben mag. Und noch eine Schwierigkeit mehr, scheinbar: einen eindeutigen ontologischen Status dieser Abrahams-Gott-Figur hält der Roman offen; innerhalb der Roman-Fiktion ist sie jedoch sehr real. Und es gibt kein Außerhalb zum Innerhalb dieses Roman![27]

Joseph interpretiert Gott als Spiel- und Rollenorganisator des Geschehenen[28], so dass Joseph, nicht mehr nur Gefangener der mythischen Wiederkehr des Immer-Gleichen, nun freiwillig am Spiele teilnimmt: fast im Sinne Kierkegaards, dass vor der Freiheit der Wahl die Wahl der Freiheit steht. So kann Jan Assman jenseits der Gewaltdebatte um den Monotheismus einen wichtigen Aspekt betonen: „Monotheismus ist emphatischer Individualismus, die Religion des sich seiner Würde innegewordenen Individuums. Erst dem aus dem mythischen Kollektiv emanzipierten Subjekt gelingt die Entdeckung Gottes.“[29] Auch Gott individualisiert sich. Er und Joseph durchlaufen beide einen pädagogischen Prozess: der eine von der wichtigtuerischen Petze zum verantwortungsvollen, aber durchaus kapitalistisch orientierten Staatenlenker, der andere 51cegfiomZL._SX344_BO1,204,203,200_vom Menschenopfer-Kriegergott zum humanen, ein wenig ironischen Künstler. „Joseph und seine Brüder ist Thomas Manns eigentliche Antwort auf Hitler. An den Gründungsgeschichten des Volkes Israel zeigt er die Gründungsgeschichte der Humanität.“[30]

Gott lässt sich, in Analogie gesprochen, emotional affizieren, sich in die Menschheitsgeschichte verstricken, um eine Metapher aus der Hermeneutik Wilhlem Schapps aufzugreifen. Anders formuliert: da wir ein Geschichten erzählendes Wesen sind, wird Gott auch nur über Geschichte/n für uns erfahr- und begreifbar. Nach Schapp gibt es kein jenseitiges Außerhalb von Geschichten. „Man könnte z. B. fragen, ob diese Welt, ob Erde, Sonne, Mond und Sterne nicht auch sind, wenn sie nicht gedacht werden. Hier handelt es sich aber wohl um ein Scheinproblem, welches man leichter durchschauen kann. Bei uns trennt sich nicht Welt in Sein und Denken, sondern diese Welt ist zwar nur in Geschichten und über Geschichten, aber in der Weise dessen, was in Geschichten vorkommt, ist sie ständig im Horizont der Ich- und Wirgeschichten. Es hat keinen Sinn, nach einem Dasein außerhalb dieser Geschichten zu fragen.“[31] Wie Abraham denkt Thomas Mann oder der Erzähler des Romans diesen Gott hervor – oder anders gewendet: der Roman könnte auch als Gottespoetik gelesen werden. Theo-poetik ist hier zu verstehen als genitivus obiectivus Theo- steht für ein Objekt, ein Ergebnis des poetischen Prozesses.

2.2 Abrahams Gottesfiktion

Am Anfang steht eine philosophisch-dogmatische Leistung des Intellekts: Gott wird hervorgedacht. Das kann bedeuten: entweder handelt es sich um ein vollkommen neues Konzept oder um etwas zwar Vorhandenes, aber Noch-nie-Gedachtes, das jetzt frei gelegt wurde. Das deduzierende Ausschlussverfahren, anders gewendet: Im Sinne Gadamers[32] könnte es sich um eine methodisch generierte Wahrheit handeln, deren Wahrhaftigkeit noch zu klären wäre, oder im Sinne Platons um eine Anamnese.[33] Oder noch einmal anders gewendet, ikonoklastisch: Du sollst dir kein Bild von Gott machen! Die stabile Fiktion Abrahams gerät gewissermaßen unter den Index des Vorbehaltes.

Gott ist monistisch, ein All-Einheitsprinzip (bei Echnaton reduziert auf die Sonne), mit beängstigenden Konsequenzen. Damit wird das Problem der Theodizee eingeholt, worauf Echnatons Hymnen keine Antwort geben. „[…A]uch die Finsternis, das Böse und unberechenbar Schreckliche, auch das Erdbeben […], der Heuschreckenschwarm […] waren von Gott, und hieß er der Herr der Seuchen, so darum, weil er zugleich ihr Sender war und ihr Arzt.“[34] Das ist natürlich eine Anspielung auf den Apoll der homerischen Ilias. Aber: war Gott ebenso Auschwitz? Und wie kann Abrahams Fiktion normative Kraft haben? Ist sie hypothetisch, ist sie kategorisch? Das muss hier unbedacht bleiben.

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Die Erzählung löst die Dogmatik ab: „Vieles noch wußte Urvater von Gott zu lehren, aber er wußte nichts von Gott zu erzählen […].“[35] Gott hat keine Göttereltern, Göttergattin, Götterkinder. Damit ist ein möglicher regressus ad infinitum ausgeschlossen. Abrahams denkerische Leistung hat im Roman  auch die Funktion einer Rückblende: in meiner Ausgabe werden nach diesem religionsphilosophischen Urknall noch über 1000 Druckseiten folgen! Die narrative Leerstelle Gott wird im Grunde aufgehoben durch die Geschichten, die der Roman erzählt als Folge der Entdeckung Gottes durch Abraham. Und dies ermöglicht erst die Erzählung von jener Entdeckung damals. Die folgenden Geschichten sind vor allem Reisen: Joseph reist (unfreiwillig) nach Ägypten, die Brüder reisen (notgedrungen) nach Ägypten, und Gott erweist sich keineswegs als lokal begrenzt, sondern er reist mit – aber wegen seiner Ganzheit ist er schon da, wurde ja ebenfalls hervorprophezeit von Echnaton – wenn auch nicht mit der radikalen, letzten Konsequenz eines Abraham. Dessen Religion wird Traditionen stiften, die auch in ein Christentum und einen Islam münden, während Echnaton einer damnatio memoriae verfallen sollte.

Das Verhältnis von Absolutem und Kontingentem wird am Verhältnis von Ich und Du beschrieben, denn Abraham und Gott standen ja schon immer auch für ihre Umwelt (Mitmenschen und Engel) auf sehr bedenklich vertrautem Fuße. Religionsphilosophisch tut sich wieder ein Abgrund auf, was hier nur skizziert werden kann: „Sie waren zwei, ein Ich und ein Du, das ebenfalls »Ich« sagte und zum anderen »Du«. Schon richtig, dass Abram die Eigenschaften Gottes mit Hilfe der eigenen Seelengröße ausmachte – [… Es] blieb Gott aber doch ein gewaltig Ich sagendes Du außer Abraham und außer der Welt. Er war im Feuer, aber nicht das Feuer, – weshalb es höchst fehlerhaft gewesen wäre, dieses anzubeten.“[36] Dieser Text verhindert eine platte Ineinssetzung von Monismus mit Pantheismus und eröffnet narrativ eine Brücke in die Denkform des Pan-en-theismus. Und dieser Text eröffnet ebenfalls einen Weg in die Selbstbewusstseinsphilosophie Dieter Henrichs: „Was wirklich als das Absolute gedacht wird, kann nicht in einer Relation von einem zu einem anderen stehen. Denn dann hätten beide an einander eine Grenze, und es widerspräche sich, eines der Relata für absolut zu erklären. Wenn also nicht nur von dem einen Absoluten, sondern auch von Endlichem muss gesprochen werden können, dann wird das Endliche dem Binnenbereich des Absoluten zugeschrieben werden müssen.“[37]Abraham und Gott sind wechselseitig ineinander und selbstbezüglich anders, also ohne identisch zu sein, das wäre Pantheismus. Der Erzähler formuliert die Einheit von Person und Subjekt, Gottes Absolutheit (und in ihrem Binnenbereich Abrahams Einzelheit) mit dem wunderbaren Kompositum „Seine Außennähe“![38] Die Brücke zwischen Absoluten und Endlichem besteht darin, dass Abraham Gott denken kann und dass der so Gedachte mit eben dieser Fiktion identisch ist.

Bilanz II – Skizzen einer Theopoetik

In Kermanis Definition wäre gewissermaßen Thomas Mann der Seher –  hochgebildet, hochstilisiert, hoch ironisch – der einem vorhandenen Stoff eine neue Lesart entlockt, hervorzaubert. Echnaton wäre der Prophet, enthusiastisch, Mund und Sohn seines Gottes. Der eine prosaisch, der andere poetisch, wobei des einen Prosa poetisch und ironisch gebrochen wird, des anderen Poesie hymnisch, aber lehrhaft-dogmatisch wirkt. Von Aton gibt es keine Geschichten zu erzählen, er hat keine Eltern, keine Kinder, nur im metaphorisch-allegorischen Sinne seinen Sohn Echnaton. Aus Abrahams Gott-Fiktion entwickelt sich die Zusage der Gotteskindschaft an alle – performativ und buchstäblich sinnhaft in seinem Sohn Jesus.

Thomas Mann, 1929

Thomas Mann, 1929

Epilog

„Thomas Manns Anspruch ist es, nicht nur die Geschichte, sondern auch ihr Erzähltwerden zu erzählen. Die Grundlage des gesamten Verfahrens ist, daß das Erzählen sich selbst zum Thema macht. Das Wesen der Ironie ist die Selbstthematisierung der Kunst.“[39] Echnatons  Monotheismus wird in einer komplexen medialen Strategie propagiert: über Hymnen, durch sichtbare Auslöschungsstrategien konkurrierender Modelle und Traditionen, mit dem Bau von Achet-Aton, einer neuen Stadt, und in einem neuen Kunststil. Und bei Thomas Mann? … bleibt nur noch Sprache … Ein (interreligiöser) Sprung in den (interreligiösen) Vergleich hinein: „Somit ist der Koran im Islam, stark verallgemeinert, was Jesus im Christentum ist: die Irdischwerdung Gottes, nicht die «Inkarnation», aber durchaus die «Inverbation» Gottes.“[40] Echnatons Aton kann sowohl mit dem Konzept einer Inkarnation als auch mit einer umfassenden durch Kunst/Poesie generierten Präsenz beschrieben werden. Thomas Manns Roman ist reine Inverbation, Klang und Rezitation der Geschichten (ohne dogmatischen Anspruch!) eines durch so viele Perspektiven, Mythen und Figuren gebrochenen, erzählend erschaffenen Gottes – weder metaphysisch real noch unreal, human säkularisiert und ironisch-hochheilig.

Die sprachliche Differenz zwischen Prä- und Posttext, die räumliche Verschiebung in Richtung Weltbuch[41], aber vor allem die zeitliche Tiefe schaffen einen Möglichkeitsraum, die Leerstellen des Genesis-Textes mit einem spielerisch-imaginativen, psychologisch-raffinierten kombinatorisch-archetypischen Figurationen auszufüllen: die Tetralogie entlockt dem Archiv des jahrtausende-alten kulturellen Gedächtnisses neue Sinnformationen, die mittels Ähnlichkeit und Differenz, zwischen Aneignung und Applikation eine kulturelle Übersetzung wagt.

Markus Pohlmeyer

[1] Echnaton: Sonnenhymnen. Ägyptisch/Deutsch, übers. u. hg. v. C. Bayer, Stuttgart 2007.

[2] Eine einbändige Ausgabe bietet Th. Mann: Joseph und seine Brüder, Frankfurt am Main 2007. Vgl. dazu auch J. Schöll: Joseph und seine Brüder (1933-43), in: Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. A. Blödorn – F. Marx, Stuttgart 2015, 42-57.

[3] Vgl. dazu J. Assmann: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006, 165-169.

[4] P. Sloterdijk: Derrida ein Ägypter. Über das Problem der jüdischen Pyramide, Frankfurt am Main 2007, 29.

[5] Sloterdijk: Derrida (s. Anm. 4), 30.

[6] Platon: Euthyphron, gr./dt., übers. u. hg. v. O. Leggewie, Stuttgart 2012, 6.

[7] Mann: Joseph (s. Anm. 2), 1324.

[8] Vgl. dazu die Darstellung der Sibylle im 6. Buch der Aeneis.

[9] N. Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, 2. Aufl., München 2003, 344.

[10] C. Bayer: Nachwort, in: Echnaton: Sonnenhymnen. Ägyptisch/Deutsch, übers. u. hg. v. C. Bayer, Stuttgart 2007, 98-126, hier 113.

[11] E. Eichler: Ist der Monotheismus eine intolerante Religionsform? Die Entstehung des Monotheismus im Alten Ägypten und das ‚Lob des Polytheismus‘, in: Markus Pohlmeyer: Als Anfang schuf Gott Echnaton – Kontexte, Konflikte und Konstellationen von Religionen, Flensburg 2009, 19-54, hier 28.

[12] „Beide Hymnen entstanden während der Regierungszeit des Königs Echnaton um 1345 v. Chr. und nennen den Pharao selbst als den Urheber.“ Bayer: Nachwort (s. Anm. 10), 98.

[13] Echnaton: Sonnenhymnen. Ägyptisch/Deutsch, übers. u. hg. v. C. Bayer, Stuttgart 2007, 19.

[14] Echnaton: Sonnenhymnen (s. Anm, 13), 29.

[15] Echnaton, Sonnenhymnen  (s. Anm. 13), 17.

[16] Echnaton: Sonnenhymnen (s. Anm, 13), 15.

[17] Echnaton: Sonnenhymnen (s. Anm, 13), 21.

[18] Echnaton: Sonnenhymnen (s. Anm, 13), 31.

[19] Bayer: Nachwort (s. Anm. 10), 114.

[20] Bayer: Nachwort (s. Anm. 10), 108

[21] Bayer: Nachwort (s. Anm. 10), 112.

[22] E. Hornung: Echnaton. Die Religion des Lichtes, 2. Aufl., Düsseldorf – Zürich 2001, 138.

[23] J. Assmann: Echnaton und das Trauma des Monotheismus, in: Welt und Umwelt der Bibel 22/2001: Echnaton und Nofretete. Pharaonen des Lichts, 19-25, hier 22.

[24] Mann: Joseph (s. Anm. 2), 314.

[25] Vgl. dazu H. Arens: Analyse eines Satzes von Thomas Mann, Düsseldorf 1964, 9: Arens stellt für die „Höllenfahrt“ eine „Schwankungsbreite von 2 bis 347 Worten“ fest.

[26] Vgl. dazu K. Flasch: Nikolaus von  Kues in seiner Zeit. Ein Essay, Stuttgart 2004, 39-41.

[27] Markus Pohlmeyer: Kein Außerhalb von Geschichten. Ein Essay zur Hermeneutik von Wilhelm Schapp, in: http://culturmag.de/litmag/essay-markus-pohlmeyer-ueber-wilhelm-schapp/92417, Zugriff am 5.4.2016

[28] Vgl. dazu Mann: Joseph (s. Anm. 2), 1324.

[29] Assmann: Thomas Mann (s. Anm. 3), 177.

[30] H. Kurzke: Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser, München 2009, 138.

[31] W. Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1985, 166.

[32] Vgl. dazu H.-G. Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (GW; 1), 6. Aufl., Tübingen 1990.

[33] Vgl. dazu Platon: Menon.

[34] Mann: Joseph (s. Anm. 2), 314.

[35] Vgl. dazu Mann: Joseph (s. Anm. 2), 315.

[36] Mann: Joseph (s. Anm. 2), 314.

[37] D. Henrich: Endlichkeit und Sammlung des Lebens, hg. v. F. Schweitzer, Tübingen 2009, 97.

[38] Mann: Joseph (s. Anm. 2), 314.

[39] H. Kurzke: Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman, Frankfurt am Main 2003, 158. Und einen Schritt weiter – und ich verstehe hier Manns Prosa durchaus als Poesie: „Der Betrachter und seine Vergangenheit müssen eins werden in einer imaginativen Konstruktion, in der die Vergangenheit sich als erzeugte erkennt. Indem die Poesie sich auf Selbstreferenz umstellt, hat sie die Möglichkeit, sämtliche Formen des Umgangs mit ihrer eigenen Materialität zu erkunden. Gerade in der Verfügung über ältere Repertoires entwirft sie ihre eigene Geschichte und nutzt sie als Entfaltungsräume der Intertextualität.“ M. Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft, 3. Aufl., Darmstadt 2006, 155.

[40] N. Kermani: Der Koran und die Poesie, in: Ders.: Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen, 5. Aufl., München 2015, 19-43, hier 36.

[41] Nach H. Kurzke eine „[…] Welthermeneutik, die allem, was immer geschehen kann, einen Sinn gibt.“ In Ders.: Mann (s. Anm. 30), 134.

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