Geschrieben am 1. April 2016 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Essay: Markus Pohlmeyer über Wilhelm Schapp

Schapp_Portrait_klKein Außerhalb von Geschichten

-Ein Essay zur Hermeneutik von Wilhelm Schapp. Von Markus Pohlmeyer

Prolog

Die Rezeption von Wilhelm Schapps Büchern verlief nicht einfach, unter anderem auch weil er jenseits einer universitären Institution philosophierte. Hermann Lübbe erinnert sich an die Antwort Schapps „von anspruchsvoller Bescheidenheit“, warum er „den Beruf des Juristen“ ergriffen habe: „Die Philosophie, in der er sich einigermaßen sicher bewegen zu können glaube, hätte doch ihrem Umfang nach niemals für eine dreißigjährige Dozententätigkeit ausreichen können.“[1]

Geschichtenhermeneutik als Anthropologie

Was ist ein Essay? Ein Versuch, im denkerischen Experimentieren zu scheitern, und zwar literarisch möglichst angenehm. Und mutig die Masken scheinbarer Objektivität fallen zu lassen. Sich zum Fragmentarischen bekennen. Immer wieder neu abbrechen, aufbrechen. Nie ankommen. Aber auf dem Weg dorthin vielleicht Wunderbares und Faszinierendes entdecken – und ins Gespräch bringen …

Wilhelm Schapp[2] hat das methodische Vorgehen seines Buches „In Geschichten verstrickt“ unter anderem so charakterisiert: „Wir machen also keinen Anspruch darauf, daß unsere Untersuchung eine systematische Untersuchung ist. Sie tritt nicht gepanzert als Wissenschaft auf in einem System von Begriffen. Sie will auch nicht wie andere philosophische Untersuchungen einen festen Unterbau liefern für die systematischen Wissenschaften, etwa für die Mathematik und die Naturwissenschaften. Sie nimmt es vielmehr in Kauf, daß sie diese Wissenschaften nicht unterbaut, sondern unterminiert. Diese Wissenschaften und ihre Methoden sind nicht ihr Vorbild, sondern sie müssen sich einfügen in die Geschichten, und mit dem Platz, der Stellung zufrieden sein, die ihnen hier eingeräumt werden kann.“[3] Und diese Methodik hat trotz ihres bescheidenen Auftretens und ihres Abschiedes z.B. von Kant und Hegel einen hohen Anspruch: eine Neubestimmung der Stellung der Naturwissenschaften, die sich in ein holistisches Konzept namens Geschichten einordnen müssen. Und es handelt sich zugleich um eine Befreiung der Philosophie aus ihrer Knechtschaft (etwas pathetisch formuliert): eben nur eine dienstbare Magd zu sein, früher der Theologie, später der Naturwissenschaften. Bei aller Kant-Kritik ist die Geschichtenhermeneutik von Schapp ein transzendentales Projekt, die Untersuchung nämlich der Bedingung der Möglichkeit von Menschsein. Und somit Anthropologie. Die Diskurse der philosophischen und literarischen Tradition sind Schapp sehr bewusst, sie werden aber einer kritischen relecture unterzogen. Darum kann Karen Joisten auch resümieren: „Es wäre allerdings ein Missverständnis, wenn man Schapp […] als Gegner einer strengen Wissenschaft ansehen wollte. Denn Schapp ist letztlich ein integrativer Denker, der zunächst und zuvor die Ansprüche und den ‚Übermut der Philosophentitanen, die den Himmel mit dem Donnerkeil der strengen Wissenschaften und der Wahrheit stürmen‘ […] wollen, entschieden zurückweist. Dies geschieht nicht, um das Gebiet der Wissenschaften schlechthin durchzustreichen, sondern um diesem Gebiet den ihm gebührenden Rang zu geben.“[4]

Kein Außerhalb!

Mir begegneten – auch in universitären Kontexten – vor allem immer wieder zwei Fragen zu Wilhelm Schapp: 1) Seine Geschichtenhermeneutik würde doch Vernunft (Was ist das?) aufgeben (Dahinter verberge sich doch Relativismus!); und 2) erheben sich bisweilen besorgte, verzweifelte Stimmen aus der Theologie (konfessionsübergreifend), es müsse, müsse doch ein Außerhalb von Geschichten geben (vermutlich wird damit eine transzendente Absolutheit eingespielt, die wir manchmal Gott nennen). Wie kommt es zu diesen Fragen? Aus der phänomenologischen Tradition stammend, wendet sich Schapp kritisch gegen seinen Lehrer Husserl und beginnt einen Neueinsatz: „Geschichte und In-Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusammen, daß man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann. Die größten Werke der Menschheit haben Geschichten und Verstricktsein in Geschichten zum Gegenstande.“[5] Und das heißt in der Konsequenz: „Wenn man Himmel und Unterwelt, Himmel und Hölle, Gott oder Götter und die Unterirdischen fortnimmt, so behält man nicht etwa Erde und Menschen übrig. Denn die Erde und das Herz der Menschen ist zugleich die Wohnung der Götter, oder steht in einem noch viel innigeren Zusammenhang mit dem Himmel und mit Gott.“[6] Schapp konstruiert eine narrative Fundamentalanthropologie – als ein Denkangebot oder besser als eine immer fortzuschreibende Denkaufgabe. Um bestimmte Fallen der philosophischen Tradition zu umgehen, entwickelt er eine eigenwillige Terminologie. Eine solche Aporie wäre beispielsweise ein infiniter Regress: die Frage, „[…] ob alles, was vorkommt, alles, was es gibt, nur in Geschichten vorkommt; die Frage, ob es Sinn hat, nach etwas zu suchen, das entweder unabhängig von Geschichten ist oder was vielleicht die Geschichten wieder selbst trägt. Wenn wir, im Sinne der Tradition gesprochen, dazu kommen, das Verstricktsein in Geschichten als etwas Absolutes anzusprechen, so könnten wir fragen, ob wir damit zum letzten Halt, zum letzten Angelpunkt vorgedrungen sind, oder ob dies Absolute wieder in etwas anderem ruht.“[7] Und ob dies andere Absolute in einem nächsten Absoluten ruhe … ad infinitum.

Leicht ist nun die Frage nach dem Außerhalb zu beantworten, weil das Existential der Verstrickung, eine performativ-ontologische Metapher, ein monistisches, ein All-Einheitskonzept erfordert, um nicht in Widersprüche zu geraten. Die Konsequenzen aber sind schwerer zu fassen, teilweise gegen unsere Intuitionen, Traditionen oder Sozialisationen, weil scheinbar die Unabhängigkeit eines Gottes/der Götter und/oder die Existenz einer wahrheitsgarantierenden, mag sein auch moralischen Instanz aufgegeben würden:

„Wenn man mit uns die Geburtsstunde der Materie in den Geschichten sieht, und zwar insbesondere in dem Schaffen und Wirken, so mag sie hier in der Geburtsstunde schon immer in dem Horizont des Vorhergewesenseins auftauchen. Diesen Horizontcharakter gewinnt sie aber erst in den Geschichten. Es hat keinen Sinn, von einer Materie zu sprechen, die aller Geschichte vorausginge, sondern man kann nur von einer Materie sprechen, die in allen Geschichten schon als das immer Dagewesene in einem Horizont auftritt, der zur Geschichte gehört und nicht außerhalb der Geschichte liegt.“[8]„Man könnte z. B. fragen, ob diese Welt, ob Erde, Sonne, Mond und Sterne nicht auch sind, wenn sie nicht gedacht werden. Hier handelt es sich aber wohl um ein Scheinproblem, welches man leichter durchschauen kann. Bei uns trennt sich nicht Welt in Sein und Denken, sondern diese Welt ist zwar nur in Geschichten und über Geschichten, aber in der Weise dessen, was in Geschichten vorkommt, ist sie ständig im Horizont der Ich- und Wirgeschichten. Es hat keinen Sinn, nach einem Dasein außerhalb dieser Geschichten zu fragen.“[9]

schapp_geschichtenGedicht und Erzählung

Odo Marquardt formuliert diese Unhintergehbarkeit so: „Narrare necesse est: Wir Menschen müssen erzählen. Das war so und bleibt so. Denn wir Menschen sind unsere Geschichten, und Geschichten muß man erzählen. Jeder Mensch ist der, der …“[10] … hier z.B. versucht, einen Essay über Wilhelm Schapp zu schreiben. Und sind wir z.B. auch in Gedichte verstrickt? Und was ist überhaupt ein Gedicht? „Weil Poesie von Natur vieldeutig ist und der Indienstnahme durch Ideologien widerstrebt, ficht sie die enharmonische Verwechslung dessen, was ist und was sein soll, beständig an. Darum muß sie in totalitären Staaten gefesselt werden, d. h. Poesie zu sein aufhören.“[11] Wie wunderbar nachvollziehbar dieses Zitat auch in seinem romantisch-idealistischen Freiheitszauber auch sein mag: gäbe es einen sachlichen Grund, der daran hinderte, hier Poesie durch Roman oder Drama zu ersetzten? Oder Poesie durch Demokratie? Gewonnen wäre nichts, nichts verloren. Und was ist mit Dichtern/Dichterinnen, die religiös oder politisch von uns aus gesehen zwar ideologisch hoch aufgeladen agier(t)en, von ihrem Selbstverständnis aber dies leugnen würden? Niemand wolle doch die dichterische Qualität eines Vergil infrage stellen: handelt es sich nun um eine ästhetische Unterstützung der Pax Augusta oder um eine subtile, aber bitterste Kritik am Aufstieg des Imperium Romanum? Usw.

Wie wäre „Geschichte“ zu definieren? Nicht history, sondern story! „Geschichte“ würde sich in Geschichten bzw. Erzählungen darüber auflösen, was denn Geschichte sei. History und story konvergieren aber dann. (Und das gilt auch für Gedichte. Geschichten/Erzählungen über Gedichte könnten z.B. die Gattungen der Poesie sein.) Während Gattungen für Ordnung und Orientierung zu sorgen haben (vermeintlich), scheint der Erzählung ein kreativ-anarachisches Chaos innezuwohnen: „Denn die Erzählung herrscht, so scheint es, in ihrem Reich bedingungslos und allmächtig; sie muss sich um Kongruenz mit der äußeren Realität nicht bekümmern; sie nimmt sich die Freiheit, alles und jedes zu einem Gegenstand in der Welt zu erklären. Wie das Denken und Sprechen überhaupt, so verfügt auch das Erzählen kein hinreichendes intrinsisches Wahrheitszeichen. Wie in einem Wirbel mischen sich darin Elemente von Wahrheit, Anschein, Hörensagen, Unwissenheit, Irrtum und Lüge. […] Wer deshalb vom homo narrans spricht, denkt den Menschen in seinem Vermögen, zu der Wirklichkeit, in der er lebt, sowohl ja als auch nein sagen zu können; moralisch gewendet, zu lügen; oder genauer, in der Fähigkeit, die Differenz zwischen real und irreal, wahr und falsch auszusetzen, aufzuheben, mit ihr zu spielen.“[12] Gäbe es einen sachlichen Grund, der daran hinderte, hier Erzählung durch Poesie zu ersetzten (wie oben zitiert)?[13] Diese Darlegung setzt voraus, dass es eine äußere Realität gäbe, an der sich, implizit gefolgert, der Wahrheitsgehalt einer Erzählung messen ließe und dass Denken und Sprechen über kein „hinreichendes intrinsisches Wahrheitszeichen“ verfügten. Wenn aber Denken und Sprechen als Kriterien einer Beurteilung von Wahrheit ausfielen, was bliebe denn dann noch? Relativismus bzw. Nihilismus. Oder wer legt dann fest, was Wahrheit sei? Hier lauert die Gefahr von Ideologie. Welche Instanz würde verlässlich das Verhältnis von Gedanke und Aussage auf Konsistenz mit der Wahrheit abgleichen können oder dürfen? Kein neues Problem übrigens. Und wie sollte denn ein solches Außerhalb je beurteilt werden, wenn nicht mit Denken, Sprechen und letztlich einem Davon-Erzählen? Und irgendwie muss sich dieses Außerhalb auch schon im Denken und Sprechen (vor)finden lassen … Die Frage nach einer irgendwie gearteten Wahrheit außerhalb hat sich in der Geschichtenhermeneutik Schapps prinzipiell erledigt.

Albrecht Koschorke beschreibt Erzählen als ein geradezu autopoetisches Endlos-Verfahren der Textproduktion. Dies mag mit den Grundstrukturen von Sprache überhaupt zusammenhängen, mit der Arbitrarität ihrer Zeichen oder ihrer sog. Zweifachen Gliederung: „Nach MARTINET [1965] lassen sich sprachliche Ausdrücke auf zwei unterschiedliche Ebenen zerlegen: (a) in kleinste bedeutungstragende Einheiten (Morpheme […]) […] sowie (b) in kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten (Phoneme), die nur Form, aber keine Bedeutung aufweisen. Die zweite Strukturierung auf phonologischer Ebene gewährleistet auf Basis von einigen Dutzend verschiedenen Lauten bzw. Phonemen und entsprechenden Kombinationsregeln die Unendlichkeit natürlicher Sprachen.“[14] Dies wären gewissermaßen Grundlagen, dass Sprache nicht nur präsentieren, sondern repräsentieren kann. Sprache sagt nicht nur, wie Welt jetzt und hier ist, sondern wie Welt da und dort war oder einst sein könnte. Nach bestimmten Regeln (formaler und inhaltlicher Art) sedimentierte,[15] sprachlich-spielerische Sinnformationen seien als Gattungen bezeichnet, als Informationsspeicher (in oralen Kulturen), als Moment der Unterhaltung, Bildung, Selbst- und Weltdeutung usw. Aber vielleicht ist der Übergang von den Strukturen der Sprache(n) zum Geschichtenerzählen genauso schwer zu erklären wie der Hervorgang bewusster Gedanken aus neuronalen Prozessen, vor allem auch weil Sprache und Bewusstsein in ihrer komplexen Interdependenz sich naturalistischer Reduktionen verschließen: „Wir müssen die Eigenschaften einiger Gehirnzustände hoch entwickelter Lebewesen, phänomenales Bewusstsein zu haben, als einen entscheidenden Sprung auf eine neue Ebene von Eigenschaften natürlicher Gegenstände ansehen, die weder ontologisch noch theoretisch als identisch mit physikalischen Eigenschaften angesehen werden können, die in Physik, Chemie und Biologie analysiert werden.“[16]

Schapp_am_SchreibtischNarrative Gravity: Dennett und Rorty

Wie wäre nun Bewusstsein zu definieren? „Das Bewusstsein existiert ausschließlich als etwas von einem menschlichen oder tierischen Akteur, einem bewußten Wesen, einem »Ich« Erlebtes oder Erfahrenes. Ich verwende dafür gerne den Ausdruck Erste-Person-Ontologie; Berge, Moleküle oder tektonische Platten haben dagegen eine objektive, eine Dritte-Person-Ontologie – sie sind einfach nur da.“[17] So weit John Searle. Schapp würde darauf antworten: und sie alle wären nicht da, die Götter und Toten, Berge und Moleküle, würden wir von ihnen nicht erzählen. Aber selbst Geschichten vom Bewusstsein – das Bewusstsein ist seine Geschichten! – müssten deutlich machen, dass es die je meinigen Geschichten sind, welche die Vielfalt einer bestimmten Gruppe von Geschichten als mICH ausweisen – oder in einer Analogie zu Dieter Henrich: „Denn wir wären gar nicht wir selbst, wenn wir nicht in Gedanken leben würden, von denen wir wissen, dass sie Gedanken von uns selbst sind. Insofern muss in diesen Gedanken immer schon wirklich gefasst sein, was sie zum Inhalt haben. Dann aber kann man sagen, dass Gedanken geradezu ausmachen, was wir sind.“[18] Also könnte z.B. der Gedanke ‚Gott‘ wirklich sein, ohne dass ich nach real oder fiktiv fragen müsste … Die Antworten auf die Fragen nach Wahrheit bzw. Lüge, die Koschorke in seine Beschreibung von Erzählungen einbaut, müssen im Sinne Schapps folglich innerhalb von Geschichten gesucht werden. Diesem Problem stellt sich auch Schapp, um eine Autodestruktion seiner Hermeneutik durch ein endloses Verweisen –  geradezu ein eskalierender Relativismus! – von Geschichten auf Geschichten zu vermeiden. Seine Antworten sind keinesfalls leicht und werden durch eine spannende relecture des Christentums geprägt, was hier aber nicht ausführlicher dargelegt werden kann.“[19]

Schapps hermeneutische Leistung wird mittlerweile über den Bereich der Phänomenologie hinaus wahrgenommen: „Die Erzählforschung untersucht die Horizonte der am Textgeschehen beteiligten Bewusstseine und die Implikationen dieser Verschachtelung für Tempus und Deixis. Bei Wilhelm Schapp (1884-1965) und Paul Ricœur (1913-2005) wird die Narration sogar zum wichtigsten Orientierungselement des Subjekts in der Welt. Damit ist auch der Weg geebnet zu Jean François Lyotards (1924-1998) manifestartigem Bericht über Das postmoderne Wissen (La condition postmodern), in dem die erkenntnistheoretische bzw. epistemologische Ordnung des 20. Jahrhunderts als Ensemble von Großerzählungen gedeutet wird. Überhaupt besteht eine enge Affinität zwischen dem phänomenologischen und poststrukturalischen Denken.“[20] Diese historische Skizze hat gewisse Parallelen zu Markus Fausers Erläuterung zu Ricœur: „Der Begriff der narrativen Identität […] erlaubt, die personale Identität so zu denken, dass man nicht hinter der Vielfalt ihrer Zustände noch ein selbstidentisches ‚Etwas‘ annehmen muss, das im Grunde unveränderlich bleibt. Personale Identität ruht auf der Zeitlichkeit, welche die Vielfalt in eine Dynamik integriert, wie sie der poetischen Komposition eines Narrativs entspringt.“[21]

Und Narrative begegnen uns gewöhnlich als Gattungen. Hans Magnus Enzensberger hat in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen 1964/65 das Problem der Gattungen durchgespielt und kommt zu folgendem Ergebnis: „[…] die literarischen Gattungen seien Institutionen, und zwar in eben jenem Sinn, wie man das von Staaten, Kirchen oder Universitäten sagen kann. N. H. Pearson […] hat sich noch schärfer gefaßt: »Die Gattungen«, so schreibt er, »sind institutionelle Imperative, die auf den Autor einen Druck ausüben, und auf die umgekehrt der Autor einen Druck ausüben kann.«“[22] Gewissermaßen sind Gattungen Ergebnisse von Wirkungs- und Rezeptionsästhetik bestimmter Kultur(räume), seit Jahrtausenden. Aber was sind jetzt wiederum Institutionen? Auch darüber könnten wiederum nur Geschichten erzählt werden …

Daniel C. Dennetts entfaltet anhand einer physikalischen Metapher das Selbst als ein narratives Ergebnis/Ereignis: „Our tales are spun, but for the most part, we don’t spin them; they spin us. Our human consciousness, and our narrative selfhood, is their product, not their source. […] These strings or streams of narrative issue forth as if from a single source […]: their effect on any audience is to encourage them to (try to) posit a unified agent whose words they are, about whom they are: in short, to posit a center of narrative gravity.”[23] Richard Rorty greift genau diesen Gedanken erweiternd auf, was seine Beobachtungen in die Nähe von Schapps monistisch-holistischer Geschichtenhermeneutik rückt. Holism ist übrigens auch das erste Nomen im Titel von Rortys Aufsatz: „In einer Besprechung von Dennetts Buch habe ich den Vorschlag geäußert, wir sollten noch einen Schritt weitergehen und nicht bloß die Ichs, sondern alle Gegenstände als Schwerpunkte der Beschreibung ansehen, die sich ändern, sobald sie verschieden beschrieben werden. Das hieße, der herkömmlichen Unterscheidung zwischen »realen« und »intentionalen« Gegenständen den Garaus zu machen und die Vorstellung fallenzulassen, daß sogar physische Gegenstände (wie Felsen oder Atome) ein inneres Wesen haben, von dem die Wissenschaft hoffen kann, es eines Tages zutreffend wiederzugeben.“[24]

Epilog

Bewusstsein ist ebenso eine Institution wie Gattung oder eine Universität, deren Bedeutungsgehalte sich verschieben, je nachdem, was wir darüber erzählen. Und darin liegt die Angst jeder politischen oder religiösen Ideologie: die vielen Geschichten statt der einen, befreiende Vieldeutigkeiten gegen erwürgende Eindeutigkeit. Und das ist auch der große Zauber der Literatur: ihre spielerischen, ihre so ernsten Metamorphosen.

Geschichten erzählen und über das Geschichten-Erzählen erzählen als bewusstes Leben, Mensch zu sein. Geschichten, die sich bewusst geworden sind, dass sie Geschichten sind.

Sich zum Fragmentarischen bekennen. Immer wieder neu abbrechen, aufbrechen. Nie ankommen. Aber auf dem Weg dorthin vielleicht Wunderbares und Faszinierendes entdecken – und ins Gespräch bringen: „Es hat keinen Sinn zu sagen, daß Gott und die Menschheit zusammen in irgendetwas anderem ruhten, oder daß der Begriff von Gott und Menschheit noch außerhalb von Gott und Menschheit einen Sinn habe.“[25]

Markus Pohlmeyer

 

Quelle Fotos: Wilhelm-Schapp-Forschungsstelle. Dort (und hier) auch weitere Informationen zu Leben und Werk.

[1] H. Lübbe: Lebensweltgeschichten. Philosophische Erinnerungen an Wilhelm Schapp, in: Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtsphänomenologie Wilhelm Schapps, hg. v. K.-H. Lembeck, Würzburg 2004,   25-43, hier 29.
[2] Zur Biographie des Philosophen vgl. den Aufsatz seines Sohnes Jan Schapp: Erinnerungen an Wilhelm Schapp, in: Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtsphänomenologie Wilhelm Schapps, hg. v. K.-H. Lembeck, Würzburg 2004, 13-24. Darin auch der Aufsatz von C. Bernes zur Anschlussfähigkeit dieser Hermeneutik an die Diskurse um moderne Medien: Gebilde und Gegenstand. Philosophie als Medienkritik, 115-131.
[3] W. Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1985, 87.
[4] K. Joisten: Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten. Ein Zugang., in: W. Schapp: Philosophie der Geschichten, hg. v. K. Joisten – J. Schapp, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2015, 5-11, hier 9.
[5] Schapp: Geschichten (s. Anm. 3), 1.
[6] W. Schapp: Philosophie der Geschichten, hg. v. K. Joisten – J. Schapp, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2015, 15.
[7] Schapp: Geschichten (s. Anm. 3), 5.
[8] Schapp: Geschichten (s. Anm. 3), 165.
[9] Schapp: Geschichten (s. Anm. 3), 166.
[10] O. Marquard: Narrare necesse est, in: Ders.: Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2001, 60-65, hier 60. Vgl. auch ebd., 60 f.: „Geschichten müssen erzählt werden. Sie sind nicht prognostizierbar wie naturgesetzliche Abläufe oder wie geplante Handlungen, die zu Geschichten erst dann werden, wenn ihnen etwas dazwischenkommt. […] Erst wenn einem naturgesetzlich geregelten Ablauf oder einer geplanten Handlung ein unvorhergesehenes Widerfahrnis widerfährt, müssen sie erzählt werden und können sie auch nur erzählt werden: Geschichten sind Ablauf-Widerfahrnis-Gemische bzw. Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. Und es gilt: Wir müssen erzählen, weil wir unsere Geschichten sind.“
[11] M. Frank: Die Dichtung als »Neue Mythologie«, in: Mythos und Moderne, hg. v. K. H. Bohrer, Frankfurt am Main 1983, 15-40, hier 34.
[12] A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2012, 12.
[13] Gerard Genette bietet eine nützliche Differenzierung an: „Ich schlage vor, […] das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen […], den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt.“ G. Genette: Die Erzählung, übers. v. A. Knopp, 2. Aufl., München 1998, 16.
[14] H. Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, 4. Aufl., Stuttgart 2008, 813.
[15] „Es gibt eine tiefgreifende Rückwirkung der Medien auf die Geschichten selbst. Als die Zuhörer zu Lesern wurden, mußten sich die Geschichten dieser völlig anderen Form des Gebrauchs anpassen. Nicht mehr der Tonfall und nicht mehr der Zauber der Situation bestimmten den Verlauf des Erzählens, sondern die Sätze, der Stil, die lineare Anordnung der Zeilen und Buchseiten. Auch die Einsamkeit des Lesenden ist prägend und entspricht der Einsamkeit des Schreibenden.“ E. Reiz: 16 Thesen zur Zukunft des Geschichtenerzählens, in: T. Koebner – M Koch (Hg.): »Edgar Reitz erzählt«, München 2008, 311-322 , hier 312.
[16] W. Detel: Grundkurs Philosophie, Bd. 3: Philosophie des Geistes und der Sprache, Stuttgart 2007, 168.
[17] J. Searle, in: S. Blackmore: Gespräche über das Bewußtsein, übers. v. F. Born, Frankfurt am Main 2007, 278.
[18] D. Henrich: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt am Main 2007, 21.
[19] Ich verweise dazu auf M. Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft, 3. Aufl., Darmstadt 2006, 93 f. Oder siehe auch Markus Pohlmeyer: Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp (Pontes 22), 3. Aufl. Berlin 2014 oder Ders.: Die Allgeschichte des Christentums – monistische Deutung und ethische Herausforderung, in: K. Joisten (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, KONTEXTE Bd. 21, Freiburg im Breisgau 2010, 126-141.
[20] U. Schmid: Einleitung, in: Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, hg. v. U. Schmid, Stuttgart 2010, 9-37, hier 30.
[21] M. Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft, 3. Aufl., Darmstadt 2006, 93.
[22] H. M. Enzensberger: Scharmützel und Scholien. Über Literatur, hg. v. R. Barbey, Frankfurt am Main 2009, 75 f.
[23] Vgl. dazu D. C. Dennett: Consciousness explained, New York – Boston – London 1991, 418.
[24] R. Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays und ein Vorwort, übers. v. J. Schulte, Stuttgart 2008, 9 f. Vgl. dazu auch Ders.: Holism, Intrinsicality, and the Ambition of Transcendence, in: Dennett and his critics. Demystifying Mind, hg. v. B. Dahlbom, Blackwell (paperback) 1995, 184-202.
[25] Schapp: Geschichten (s. Anm. 3), 204.

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