Geschrieben am 17. Oktober 2017 von für Crimemag, Film/Fernsehen

Ermittlung: Die Sugar Paper Theories

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Keine Leiche, kein Motiv, keine Erinnerung

Von Katrin Doerksen

Es waren einige Fotos des walisischen Fotograf Jack Latham aus einem vergriffenen Buch, die Katrin Doerksen neugierig auf einen Kriminalfall in Island machten. Dann kam noch der Dokumentarfilm  „Out Of Thin Air“ von Dylan Howitt hinzu.

Ein Holzhaus kauert in der Straßenecke. Das Dach glänzt vor Nässe, seine Silhouette spiegelt sich in der Pfütze auf dem rissigen Asphalt. Rechts fährt ein Auto vorbei, irgendetwas Eckiges, typisch für die Siebziger Jahre. Der Boden ist vom Regen aufgeweicht, irgendwo im Hintergrund sind weitere Gebäude auszumachen, vereinzelt Strommasten. Eine zerfaserte, heruntergekommene Wohngegend. Es gibt noch ein weiteres Foto von diesem Gebäude, aufgenommen vier Jahrzehnte später. Es ist immer noch dasselbe Haus, rote Holzlatten. Nur die Fenster sind jetzt anders. Das Bild ist in Farbe, hochkant aufgenommen, näher dran. Der Fotograf muss dafür mitten auf der reparierten und neu befestigten Kreuzung gestanden haben. Die Gebäude im Hintergrund sind noch dieselben, aber aus dieser Perspektive rahmen sie das rote Haus regelrecht, sauber, anheimelnd.

JL_SugarPaperTheories_026Die zwei Fotos vom roten Holzhäuschen zeigen beide das Selbe und könnten doch unterschiedlicher kaum sein. Das querformatige Schwarzweißfoto aus den 1970er Jahren stammt aus umfangreichen polizeilichen Ermittlungsakten. Mit dem zugrundeliegenden Fall beschäftigt sich heute wiederum der walisische Fotograf Jack Latham, Urheber des Bildes in Farbe. Das Verschwinden von Guðmundur und Geirfinnur mutet beinahe an wie eine Sage aus dem reichen Mythenschatz Islands, umso mehr, da es bis heute nicht aufgeklärt ist. Im Abstand von knapp zehn Monaten verschwinden 1974 in isländischen Kleinstädten zwei Männer, zunächst anscheinend unabhängig voneinander. Bis heute werden keine Leichen gefunden, es gibt keine Tatorte, keine Motive, keine Beweise. Dafür aber sechs Menschen, die die Morde gestehen, obwohl sie sich selbst kaum so recht daran erinnern können.

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Um überhaupt ansatzweise zu verstehen, was in den 1970er Jahren in Island passiert sein muss, bietet der Dokumentarfilm „Out Of Thin Air“ von Dylan Howitt  (auf Netflix zu sehen) einen ersten Überblick. Er zeichnet das Bild einer isländischen Gesellschaft, die sich als Dorf versteht, in dem jeder jeden kennt, alle über drei Ecken miteinander verwandt sind. Mit den Umwälzungen der späten Sechziger Jahre wird dieses Selbstverständnis erschüttert: aufmüpfige Studenten, Drogen, Hippies, politische Proteste. Und schließlich das Verschwinden von Guðmundur und Geirfinnur. Es fühlt sich an, als habe Island seine Unschuld verloren. Unter dementsprechend starkem Druck stehen die Ermittler und der Justizminister. Deswegen können sie nicht locker lassen, als ihnen Sævar Ciesielski in die Arme läuft, ein mehrfach auffällig gewordener Drogendealer, seine Freundin Erla Bolladottír und eine Handvoll Freunde. Die Presse stilisiert die Gruppe zu einer Art skandinavischer Charles-Manson-Clique. Infolge einiger Versprecher, Ungereimtheiten und unglücklicher Zufälle landen die Sechs in monatelanger Isolationshaft. Eine Journalistin wird später aufdecken, dass sie unter Folter leiden, unter systematischem Schlafentzug, stundenlangen Verhören. Schließlich gestehen alle die Tat. Das sei typisch für das sogenannte memory distrust syndrome, erklärt ein Wissenschaftler. Die Leute vertrauten irgendwann ihren eigenen Erinnerungen nicht mehr, würden empfänglich für Suggestionen von außen.

Dylan Howitt arbeitet für „Out Of Thin Air“ viel mit Reenactments. Die Schauspieler stehen in diesen Szenen der Kamera abgewandt, ihre Gesichter liegen im Schatten oder sind unscharf. Die Farben düster, aber stark gesättigt und kontrastreich, dazu kommen Drohnenaufnahmen verschneiter Landschaften. In diesen Momenten sieht der Film aus wie ein albtraumhafter Thriller mit Ambitionen in Richtung der Coen-Brüder. Der Effekt passt. „Es ist, als käme dir eine Szene aus einem Film in Erinnerung“, beschreibt ein damaliger Angeklagter seine vermeintlichen Erinnerungsfetzen in der Isolationshaft. Der Fall Guðmundur und Geirfinnur birgt nicht nur eine Faszination für Kriminalromantiker, er hat auch nach wie vor politische Brisanz. Ein Kommissar spielt im Interview auf die Verschwörungstheoretiker an, die davon ausgehen, bei dem Verschwinden der Männer handele es sich um ein Komplott der isländischen Polizei. Mehr sagt der Film nicht dazu, aber hier kommt wieder Jack Lathams Projekt ins Spiel.

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Von 2014 bis 2016 fotografierte er in Island, arbeitete für die Recherche mit den besagten Verschwörungstheoretikern, aber auch mit Gísli Guðjónsson zusammen, einem forensischen Psychologen, Experten für das memory distrust syndrome und Zeugen im Kriminalfall. Er bildet etwaige Tatorte ab, Beweisstücke, Personen, deren Gesichter aus „Out Of Thin Air“ noch bekannt erscheinen. Manchmal fotografiert er exakt die Orte, die auch auf den alten Polizeifotos zu sehen sind. Orte, die ungerührt scheinen, obwohl sich an ihnen vielleicht Ereignisse abspielten, die die Leben vieler Menschen beeinflussten, Leben beendeten. Die meteorologischen Gegebenheiten in Island verstärken diesen Eindruck allumfassender Ungerührtheit noch: die weiße Wand einer Kirche verschmilzt mit der Schneedecke, die helle Sandfarbe von Erlas Haus mit der seltsam durchscheinenden Wolkendecke, die Konturen verschwimmen. Im Tiefblau der gekräuselten Atlantikoberfläche spiegelt sich die Sinnferne des Konzepts Tatortfoto. Vielleicht wurde hier eine Leiche versenkt. Aber was kann ein Foto vom Wasser schon beweisen?

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Jack Latham ist bestimmt nicht der erste Fotograf, der sich mit dem potentiellen Wahrheitsgehalt seines Mediums beschäftigt. Befragt man die Leute nach ihrer Faszination für die Fotografie, wird aber ein nicht geringer Anteil noch immer antworten, sie zeige, wie jemand oder etwas wirklich sei. Dem gegenüber steht die unerbittliche Verschwörungsfraktion, die hinter jedem Bild, jedem Fakt Manipulation vermutet. Lathams Bilder befinden sich außerhalb dieser Dichotomie. Sie genügen wie auch die Polizeiaufnahmen gewissen ästhetischen Ansprüchen und erzählen so ihre Geschichte. Vielmehr als einen Tathergang nachzuweisen, konstruieren sie ihre eigene Bedeutung. Aktuell ist die Serie noch bis Januar 2018 im Reykjavík Museum of Photography zu sehen und auf Lathams Website steht sie komplett online. Aber das ist nur ein schwacher Trost. Die ultimative Art das Projekt zu begutachten, ist nämlich das preisgekrönte und seit Monaten ausverkaufte Fotobuch „Sugar Paper Theories“. Auf dem Cover ist eine Zeichnung zu sehen: es ist die in kindlicher Mühe mit bunten Filzstiften gemalte und in eine Timeline gefasste Theorie eines Verschwörungstheoretikers zum Fall Guðmundur und Geirfinnur. Sie hängt an der Wand über seinem Schreibtisch, gemalt auf buntem Bastelpapier – sugar paper.

kristjan_5Das Buch repräsentiert das Manifest einer Verschwörungstheorie, es wirkt wie von einem besessenen Sammler zusammengepuzzlet. Lathams eigene Bilder in Farbe gedruckt auf hochwertigem Fotopapier, dazwischen die monochromen Polizeifotos auf schwarzem Bastelpapier. Dazu kommen authentische Zeitungsartikel zum Fall auf Pink, die Tagebucheinträge eines Verdächtigten auf Weiß, erklärende Texttafeln auf Gelb. Man möchte in dieser Sammlung vor- und zurück blättern, das Rätsel selbst entschlüsseln. „Sugar Paper Theories“ ist eine regelrechte Bastelarbeit – aber von vornherein den Anspruch ausklammernd, eine endgültige Ordnung in das Chaos zu bringen, eine Antwort zu finden. Ab und an schleicht sich auch ein bisschen Poesie hinein, sie macht die Illusion einer dokumentarischen Realität endgültig zunichte. Statt der einstmals angeklagten Erla fotografiert Jack Latham ihren Goldfisch: „Ich fand, das ist eine schöne Metapher für jemanden, der am memory distrust syndrome litt – ein Haustier zu haben, das ein Synonym für schlechtes Erinnerungsvermögen ist.“

Katrin Doerksen

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